Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Berufung und Schöffengericht

Es ist schon oft betont worden, daß die nach Verlauf oft recht langer
Zeit zur Nachprüfung schreitende zweite Instanz regelmäßig minder frische und
zuverlässige Beweismittel zur Unterlage ihrer Entscheidung hat, als die erste.
Diese Erwägung und der Umstand, daß das Berufungsgericht regelmäßig
wieder neue" Beweis erheben muß, hat denn auch in den sechziger Jahren
dazu geführt, die Berufung in großen deutschen Reichsgebieten aufzuheben.
Auf der andern Seite wird entgegengehalten, der Angeklagte werde häusig
durch das Urteil überrascht, er merke erst hinterher, worauf es ankommt, und
wie er sich hätte verteidigen sollen. Ob diese Fälle wirklich so häufig sind,
insbesondre wenn eine gerichtliche Voruntersuchung vorausgegangen und der
Angeklagte von einem Rechtskundigen verteidigt worden ist, mag dahingestellt
bleiben. Wenn man freilich in reichsgerichtlichen Entscheidungen, die von der
Tagespresse wiedergegeben werden, wiederholt als Grund für Verwerfung der
Revisionen liest: der Angeklagte habe ja in der ersten Instanz gar nicht be¬
hauptet, daß ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigst gefehlt habe; er habe
sich jn nicht ans den Schutz des bekannten § 193 des Neichsstrafgesetzbuchs
bei Beleidigungen berufen u. f. w., so möchte man allerdings den Einwand
nicht für unbegründet halten. Kommen aber solche Fälle vor, so trifft die
Schuld doch vorzugsweise das erkennende Gericht, den die Verhandlung lei¬
tenden Vorsitzenden und die beisitzeuden Richter, wenn auch immerhin der Un¬
verstand des Angeklagten, seine Befangenheit vor dem Gerichtshofe, das Un¬
geschick und die Unlust des Verteidigers dabei eine Rolle spielen und die
Schuld des Gerichts mildern mögen.

Die Hauptsache bleibt jedenfalls die Art und Weise, wie sich das er¬
kennende Gericht in der Hauptverhandlung die Unterlagen für sein Urteil ver¬
schafft. Ist diese mangelhaft auch bei dein Bernfuugsprvzesse, so ist alle Ein¬
führung der Berufung vergeblich. Glaubt mau aber Grund zur Unzufrieden¬
heit mit der Rechtsprechung des jetzigen Fünfergerichts zu habe", wenn es in
erster Instanz urteilt, welchen Unterschied wird es dann machen, wenn der¬
selbe Gerichtshof in zweiter Instanz Recht spricht?

Wichtiger als alle Jnstanzeneiurichtung ist die Schaffung von Gerichten,
die in sich selbst die Gewähr einer guten Rechtsprechung tragen. Gleichwohl
die Zulässigkeit der Berufung gegen die Urteile der meisten Strafgerichte
berechtigt. Bringt sie auch in vieler Beziehung Nachteile mit sich, und wäre
es zweifellos besser, wir könnten sie entbehre", so wird sie doch geradezu not¬
wendig um der Unmöglichkeit willen, alle Strafsachen sofort von dem als
besten erkannten Gerichte aburteilen zu lassen. Wäre es denkbar, daß alle
Straffälle schon in erster Instanz von dem höchsten Gerichte entschieden werden
könnten, käme jede Übertretung von vornherein von den Strafsenaten des Reichs¬
gerichts zur Aburteilung, so bliebe für eine zweite Instanz von selbst kein
Raum. Daß dies nicht durchführbar ist. liegt auf der Hand. Mau muß also


Greiizboten I 1893 60
Berufung und Schöffengericht

Es ist schon oft betont worden, daß die nach Verlauf oft recht langer
Zeit zur Nachprüfung schreitende zweite Instanz regelmäßig minder frische und
zuverlässige Beweismittel zur Unterlage ihrer Entscheidung hat, als die erste.
Diese Erwägung und der Umstand, daß das Berufungsgericht regelmäßig
wieder neue» Beweis erheben muß, hat denn auch in den sechziger Jahren
dazu geführt, die Berufung in großen deutschen Reichsgebieten aufzuheben.
Auf der andern Seite wird entgegengehalten, der Angeklagte werde häusig
durch das Urteil überrascht, er merke erst hinterher, worauf es ankommt, und
wie er sich hätte verteidigen sollen. Ob diese Fälle wirklich so häufig sind,
insbesondre wenn eine gerichtliche Voruntersuchung vorausgegangen und der
Angeklagte von einem Rechtskundigen verteidigt worden ist, mag dahingestellt
bleiben. Wenn man freilich in reichsgerichtlichen Entscheidungen, die von der
Tagespresse wiedergegeben werden, wiederholt als Grund für Verwerfung der
Revisionen liest: der Angeklagte habe ja in der ersten Instanz gar nicht be¬
hauptet, daß ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigst gefehlt habe; er habe
sich jn nicht ans den Schutz des bekannten § 193 des Neichsstrafgesetzbuchs
bei Beleidigungen berufen u. f. w., so möchte man allerdings den Einwand
nicht für unbegründet halten. Kommen aber solche Fälle vor, so trifft die
Schuld doch vorzugsweise das erkennende Gericht, den die Verhandlung lei¬
tenden Vorsitzenden und die beisitzeuden Richter, wenn auch immerhin der Un¬
verstand des Angeklagten, seine Befangenheit vor dem Gerichtshofe, das Un¬
geschick und die Unlust des Verteidigers dabei eine Rolle spielen und die
Schuld des Gerichts mildern mögen.

