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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Kommunismus noch Kapitalismus

Äußerungen von Behörden und Privaten hierfür wählt. Wir haben auch
schon erklärt, diese Art der Erhebung als nur lokal und temporär verwendbar
vorerst beiseite lassen zu wollen." Nur lokal verwendbar, freilich! Aber was
für ein Lokal! Der ganze englische Jndustriebezirk. Nur temporär! Freilich!
Aber was für eine Zeit! Die Zeit, da England die indische und die deutsche
Weberei totgemacht und eine Baumwollenindustrie geschaffen hat, die im Jahre
1860 beinahe die Hälfte </'/ig) des englischen Exports zu liefern vermochte!
"Vorerst" will er diese Schilderungen beiseite lassen, er geht aber auch später
nicht darauf ein, sondern spricht nur von der ungeheuern Vermehrung der
Spindeln und dergleichen Fortschritten, als ob es dem echten Volkswirt und
Svzinlpolitiler um Spindeln und nicht vielmehr um Menschen zu thun wäre!
Andre Nationalökonomen behaupten kecklich, Marx -- vielleicht ist es schon zu
lange her, daß sie ihn gelesen haben -- Marx habe seine Schilderungen den
Zeiten des Niedergnugs und industrieller Krisen entnommen. Sie wollen
also glauben machen, es handle sich da um die Nöte etwa der Bcmmwvllen-
krisis der sechziger Jahre, während doch von den Mißhandlungen die Rede
ist, die angewendet wurden, um die "Blüte" der englischen Textilindustrie
hervorzutreiben, und von einer Zeit, in der die Fabrikanten ungeheure Reich¬
tümer aufhäuften!

Die Sache ist in kurzem die, daß diese Herren nicht rasch genug vor¬
wärts gekommen sein würden, wenn sie gewartet hätten, bis sich der englische
Arbeiter ans die geistlose, entwürdigende Arbeit des Füdchenanknüpfens, die
keine Arbeit, fondern qualvolle Anstrengung ist, eingerichtet haben würde. Sie
setzten ihn einfach vor die Thür und nahmen sein fügsames Weib und dann
sein noch fügsameres Kind. Der entmannte Mann saß daheim, Strümpfe
stickend und Kartoffeln kochend, während sein Weib die Kartoffeln und Strümpfe
verdiente, und später führte er sein Kind in die Fabrik oder trug es all-
morgentlich oder -- zur Nachtschicht -- allabendlich dahin. Zur Essenszeit wan¬
delte er mit dem Speisenapf hin und fütterte, vor ihm knieend, den armen
Wurm, dem eine Essenspause nicht vergönnt wurde. Zum Schlafen wurden
ihm manchmal kaum vier Stunden gelassen, und war er nicht rechtzeitig zur
Stelle, so holte ihn der Aufseher aus seinem Bett oder aus seinen Lumpen
und peitschte ihn wach. "Ich sah, sagte der Tory Onstler, ein Vorkämpfer
für den Kinderschutz, meine jungen und hilflosen Nachbarn schrittweise zu
Grunde gehn, unter der Peitsche und dem Frohndienst eines Fabrikungeheuers.
Ich hörte ihr Stöhnen, sah ihre Thränen und wußte, daß sie sich auf mich
verließen. Ich wurde von weinenden Müttern besucht, die mir die bluten¬
den Wunden ihrer Kinder zeigten und mich fragten: "Ist das gerecht, Herr?
Ist es nicht genug, daß diese armen Dinger durch die Arbeit getötet werden,
womit sie uns das Brot verdiene"? Müssen sie dazu noch so geschlagen
und getreten werden?" Ich sah erwachsene Männer, deren einziger Beruf es


Weder Kommunismus noch Kapitalismus

Äußerungen von Behörden und Privaten hierfür wählt. Wir haben auch
schon erklärt, diese Art der Erhebung als nur lokal und temporär verwendbar
vorerst beiseite lassen zu wollen." Nur lokal verwendbar, freilich! Aber was
für ein Lokal! Der ganze englische Jndustriebezirk. Nur temporär! Freilich!
Aber was für eine Zeit! Die Zeit, da England die indische und die deutsche
Weberei totgemacht und eine Baumwollenindustrie geschaffen hat, die im Jahre
1860 beinahe die Hälfte </'/ig) des englischen Exports zu liefern vermochte!
„Vorerst" will er diese Schilderungen beiseite lassen, er geht aber auch später
nicht darauf ein, sondern spricht nur von der ungeheuern Vermehrung der
Spindeln und dergleichen Fortschritten, als ob es dem echten Volkswirt und
Svzinlpolitiler um Spindeln und nicht vielmehr um Menschen zu thun wäre!
Andre Nationalökonomen behaupten kecklich, Marx — vielleicht ist es schon zu
lange her, daß sie ihn gelesen haben — Marx habe seine Schilderungen den
Zeiten des Niedergnugs und industrieller Krisen entnommen. Sie wollen
also glauben machen, es handle sich da um die Nöte etwa der Bcmmwvllen-
krisis der sechziger Jahre, während doch von den Mißhandlungen die Rede
ist, die angewendet wurden, um die „Blüte" der englischen Textilindustrie
hervorzutreiben, und von einer Zeit, in der die Fabrikanten ungeheure Reich¬
tümer aufhäuften!

