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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und Rußland

interkonfessionelle Kampf, der ganz und gar russisch ist, auch wenn Polen und
andre sich als Kondottiere dabei beteiligen. Seit zehn und mehr Jahren hetzt
die gesamte russische Tagespresse nach allen Seiten hin, am liebsten und hef¬
tigsten gegen Deutschland und Deutsche, wie es nur natürlich ist.

Deal was auch drüben und hüben die Gefühle sein mögen, in Wirk¬
lichkeit ist Deutschland heute der Hauptgegner Rußlands. Man sagt, es gebe
keine kämpfenden Interessen zwischen beiden Reichen, und bloß die Interessen
Dritter seien die Quelle, aus denen die Verhetzung gespeist werde. Uns dünkt
umgekehrt, daß erst seit 1870 gegensätzliche Interessen entstanden sind. Bis
dahin konnte Rußland jederzeit einen Generaladjutanten nach Deutschland
hereinsendeu mit Auftragen, die oft kaum von Befehlen zu unterscheiden waren;
und durch seinen Einfluß in Deutschland war es stark in ganz Europa. Heute
hört das Befehlen für Rußland an der deutschen Grenze auf, und den Verlust
der vorigen Machtstellung hat man drüben bisher nicht verschmerzt, trotz aller
Versicherungen, daß Rußland sich selbst vollkommen genüge und Europa ihm
gleichgiltig und entbehrlich sei. Ein für Rußland erfolgreicher Krieg würde
ihm den sehr realen Gewinn bringen, seinen Arm wieder in den deutschen
Dingen jederzeit fühlbar machen zu können; Rußland würde bis zum Rhein
hin gebieten auch ohne große territoriale Eroberung, und es würde Österreich
zu einem slawischen Vasallenstaat Herabdrücken. Der Weg nach Byzanz wäre
frei, und das Kosakischwerdeu nähme sür Europa seinen Anfang. Wenn an
der Donau und den Dardanellen die Interessen Österreichs, Englands, der
Mittelmeerländer in erster Reihe durch die russischen Ansprüche bedroht werde",
so stehen doch sicher in zweiter Reihe deutsche Interessen dort auf dem Spiel.
Und weil wir, indem wir die Interessen Österreichs dort vertreten, unsre eigne
Sache führen, deshalb wendet sich der politische Sinn der Russen mit Recht
vor allem gegen uns als gegen die militärisch wichtigern Gegner seiner
slawisch - orientalischen Ziele.

Freilich, wenn Nußland 1877 nicht vor Byzanz stehen geblieben wäre,
sondern deu letzten Schritt zur Erfüllung seiner alten Sehnsucht gewagt hätte,
dann hätten wir Deutschen geduldig der weitern Entwicklung der Sache zusehn
können, und sollte noch einmal ein russischer Heerführer am Goldner Horn
erscheinen, so wäre es für uns unmittelbar vorteilhafter, durch keine Verträge
gezwungen zu sein, die Waffen zu ergreifen. Ein russisch-türkischer Vertrag,
wie es der von Henkinr-Skelessi war, ein russisches Protektorat, wie es der
Sultan damals, 1833, dem Zaren Nikolaus anbot, und wie es Fürst Bis-
marck auch heute "och, wie es scheint, für möglich hält, würde zunächst andern
Leuten als uns den Kopf warm machen. Aber in dem Kampf um Byzanz,
der dann ausbräche, hätte Deutschland eine so ausschlaggebende Stellung, daß
Rußlands Handlungen von Berlin ans diktirt werden könnten. Und das ist
der Haken in dem Köder der deutschen Interesselosigkeit am Bosporus. Zu-


Deutschland und Rußland

interkonfessionelle Kampf, der ganz und gar russisch ist, auch wenn Polen und
andre sich als Kondottiere dabei beteiligen. Seit zehn und mehr Jahren hetzt
die gesamte russische Tagespresse nach allen Seiten hin, am liebsten und hef¬
tigsten gegen Deutschland und Deutsche, wie es nur natürlich ist.

Deal was auch drüben und hüben die Gefühle sein mögen, in Wirk¬
lichkeit ist Deutschland heute der Hauptgegner Rußlands. Man sagt, es gebe
keine kämpfenden Interessen zwischen beiden Reichen, und bloß die Interessen
Dritter seien die Quelle, aus denen die Verhetzung gespeist werde. Uns dünkt
umgekehrt, daß erst seit 1870 gegensätzliche Interessen entstanden sind. Bis
dahin konnte Rußland jederzeit einen Generaladjutanten nach Deutschland
hereinsendeu mit Auftragen, die oft kaum von Befehlen zu unterscheiden waren;
und durch seinen Einfluß in Deutschland war es stark in ganz Europa. Heute
hört das Befehlen für Rußland an der deutschen Grenze auf, und den Verlust
der vorigen Machtstellung hat man drüben bisher nicht verschmerzt, trotz aller
Versicherungen, daß Rußland sich selbst vollkommen genüge und Europa ihm
gleichgiltig und entbehrlich sei. Ein für Rußland erfolgreicher Krieg würde
ihm den sehr realen Gewinn bringen, seinen Arm wieder in den deutschen
Dingen jederzeit fühlbar machen zu können; Rußland würde bis zum Rhein
hin gebieten auch ohne große territoriale Eroberung, und es würde Österreich
zu einem slawischen Vasallenstaat Herabdrücken. Der Weg nach Byzanz wäre
frei, und das Kosakischwerdeu nähme sür Europa seinen Anfang. Wenn an
der Donau und den Dardanellen die Interessen Österreichs, Englands, der
Mittelmeerländer in erster Reihe durch die russischen Ansprüche bedroht werde»,
so stehen doch sicher in zweiter Reihe deutsche Interessen dort auf dem Spiel.
Und weil wir, indem wir die Interessen Österreichs dort vertreten, unsre eigne
Sache führen, deshalb wendet sich der politische Sinn der Russen mit Recht
vor allem gegen uns als gegen die militärisch wichtigern Gegner seiner
slawisch - orientalischen Ziele.

