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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Zivil- und Strafrichter

entscheidenden Fülle zeigt sich doch sofort ein Unterschied, der allerdings ge¬
eignet ist, den Beisitzer in der Strafkammer gegenüber dem Beisitzer in der
Zivilkammer herabzudrticken. Nicht nur die Entscheidung über das Strafmaß,
sondern auch die Entscheidung der Schuldfrage ist für den praktischen Straf¬
richter -- von Ausnahmen abgesehn -- mehr Sache des Rechtsgefühls als
der juristischen Konstruktion, während umgekehrt im Zivilrecht erst eine skru¬
pulöse juristische Konstruktion, eine Kette logischer, aus allgemeinen Grund-
begriffen aufgebauter Erwägungen zur Entscheidung führt. Man kann geradezu
sagen, daß der Strafrichter, ohne mit juristischen Spitzfindigkeiten zu beginnen,
dem ihm zur Beurteilung vorliegenden Falle gegenüber zunächst sein allge¬
meines Rechtsgefühl und feinen gesunden Menschenverstand sprechen läßt, und
daß das dann folgende Aufsuchen der juristischen Gründe mehr den Charakter
einer Probe hat, ob sich auch die von ihm gleichsam intuitio gefundne Ent¬
scheidung vor dem Gesetze rechtfertige.

Daß diese Art der Snchbehcmdluug zu verdammen oder auch nur zu be¬
klagen sei, glaube ich uicht. Im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß eine prak¬
tische Strnfjustiz, die umgekehrt verführe, sich niemals im Einklange befinden
könne und werde mit dein Rechtsbewußtsein des ganzen Volks, daß sie daher
ihrem eigentlichen Berufe nicht gerecht werde. Auch finden sich in der Straf¬
prozeßordnung selbst, in der Strenge, mit der sie fordert, daß womöglich sofort
am Schlüsse der Verhandlung, spätestens nach Ablauf einer Woche das Urteil
verkündet werde, Andeutungen dafür, daß der Gesetzgeber den Strafrichter in
noch höherm Maße als den Zivilrichter unter dein unmittelbaren Eindruck der
gesamten Verhandlung seine Entscheidung hat treffen lassen wollen. Allein
wie dem auch sei, Thatsache ist, daß der Strafrichter so verfährt, wie es
vorhin geschildert ist; dies ergiebt sich auch aus der ganz außerordentlichen
Seltenheit der Fälle, wo Strafkammern ihre Entscheidung aussetzen, während
das in den Zivilgerichten die Regel bildet. Die Folge dieses Umstandes ist
aber nur die, daß der Einfluß des Gerichtsvvrsitzenden aus die Entschei¬
dung im Verhältnis zu seinen Beisitzern viel bedeutender wird, als dies
je in den Zivilkammern möglich ist. Denn in diesen liegt der Schwerpunkt
nicht in der von den beiderseitigen Anwälten betriebneu Verhandlung, son¬
dern in den meist mehrere Tage nach Schluß der Verhandlung stattfindenden
Beratungen, in die die Beisitzer und namentlich der ernannte Berichterstatter,
nachdem sie den Fall ans seine juristische Konstruktion hin sorgfältig haben
prüfen können, ebenso gründlich vorbereitet eintreten wie der Vorsitzende. In
den Strafkammersachen aber liegt das Hauptgewicht in der mündlichen Ver¬
handlung, in der Art, wie der Vorsitzende, der meist allein die Alten kennt,
das in ihnen liegende Material verwendet, und in der allgemeinen Stimmung,
die durch die Behandlung erzeugt wird, die er, von der aus dein Aktcninhalt
geschöpften Überzeugung ausgehend, der Sache angedeihe" läßt. Was dann


Zivil- und Strafrichter

entscheidenden Fülle zeigt sich doch sofort ein Unterschied, der allerdings ge¬
eignet ist, den Beisitzer in der Strafkammer gegenüber dem Beisitzer in der
Zivilkammer herabzudrticken. Nicht nur die Entscheidung über das Strafmaß,
sondern auch die Entscheidung der Schuldfrage ist für den praktischen Straf¬
richter — von Ausnahmen abgesehn — mehr Sache des Rechtsgefühls als
der juristischen Konstruktion, während umgekehrt im Zivilrecht erst eine skru¬
pulöse juristische Konstruktion, eine Kette logischer, aus allgemeinen Grund-
begriffen aufgebauter Erwägungen zur Entscheidung führt. Man kann geradezu
sagen, daß der Strafrichter, ohne mit juristischen Spitzfindigkeiten zu beginnen,
dem ihm zur Beurteilung vorliegenden Falle gegenüber zunächst sein allge¬
meines Rechtsgefühl und feinen gesunden Menschenverstand sprechen läßt, und
daß das dann folgende Aufsuchen der juristischen Gründe mehr den Charakter
einer Probe hat, ob sich auch die von ihm gleichsam intuitio gefundne Ent¬
scheidung vor dem Gesetze rechtfertige.

