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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Vor der Entscheidung

nicht fünf Jahre her, allerdings die fünf schwersten Jahre der neuesten deutschen
Geschichte, daß im Reichstage bei einer ähnlichen Gelegenheit das stolz-demütige
Wort gesprochen wurde: "Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in
der Welt."

Darauf also kommt alles an, daß die Reichsregierung imstande ist, den
zwingenden Beweis für die Notwendigkeit der geforderten Heeresverstärkung
zu führen. Freilich wird ihr das viel schwerer werden, als es der früher"
Regierung geworden wäre. Denn das läßt sich nnn einmal nicht in Abrede
stellen: in weiten Kreisen der Nation fehlt es an jedem Vertrauen zu dem
"neuen Kurs," nicht nur, weil es eben der neue ist, sondern weil niemand so
recht an die Stetigkeit und Besonnenheit der Leitung glaubt. In dieser Be¬
ziehung haben die Verhandlungen über das preußische Volksschulgesetz und
über die Handelsverträge unendlich viel geschadet. Immerhin kann es sich in
dieser schweren Entscheidung nicht um die Personen, sondern nur um die Sache
handeln, die sie vertreten, und es darf gewiß nicht außer Acht gelassen werden,
daß der einzige der noch lebenden siegreichen Heerführer von 1870/71, der
unter allen regierenden deutschen Fürsten jetzt noch allein die Überlieferungen
jener großen Zeit in seiner Persönlichkeit und Erfcchrnng vertritt, König Albert
von Sachsen, durch seine Regierung für die Heeresvvrlage eintritt. Die ihm
zu Gebote stehenden Beweise müssen also doch wohl sehr zwingend sei". Es
läßt sich denken, daß dnrch diese äußerste Anspannung der deutschen Wehrkraft
die Franzosen, die sehr wohl wissen, daß sie jetzt schon am Ende ihrer Leistungs¬
fähigkeit angelangt sind und uns nicht mehr nachkommen können, endlich zu
der Überzeugung gebracht werden, ein Krieg gegen uns sei aussichtslos, und
daß also der Friede dadurch gesichert wird; auch mögen die militärischem Fach¬
männer, was freilich noch nirgends offen ausgesprochen worden ist, von den
Feuerwaffen der neuesten Zeit so große Verluste befürchten, daß sie rechtzeitig
für ausgiebigen Ersatz sorgen zu müssen glauben.

Gelingt es der Regierung, den Nachweis für die Notwendigkeit dieser
Heeresverstärkung sachlich überzeugend zu führen, sei es im Reichstage,
sei es in der Kommission, wo der Reichskanzler schon vor wenigen Tagen
den Anfang gemacht hat, dann allerdings muß der Reichstag ihre Forderung
bewilligen. Denn entweder ist die Regierung in ihrem Gewissen gebunden,
die Vorlage einzubringen, dann kann sie in wesentlichen Punkten nicht zurück¬
weichen, oder sie weicht zurück, daun würde sie eingestehen, daß es ihr nicht
ganz Ernst damit gewesen sei, und sie würde damit ihr ganzes Ausehen
verspielen. So und nicht anders ist die Lage. Daß die Geldmittel nicht zu
beschaffen wären, kann niemnud im Ernste behaupten. Trotz "wirtschaftlichem
Rückgang," "Notstand" und preußischem Defizit ist der Wohlstand der Nation
doch im ganzen in den letzten Jahrzehnten unzweifelhaft wesentlich gestiegen,
"im Falle einer gründlichen Niederlage würden uns unsre Besieger sehr bald


Vor der Entscheidung

nicht fünf Jahre her, allerdings die fünf schwersten Jahre der neuesten deutschen
Geschichte, daß im Reichstage bei einer ähnlichen Gelegenheit das stolz-demütige
Wort gesprochen wurde: „Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in
der Welt."

Darauf also kommt alles an, daß die Reichsregierung imstande ist, den
zwingenden Beweis für die Notwendigkeit der geforderten Heeresverstärkung
zu führen. Freilich wird ihr das viel schwerer werden, als es der früher»
Regierung geworden wäre. Denn das läßt sich nnn einmal nicht in Abrede
stellen: in weiten Kreisen der Nation fehlt es an jedem Vertrauen zu dem
„neuen Kurs," nicht nur, weil es eben der neue ist, sondern weil niemand so
recht an die Stetigkeit und Besonnenheit der Leitung glaubt. In dieser Be¬
ziehung haben die Verhandlungen über das preußische Volksschulgesetz und
über die Handelsverträge unendlich viel geschadet. Immerhin kann es sich in
dieser schweren Entscheidung nicht um die Personen, sondern nur um die Sache
handeln, die sie vertreten, und es darf gewiß nicht außer Acht gelassen werden,
daß der einzige der noch lebenden siegreichen Heerführer von 1870/71, der
unter allen regierenden deutschen Fürsten jetzt noch allein die Überlieferungen
jener großen Zeit in seiner Persönlichkeit und Erfcchrnng vertritt, König Albert
von Sachsen, durch seine Regierung für die Heeresvvrlage eintritt. Die ihm
zu Gebote stehenden Beweise müssen also doch wohl sehr zwingend sei». Es
läßt sich denken, daß dnrch diese äußerste Anspannung der deutschen Wehrkraft
die Franzosen, die sehr wohl wissen, daß sie jetzt schon am Ende ihrer Leistungs¬
fähigkeit angelangt sind und uns nicht mehr nachkommen können, endlich zu
der Überzeugung gebracht werden, ein Krieg gegen uns sei aussichtslos, und
daß also der Friede dadurch gesichert wird; auch mögen die militärischem Fach¬
männer, was freilich noch nirgends offen ausgesprochen worden ist, von den
Feuerwaffen der neuesten Zeit so große Verluste befürchten, daß sie rechtzeitig
für ausgiebigen Ersatz sorgen zu müssen glauben.

Gelingt es der Regierung, den Nachweis für die Notwendigkeit dieser
Heeresverstärkung sachlich überzeugend zu führen, sei es im Reichstage,
sei es in der Kommission, wo der Reichskanzler schon vor wenigen Tagen
den Anfang gemacht hat, dann allerdings muß der Reichstag ihre Forderung
bewilligen. Denn entweder ist die Regierung in ihrem Gewissen gebunden,
die Vorlage einzubringen, dann kann sie in wesentlichen Punkten nicht zurück¬
weichen, oder sie weicht zurück, daun würde sie eingestehen, daß es ihr nicht
ganz Ernst damit gewesen sei, und sie würde damit ihr ganzes Ausehen
verspielen. So und nicht anders ist die Lage. Daß die Geldmittel nicht zu
beschaffen wären, kann niemnud im Ernste behaupten. Trotz „wirtschaftlichem
Rückgang," „Notstand" und preußischem Defizit ist der Wohlstand der Nation
doch im ganzen in den letzten Jahrzehnten unzweifelhaft wesentlich gestiegen,
»im Falle einer gründlichen Niederlage würden uns unsre Besieger sehr bald


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/201>, abgerufen am 01.09.2024.