Freilich, wenn Nußland 1877 nicht vor Byzanz stehen geblieben wäre,
sondern deu letzten Schritt zur Erfüllung seiner alten Sehnsucht gewagt hätte,
dann hätten wir Deutschen geduldig der weitern Entwicklung der Sache zusehn
können, und sollte noch einmal ein russischer Heerführer am Goldner Horn
erscheinen, so wäre es für uns unmittelbar vorteilhafter, durch keine Verträge
gezwungen zu sein, die Waffen zu ergreifen. Ein russisch-türkischer Vertrag,
wie es der von Henkinr-Skelessi war, ein russisches Protektorat, wie es der
Sultan damals, 1833, dem Zaren Nikolaus anbot, und wie es Fürst Bis-
marck auch heute »och, wie es scheint, für möglich hält, würde zunächst andern
Leuten als uns den Kopf warm machen. Aber in dem Kampf um Byzanz,
der dann ausbräche, hätte Deutschland eine so ausschlaggebende Stellung, daß
Rußlands Handlungen von Berlin ans diktirt werden könnten. Und das ist
der Haken in dem Köder der deutschen Interesselosigkeit am Bosporus. Zu-


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[0014] Deutschland und Rußland interkonfessionelle Kampf, der ganz und gar russisch ist, auch wenn Polen und andre sich als Kondottiere dabei beteiligen. Seit zehn und mehr Jahren hetzt die gesamte russische Tagespresse nach allen Seiten hin, am liebsten und hef¬ tigsten gegen Deutschland und Deutsche, wie es nur natürlich ist. Deal was auch drüben und hüben die Gefühle sein mögen, in Wirk¬ lichkeit ist Deutschland heute der Hauptgegner Rußlands. Man sagt, es gebe keine kämpfenden Interessen zwischen beiden Reichen, und bloß die Interessen Dritter seien die Quelle, aus denen die Verhetzung gespeist werde. Uns dünkt umgekehrt, daß erst seit 1870 gegensätzliche Interessen entstanden sind. Bis dahin konnte Rußland jederzeit einen Generaladjutanten nach Deutschland hereinsendeu mit Auftragen, die oft kaum von Befehlen zu unterscheiden waren; und durch seinen Einfluß in Deutschland war es stark in ganz Europa. Heute hört das Befehlen für Rußland an der deutschen Grenze auf, und den Verlust der vorigen Machtstellung hat man drüben bisher nicht verschmerzt, trotz aller Versicherungen, daß Rußland sich selbst vollkommen genüge und Europa ihm gleichgiltig und entbehrlich sei. Ein für Rußland erfolgreicher Krieg würde ihm den sehr realen Gewinn bringen, seinen Arm wieder in den deutschen Dingen jederzeit fühlbar machen zu können; Rußland würde bis zum Rhein hin gebieten auch ohne große territoriale Eroberung, und es würde Österreich zu einem slawischen Vasallenstaat Herabdrücken. Der Weg nach Byzanz wäre frei, und das Kosakischwerdeu nähme sür Europa seinen Anfang. Wenn an der Donau und den Dardanellen die Interessen Österreichs, Englands, der Mittelmeerländer in erster Reihe durch die russischen Ansprüche bedroht werde», so stehen doch sicher in zweiter Reihe deutsche Interessen dort auf dem Spiel. Und weil wir, indem wir die Interessen Österreichs dort vertreten, unsre eigne Sache führen, deshalb wendet sich der politische Sinn der Russen mit Recht vor allem gegen uns als gegen die militärisch wichtigern Gegner seiner slawisch - orientalischen Ziele. Freilich, wenn Nußland 1877 nicht vor Byzanz stehen geblieben wäre, sondern deu letzten Schritt zur Erfüllung seiner alten Sehnsucht gewagt hätte, dann hätten wir Deutschen geduldig der weitern Entwicklung der Sache zusehn können, und sollte noch einmal ein russischer Heerführer am Goldner Horn erscheinen, so wäre es für uns unmittelbar vorteilhafter, durch keine Verträge gezwungen zu sein, die Waffen zu ergreifen. Ein russisch-türkischer Vertrag, wie es der von Henkinr-Skelessi war, ein russisches Protektorat, wie es der Sultan damals, 1833, dem Zaren Nikolaus anbot, und wie es Fürst Bis- marck auch heute »och, wie es scheint, für möglich hält, würde zunächst andern Leuten als uns den Kopf warm machen. Aber in dem Kampf um Byzanz, der dann ausbräche, hätte Deutschland eine so ausschlaggebende Stellung, daß Rußlands Handlungen von Berlin ans diktirt werden könnten. Und das ist der Haken in dem Köder der deutschen Interesselosigkeit am Bosporus. Zu-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/14>, abgerufen am 01.09.2024.