Daß diese Art der Snchbehcmdluug zu verdammen oder auch nur zu be¬
klagen sei, glaube ich uicht. Im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß eine prak¬
tische Strnfjustiz, die umgekehrt verführe, sich niemals im Einklange befinden
könne und werde mit dein Rechtsbewußtsein des ganzen Volks, daß sie daher
ihrem eigentlichen Berufe nicht gerecht werde. Auch finden sich in der Straf¬
prozeßordnung selbst, in der Strenge, mit der sie fordert, daß womöglich sofort
am Schlüsse der Verhandlung, spätestens nach Ablauf einer Woche das Urteil
verkündet werde, Andeutungen dafür, daß der Gesetzgeber den Strafrichter in
noch höherm Maße als den Zivilrichter unter dein unmittelbaren Eindruck der
gesamten Verhandlung seine Entscheidung hat treffen lassen wollen. Allein
wie dem auch sei, Thatsache ist, daß der Strafrichter so verfährt, wie es
vorhin geschildert ist; dies ergiebt sich auch aus der ganz außerordentlichen
Seltenheit der Fälle, wo Strafkammern ihre Entscheidung aussetzen, während
das in den Zivilgerichten die Regel bildet. Die Folge dieses Umstandes ist
aber nur die, daß der Einfluß des Gerichtsvvrsitzenden aus die Entschei¬
dung im Verhältnis zu seinen Beisitzern viel bedeutender wird, als dies
je in den Zivilkammern möglich ist. Denn in diesen liegt der Schwerpunkt
nicht in der von den beiderseitigen Anwälten betriebneu Verhandlung, son¬
dern in den meist mehrere Tage nach Schluß der Verhandlung stattfindenden
Beratungen, in die die Beisitzer und namentlich der ernannte Berichterstatter,
nachdem sie den Fall ans seine juristische Konstruktion hin sorgfältig haben
prüfen können, ebenso gründlich vorbereitet eintreten wie der Vorsitzende. In
den Strafkammersachen aber liegt das Hauptgewicht in der mündlichen Ver¬
handlung, in der Art, wie der Vorsitzende, der meist allein die Alten kennt,
das in ihnen liegende Material verwendet, und in der allgemeinen Stimmung,
die durch die Behandlung erzeugt wird, die er, von der aus dein Aktcninhalt
geschöpften Überzeugung ausgehend, der Sache angedeihe» läßt. Was dann


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[0284] Zivil- und Strafrichter entscheidenden Fülle zeigt sich doch sofort ein Unterschied, der allerdings ge¬ eignet ist, den Beisitzer in der Strafkammer gegenüber dem Beisitzer in der Zivilkammer herabzudrticken. Nicht nur die Entscheidung über das Strafmaß, sondern auch die Entscheidung der Schuldfrage ist für den praktischen Straf¬ richter — von Ausnahmen abgesehn — mehr Sache des Rechtsgefühls als der juristischen Konstruktion, während umgekehrt im Zivilrecht erst eine skru¬ pulöse juristische Konstruktion, eine Kette logischer, aus allgemeinen Grund- begriffen aufgebauter Erwägungen zur Entscheidung führt. Man kann geradezu sagen, daß der Strafrichter, ohne mit juristischen Spitzfindigkeiten zu beginnen, dem ihm zur Beurteilung vorliegenden Falle gegenüber zunächst sein allge¬ meines Rechtsgefühl und feinen gesunden Menschenverstand sprechen läßt, und daß das dann folgende Aufsuchen der juristischen Gründe mehr den Charakter einer Probe hat, ob sich auch die von ihm gleichsam intuitio gefundne Ent¬ scheidung vor dem Gesetze rechtfertige. Daß diese Art der Snchbehcmdluug zu verdammen oder auch nur zu be¬ klagen sei, glaube ich uicht. Im Gegenteil, ich bin der Ansicht, daß eine prak¬ tische Strnfjustiz, die umgekehrt verführe, sich niemals im Einklange befinden könne und werde mit dein Rechtsbewußtsein des ganzen Volks, daß sie daher ihrem eigentlichen Berufe nicht gerecht werde. Auch finden sich in der Straf¬ prozeßordnung selbst, in der Strenge, mit der sie fordert, daß womöglich sofort am Schlüsse der Verhandlung, spätestens nach Ablauf einer Woche das Urteil verkündet werde, Andeutungen dafür, daß der Gesetzgeber den Strafrichter in noch höherm Maße als den Zivilrichter unter dein unmittelbaren Eindruck der gesamten Verhandlung seine Entscheidung hat treffen lassen wollen. Allein wie dem auch sei, Thatsache ist, daß der Strafrichter so verfährt, wie es vorhin geschildert ist; dies ergiebt sich auch aus der ganz außerordentlichen Seltenheit der Fälle, wo Strafkammern ihre Entscheidung aussetzen, während das in den Zivilgerichten die Regel bildet. Die Folge dieses Umstandes ist aber nur die, daß der Einfluß des Gerichtsvvrsitzenden aus die Entschei¬ dung im Verhältnis zu seinen Beisitzern viel bedeutender wird, als dies je in den Zivilkammern möglich ist. Denn in diesen liegt der Schwerpunkt nicht in der von den beiderseitigen Anwälten betriebneu Verhandlung, son¬ dern in den meist mehrere Tage nach Schluß der Verhandlung stattfindenden Beratungen, in die die Beisitzer und namentlich der ernannte Berichterstatter, nachdem sie den Fall ans seine juristische Konstruktion hin sorgfältig haben prüfen können, ebenso gründlich vorbereitet eintreten wie der Vorsitzende. In den Strafkammersachen aber liegt das Hauptgewicht in der mündlichen Ver¬ handlung, in der Art, wie der Vorsitzende, der meist allein die Alten kennt, das in ihnen liegende Material verwendet, und in der allgemeinen Stimmung, die durch die Behandlung erzeugt wird, die er, von der aus dein Aktcninhalt geschöpften Überzeugung ausgehend, der Sache angedeihe» läßt. Was dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/284>, abgerufen am 25.06.2024.