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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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ankommen, wenn es sich darum handelt, russischen Staatsboden sür echte Russen
zu erhalten oder frei zu machen. Wenn man einen internationalen Krieg durch
eine Politik des obigen Satzes vermeiden will, so heißt das nur den Krieg
auf ein andres Gebiet verlegen, es heißt: wir Deutschen und Russen wollen
uns nicht auf dem Schlachtfelde umbringen, sondern jeder von uns sällt zu
Hause über die Volksgenossen und Freunde des Gegners her. Gefahrloser
freilich und auch billiger ist diese Art des Kampfes, aber auch wehrloser, roher
und zuletzt politisch, wenigstens für uns Deutsche, verderblich. Eben jetzt sind
aus dem Rayon der neuen Festung Kownv etwa siebenhundert Deutsche aller
Lebensberufe kurzer Hand über die Grenze gejagt worden. Die Leute sind
ruinirt, müssen ihr Haus, Grundstück, Fabrik, Rittergut schleunig sür einen
Spottpreis verkaufen und nach Deutschland abziehen. Ist das aber nicht noch
eher durch die Rücksicht auf einen etwaigen Kriegsfall zu verteidigen, als dix
Vertreibung jeuer vierzigtausend aus Preußen? Beides sind Anwendungen
des Satzes "Rußland für die Russen" n. s. w. Was nützt es, wenn heut¬
zutage alle Staatsmänner nnr eine Aufgabe zu haben scheinen: den Frieden
des Schwertes zu schützen, und dafür der Kampf der Völker auf das Gebiet
des innern Staatslebens verlegt wird? Was nützt es, einen Angriffskrieg
medios zu nennen, wenn man zugleich die nationale Gewaltthat in dem Schutze
des äußern Friedens gutheißt? "Haue deine Deutschen, ich will meine Russen
hauen," wäre die Lebensregel. der unsre Zeit mit ihrem gewaltthätigen Natio¬
nalismus zustrebt, eine Regel, die wir Deutschen am allerwenigsten im Munde
führe" sollten, eingedenk dessen, daß Millionen Deutscher in der ganzen Welt
verstreut sind, die nicht aufgewogen werden durch ein paar Millionen Polen
und andre Leute, die wir etwa "hauen" könnten. Aber der Staatsgedanke ist
vielfach bereits so übermächtig, richtiger so ausschweifend geworden, daß auch
ein national geschlossener Staat wie Dentschland, nach der Meinung jener An¬
hänger des gewaltthätigen Nationalismus bei uns, nur sür die in seineu
Grenzen lebenden Deutschen dn ist und sich um die draußen lebenden Volks¬
genossen nicht zu kümmern braucht. Wer nicht Rcichsangehöriger ist, geht
uns nichts an, wer Deutschland, wer den Reichsverband als Auswanderer
verläßt, geht uns nichts mehr an, ist uns ein Fremder -- so denkt mancher
bei uns. Der Staat wird über die Nation gesetzt, und das bei einem Volke,
das ohnehin unter dem Mangel an nationalem Bewußtsein so schwer leidet,
wie kaum ein andres großes Kulturvolk; bei einem Volke, das nach der Mei¬
nung vieler satt ist an Raum und Besitz auf dieser Erde, und dabei trotz aller
Mühen außer Stande ist, den Zuwachs seiner Volksgenossen daheim zu ernähren
und ohne Zweifel immer weiter den Überschuß wird auswandern sehn müssen
über die Grenzen dieses Staats hinaus, der für ihn, "für den Deutschen"
allein Nieder geschaffen ist noch ausreicht.

Wir sind nicht satt, und wollen es hoffentlich auch niemals werde", denn


ankommen, wenn es sich darum handelt, russischen Staatsboden sür echte Russen
zu erhalten oder frei zu machen. Wenn man einen internationalen Krieg durch
eine Politik des obigen Satzes vermeiden will, so heißt das nur den Krieg
auf ein andres Gebiet verlegen, es heißt: wir Deutschen und Russen wollen
uns nicht auf dem Schlachtfelde umbringen, sondern jeder von uns sällt zu
Hause über die Volksgenossen und Freunde des Gegners her. Gefahrloser
freilich und auch billiger ist diese Art des Kampfes, aber auch wehrloser, roher
und zuletzt politisch, wenigstens für uns Deutsche, verderblich. Eben jetzt sind
aus dem Rayon der neuen Festung Kownv etwa siebenhundert Deutsche aller
Lebensberufe kurzer Hand über die Grenze gejagt worden. Die Leute sind
ruinirt, müssen ihr Haus, Grundstück, Fabrik, Rittergut schleunig sür einen
Spottpreis verkaufen und nach Deutschland abziehen. Ist das aber nicht noch
eher durch die Rücksicht auf einen etwaigen Kriegsfall zu verteidigen, als dix
Vertreibung jeuer vierzigtausend aus Preußen? Beides sind Anwendungen
des Satzes „Rußland für die Russen" n. s. w. Was nützt es, wenn heut¬
zutage alle Staatsmänner nnr eine Aufgabe zu haben scheinen: den Frieden
des Schwertes zu schützen, und dafür der Kampf der Völker auf das Gebiet
des innern Staatslebens verlegt wird? Was nützt es, einen Angriffskrieg
medios zu nennen, wenn man zugleich die nationale Gewaltthat in dem Schutze
des äußern Friedens gutheißt? „Haue deine Deutschen, ich will meine Russen
hauen," wäre die Lebensregel. der unsre Zeit mit ihrem gewaltthätigen Natio¬
nalismus zustrebt, eine Regel, die wir Deutschen am allerwenigsten im Munde
führe» sollten, eingedenk dessen, daß Millionen Deutscher in der ganzen Welt
verstreut sind, die nicht aufgewogen werden durch ein paar Millionen Polen
und andre Leute, die wir etwa „hauen" könnten. Aber der Staatsgedanke ist
vielfach bereits so übermächtig, richtiger so ausschweifend geworden, daß auch
ein national geschlossener Staat wie Dentschland, nach der Meinung jener An¬
hänger des gewaltthätigen Nationalismus bei uns, nur sür die in seineu
Grenzen lebenden Deutschen dn ist und sich um die draußen lebenden Volks¬
genossen nicht zu kümmern braucht. Wer nicht Rcichsangehöriger ist, geht
uns nichts an, wer Deutschland, wer den Reichsverband als Auswanderer
verläßt, geht uns nichts mehr an, ist uns ein Fremder — so denkt mancher
bei uns. Der Staat wird über die Nation gesetzt, und das bei einem Volke,
das ohnehin unter dem Mangel an nationalem Bewußtsein so schwer leidet,
wie kaum ein andres großes Kulturvolk; bei einem Volke, das nach der Mei¬
nung vieler satt ist an Raum und Besitz auf dieser Erde, und dabei trotz aller
Mühen außer Stande ist, den Zuwachs seiner Volksgenossen daheim zu ernähren
und ohne Zweifel immer weiter den Überschuß wird auswandern sehn müssen
über die Grenzen dieses Staats hinaus, der für ihn, „für den Deutschen"
allein Nieder geschaffen ist noch ausreicht.

Wir sind nicht satt, und wollen es hoffentlich auch niemals werde», denn


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/17>, abgerufen am 06.10.2024.