Die Hauptsache bleibt jedenfalls die Art und Weise, wie sich das er¬
kennende Gericht in der Hauptverhandlung die Unterlagen für sein Urteil ver¬
schafft. Ist diese mangelhaft auch bei dein Bernfuugsprvzesse, so ist alle Ein¬
führung der Berufung vergeblich. Glaubt mau aber Grund zur Unzufrieden¬
heit mit der Rechtsprechung des jetzigen Fünfergerichts zu habe», wenn es in
erster Instanz urteilt, welchen Unterschied wird es dann machen, wenn der¬
selbe Gerichtshof in zweiter Instanz Recht spricht?

Wichtiger als alle Jnstanzeneiurichtung ist die Schaffung von Gerichten,
die in sich selbst die Gewähr einer guten Rechtsprechung tragen. Gleichwohl
die Zulässigkeit der Berufung gegen die Urteile der meisten Strafgerichte
berechtigt. Bringt sie auch in vieler Beziehung Nachteile mit sich, und wäre
es zweifellos besser, wir könnten sie entbehre», so wird sie doch geradezu not¬
wendig um der Unmöglichkeit willen, alle Strafsachen sofort von dem als
besten erkannten Gerichte aburteilen zu lassen. Wäre es denkbar, daß alle
Straffälle schon in erster Instanz von dem höchsten Gerichte entschieden werden
könnten, käme jede Übertretung von vornherein von den Strafsenaten des Reichs¬
gerichts zur Aburteilung, so bliebe für eine zweite Instanz von selbst kein
Raum. Daß dies nicht durchführbar ist. liegt auf der Hand. Mau muß also