Die Sache ist in kurzem die, daß diese Herren nicht rasch genug vor¬
wärts gekommen sein würden, wenn sie gewartet hätten, bis sich der englische
Arbeiter ans die geistlose, entwürdigende Arbeit des Füdchenanknüpfens, die
keine Arbeit, fondern qualvolle Anstrengung ist, eingerichtet haben würde. Sie
setzten ihn einfach vor die Thür und nahmen sein fügsames Weib und dann
sein noch fügsameres Kind. Der entmannte Mann saß daheim, Strümpfe
stickend und Kartoffeln kochend, während sein Weib die Kartoffeln und Strümpfe
verdiente, und später führte er sein Kind in die Fabrik oder trug es all-
morgentlich oder — zur Nachtschicht — allabendlich dahin. Zur Essenszeit wan¬
delte er mit dem Speisenapf hin und fütterte, vor ihm knieend, den armen
Wurm, dem eine Essenspause nicht vergönnt wurde. Zum Schlafen wurden
ihm manchmal kaum vier Stunden gelassen, und war er nicht rechtzeitig zur
Stelle, so holte ihn der Aufseher aus seinem Bett oder aus seinen Lumpen
und peitschte ihn wach. „Ich sah, sagte der Tory Onstler, ein Vorkämpfer
für den Kinderschutz, meine jungen und hilflosen Nachbarn schrittweise zu
Grunde gehn, unter der Peitsche und dem Frohndienst eines Fabrikungeheuers.
Ich hörte ihr Stöhnen, sah ihre Thränen und wußte, daß sie sich auf mich
verließen. Ich wurde von weinenden Müttern besucht, die mir die bluten¬
den Wunden ihrer Kinder zeigten und mich fragten: »Ist das gerecht, Herr?
Ist es nicht genug, daß diese armen Dinger durch die Arbeit getötet werden,
womit sie uns das Brot verdiene«? Müssen sie dazu noch so geschlagen
und getreten werden?« Ich sah erwachsene Männer, deren einziger Beruf es


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[0026] Weder Kommunismus noch Kapitalismus Äußerungen von Behörden und Privaten hierfür wählt. Wir haben auch schon erklärt, diese Art der Erhebung als nur lokal und temporär verwendbar vorerst beiseite lassen zu wollen." Nur lokal verwendbar, freilich! Aber was für ein Lokal! Der ganze englische Jndustriebezirk. Nur temporär! Freilich! Aber was für eine Zeit! Die Zeit, da England die indische und die deutsche Weberei totgemacht und eine Baumwollenindustrie geschaffen hat, die im Jahre 1860 beinahe die Hälfte </'/ig) des englischen Exports zu liefern vermochte! „Vorerst" will er diese Schilderungen beiseite lassen, er geht aber auch später nicht darauf ein, sondern spricht nur von der ungeheuern Vermehrung der Spindeln und dergleichen Fortschritten, als ob es dem echten Volkswirt und Svzinlpolitiler um Spindeln und nicht vielmehr um Menschen zu thun wäre! Andre Nationalökonomen behaupten kecklich, Marx — vielleicht ist es schon zu lange her, daß sie ihn gelesen haben — Marx habe seine Schilderungen den Zeiten des Niedergnugs und industrieller Krisen entnommen. Sie wollen also glauben machen, es handle sich da um die Nöte etwa der Bcmmwvllen- krisis der sechziger Jahre, während doch von den Mißhandlungen die Rede ist, die angewendet wurden, um die „Blüte" der englischen Textilindustrie hervorzutreiben, und von einer Zeit, in der die Fabrikanten ungeheure Reich¬ tümer aufhäuften! Die Sache ist in kurzem die, daß diese Herren nicht rasch genug vor¬ wärts gekommen sein würden, wenn sie gewartet hätten, bis sich der englische Arbeiter ans die geistlose, entwürdigende Arbeit des Füdchenanknüpfens, die keine Arbeit, fondern qualvolle Anstrengung ist, eingerichtet haben würde. Sie setzten ihn einfach vor die Thür und nahmen sein fügsames Weib und dann sein noch fügsameres Kind. Der entmannte Mann saß daheim, Strümpfe stickend und Kartoffeln kochend, während sein Weib die Kartoffeln und Strümpfe verdiente, und später führte er sein Kind in die Fabrik oder trug es all- morgentlich oder — zur Nachtschicht — allabendlich dahin. Zur Essenszeit wan¬ delte er mit dem Speisenapf hin und fütterte, vor ihm knieend, den armen Wurm, dem eine Essenspause nicht vergönnt wurde. Zum Schlafen wurden ihm manchmal kaum vier Stunden gelassen, und war er nicht rechtzeitig zur Stelle, so holte ihn der Aufseher aus seinem Bett oder aus seinen Lumpen und peitschte ihn wach. „Ich sah, sagte der Tory Onstler, ein Vorkämpfer für den Kinderschutz, meine jungen und hilflosen Nachbarn schrittweise zu Grunde gehn, unter der Peitsche und dem Frohndienst eines Fabrikungeheuers. Ich hörte ihr Stöhnen, sah ihre Thränen und wußte, daß sie sich auf mich verließen. Ich wurde von weinenden Müttern besucht, die mir die bluten¬ den Wunden ihrer Kinder zeigten und mich fragten: »Ist das gerecht, Herr? Ist es nicht genug, daß diese armen Dinger durch die Arbeit getötet werden, womit sie uns das Brot verdiene«? Müssen sie dazu noch so geschlagen und getreten werden?« Ich sah erwachsene Männer, deren einziger Beruf es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/26>, abgerufen am 01.09.2024.