Greiizboten I 1893 60
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0483" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/214275"/>
          <fw type="header" place="top"> Berufung und Schöffengericht</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1649"> Es ist schon oft betont worden, daß die nach Verlauf oft recht langer<lb/>
Zeit zur Nachprüfung schreitende zweite Instanz regelmäßig minder frische und<lb/>
zuverlässige Beweismittel zur Unterlage ihrer Entscheidung hat, als die erste.<lb/>
Diese Erwägung und der Umstand, daß das Berufungsgericht regelmäßig<lb/>
wieder neue» Beweis erheben muß, hat denn auch in den sechziger Jahren<lb/>
dazu geführt, die Berufung in großen deutschen Reichsgebieten aufzuheben.<lb/>
Auf der andern Seite wird entgegengehalten, der Angeklagte werde häusig<lb/>
durch das Urteil überrascht, er merke erst hinterher, worauf es ankommt, und<lb/>
wie er sich hätte verteidigen sollen. Ob diese Fälle wirklich so häufig sind,<lb/>
insbesondre wenn eine gerichtliche Voruntersuchung vorausgegangen und der<lb/>
Angeklagte von einem Rechtskundigen verteidigt worden ist, mag dahingestellt<lb/>
bleiben. Wenn man freilich in reichsgerichtlichen Entscheidungen, die von der<lb/>
Tagespresse wiedergegeben werden, wiederholt als Grund für Verwerfung der<lb/>
Revisionen liest: der Angeklagte habe ja in der ersten Instanz gar nicht be¬<lb/>
hauptet, daß ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigst gefehlt habe; er habe<lb/>
sich jn nicht ans den Schutz des bekannten § 193 des Neichsstrafgesetzbuchs<lb/>
bei Beleidigungen berufen u. f. w., so möchte man allerdings den Einwand<lb/>
nicht für unbegründet halten. Kommen aber solche Fälle vor, so trifft die<lb/>
Schuld doch vorzugsweise das erkennende Gericht, den die Verhandlung lei¬<lb/>
tenden Vorsitzenden und die beisitzeuden Richter, wenn auch immerhin der Un¬<lb/>
verstand des Angeklagten, seine Befangenheit vor dem Gerichtshofe, das Un¬<lb/>
geschick und die Unlust des Verteidigers dabei eine Rolle spielen und die<lb/>
Schuld des Gerichts mildern mögen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1650"> Die Hauptsache bleibt jedenfalls die Art und Weise, wie sich das er¬<lb/>
kennende Gericht in der Hauptverhandlung die Unterlagen für sein Urteil ver¬<lb/>
schafft. Ist diese mangelhaft auch bei dein Bernfuugsprvzesse, so ist alle Ein¬<lb/>
führung der Berufung vergeblich. Glaubt mau aber Grund zur Unzufrieden¬<lb/>
heit mit der Rechtsprechung des jetzigen Fünfergerichts zu habe», wenn es in<lb/>
erster Instanz urteilt, welchen Unterschied wird es dann machen, wenn der¬<lb/>
selbe Gerichtshof in zweiter Instanz Recht spricht?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1651" next="#ID_1652"> Wichtiger als alle Jnstanzeneiurichtung ist die Schaffung von Gerichten,<lb/>
die in sich selbst die Gewähr einer guten Rechtsprechung tragen. Gleichwohl<lb/>
die Zulässigkeit der Berufung gegen die Urteile der meisten Strafgerichte<lb/>
berechtigt. Bringt sie auch in vieler Beziehung Nachteile mit sich, und wäre<lb/>
es zweifellos besser, wir könnten sie entbehre», so wird sie doch geradezu not¬<lb/>
wendig um der Unmöglichkeit willen, alle Strafsachen sofort von dem als<lb/>
besten erkannten Gerichte aburteilen zu lassen. Wäre es denkbar, daß alle<lb/>
Straffälle schon in erster Instanz von dem höchsten Gerichte entschieden werden<lb/>
könnten, käme jede Übertretung von vornherein von den Strafsenaten des Reichs¬<lb/>
gerichts zur Aburteilung, so bliebe für eine zweite Instanz von selbst kein<lb/>
Raum. Daß dies nicht durchführbar ist. liegt auf der Hand. Mau muß also</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Greiizboten I 1893 60</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0483] Berufung und Schöffengericht Es ist schon oft betont worden, daß die nach Verlauf oft recht langer Zeit zur Nachprüfung schreitende zweite Instanz regelmäßig minder frische und zuverlässige Beweismittel zur Unterlage ihrer Entscheidung hat, als die erste. Diese Erwägung und der Umstand, daß das Berufungsgericht regelmäßig wieder neue» Beweis erheben muß, hat denn auch in den sechziger Jahren dazu geführt, die Berufung in großen deutschen Reichsgebieten aufzuheben. Auf der andern Seite wird entgegengehalten, der Angeklagte werde häusig durch das Urteil überrascht, er merke erst hinterher, worauf es ankommt, und wie er sich hätte verteidigen sollen. Ob diese Fälle wirklich so häufig sind, insbesondre wenn eine gerichtliche Voruntersuchung vorausgegangen und der Angeklagte von einem Rechtskundigen verteidigt worden ist, mag dahingestellt bleiben. Wenn man freilich in reichsgerichtlichen Entscheidungen, die von der Tagespresse wiedergegeben werden, wiederholt als Grund für Verwerfung der Revisionen liest: der Angeklagte habe ja in der ersten Instanz gar nicht be¬ hauptet, daß ihm das Bewußtsein der Rechtswidrigst gefehlt habe; er habe sich jn nicht ans den Schutz des bekannten § 193 des Neichsstrafgesetzbuchs bei Beleidigungen berufen u. f. w., so möchte man allerdings den Einwand nicht für unbegründet halten. Kommen aber solche Fälle vor, so trifft die Schuld doch vorzugsweise das erkennende Gericht, den die Verhandlung lei¬ tenden Vorsitzenden und die beisitzeuden Richter, wenn auch immerhin der Un¬ verstand des Angeklagten, seine Befangenheit vor dem Gerichtshofe, das Un¬ geschick und die Unlust des Verteidigers dabei eine Rolle spielen und die Schuld des Gerichts mildern mögen. Die Hauptsache bleibt jedenfalls die Art und Weise, wie sich das er¬ kennende Gericht in der Hauptverhandlung die Unterlagen für sein Urteil ver¬ schafft. Ist diese mangelhaft auch bei dein Bernfuugsprvzesse, so ist alle Ein¬ führung der Berufung vergeblich. Glaubt mau aber Grund zur Unzufrieden¬ heit mit der Rechtsprechung des jetzigen Fünfergerichts zu habe», wenn es in erster Instanz urteilt, welchen Unterschied wird es dann machen, wenn der¬ selbe Gerichtshof in zweiter Instanz Recht spricht? Wichtiger als alle Jnstanzeneiurichtung ist die Schaffung von Gerichten, die in sich selbst die Gewähr einer guten Rechtsprechung tragen. Gleichwohl die Zulässigkeit der Berufung gegen die Urteile der meisten Strafgerichte berechtigt. Bringt sie auch in vieler Beziehung Nachteile mit sich, und wäre es zweifellos besser, wir könnten sie entbehre», so wird sie doch geradezu not¬ wendig um der Unmöglichkeit willen, alle Strafsachen sofort von dem als besten erkannten Gerichte aburteilen zu lassen. Wäre es denkbar, daß alle Straffälle schon in erster Instanz von dem höchsten Gerichte entschieden werden könnten, käme jede Übertretung von vornherein von den Strafsenaten des Reichs¬ gerichts zur Aburteilung, so bliebe für eine zweite Instanz von selbst kein Raum. Daß dies nicht durchführbar ist. liegt auf der Hand. Mau muß also Greiizboten I 1893 60

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/483
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/483>, abgerufen am 26.06.2024.