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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Oer gegenwärtige Stand der Arbeiterwohnungsfrage

Stempel der Wohlthätigkeit an der Stirn trage, von vornherein ablehnen und
auch bei dem Bau von Arbeiterwohnungen versuchen, Einrichtungen zu treffen,
die sich verzinsen.

Man hat es zunächst nach dem Muster der Engländer und der Ameri¬
kaner, die bei den Engländern in die Schule gegangen waren, mit Baugesell¬
schaften versucht, deren Ziel das eigne Heim des..Arbeiters mitten in einem
Garten war. Schon in den siebziger Jahren zählte man in England gegen
zweitausend dieser Gesellschaften mit mehreren hunderttausend Mitgliedern. In
den Vereinigten Staaten von Nordamerika aber giebt es nach ungefährer
Schätzung zur Zeit drei- bis fünftausend Gesellschaften mit einem stehenden
Gesamtkapital von dreihundert Millionen Dollars. Solche Erfolge lockten
bei uns begreiflicherweise zur Nachahmung. Doch liegen die Verhältnisse in
Deutschland ganz anders, außerdem schreckte der bis 1889 vorhandne Zwang
für jeden Gesellschafter, solidarisch für die Gesamtheit zu haften, viele und
namentlich die Bemitteltsten ab. Allein der Gedanke war einmal gegeben, und
so ist es denn nach vielen Versuche" gelungen, gemeinnützige Baugesellschaften
ins Leben zu rufen, die bezwecken, den Arbeitern und kleinen Leuten Häuser
zu bauen und deren Ankauf zu erleichtern. Nun hat man auf Grund sorg¬
fältiger Erwägungen behauptet, daß gewiß 95 Prozent sämtlicher Arbeiter
schwerlich oder gar nicht in der Lage sind, den Besitz eines eignen Hauses zu
riskiren. Das wäre ja schließlich noch zu ertragen. Giebt es doch auch uuter
den Mittelklassen eine ganze Zahl von Leuten, die sich den Luxus eines eignen
Besitztums versagen müssen. In den Großstädten wird das wohl zur Regel
werdeu, da hier die Spekulation den Preis für Grund und Boden so in die
Hohe getrieben hat, daß selbst an der Peripherie oder in Vororten der Ban
von kleinen Wohnhäusern erschwert und ihr Erwerb für den Arbeiter und
kleinen Mann nahezu unmöglich wird. Die seit 1889 entstandnen Baugesell¬
schaften mit beschränkter Haftpflicht haben sich daher immer mehr mit dem
Gedanken vertraut gemacht, neben Kaufhäusern auch Miethäuser zu errichten
und dementsprechend vom Bau kleiner Hänser zu großen Mietkasernen mit
zahlreichen kleinen Wohnungen überzugehen.

Gehen auf diese Weise Arbeitgeber und Arbeiter gleichzeitig vor, dann ist
zunächst Aussicht vorhanden, zu einem Preise, der dem Lohne des Arbeiters
entspricht, Wohnungen herzustellen. Es fragt sich nun, was geschehe" muß,
um die den Forderungen der Gesundheitslehre und der Sittlichkeit in gleicher
Weise hohnsprechenden Zustande, die vielen Arbeiterwohnungen in den Gro߬
städten anhaften, aus der Welt zu schaffe". Zweifellos tritt wie die Woh¬
nungsnot im allgemeinen, so auch der Mangel an gesunden und auskömm¬
lichen Wohmmge" zu billigen Preisen im besondern bei größern Städten in
weit höhern, Grade als in kleinen Orten und auf dem Lande hervor. Dafür
ist ein Aufsatz von dem Dozenten an der technischen Hochschule in Hannover,


Oer gegenwärtige Stand der Arbeiterwohnungsfrage

Stempel der Wohlthätigkeit an der Stirn trage, von vornherein ablehnen und
auch bei dem Bau von Arbeiterwohnungen versuchen, Einrichtungen zu treffen,
die sich verzinsen.

Man hat es zunächst nach dem Muster der Engländer und der Ameri¬
kaner, die bei den Engländern in die Schule gegangen waren, mit Baugesell¬
schaften versucht, deren Ziel das eigne Heim des..Arbeiters mitten in einem
Garten war. Schon in den siebziger Jahren zählte man in England gegen
zweitausend dieser Gesellschaften mit mehreren hunderttausend Mitgliedern. In
den Vereinigten Staaten von Nordamerika aber giebt es nach ungefährer
Schätzung zur Zeit drei- bis fünftausend Gesellschaften mit einem stehenden
Gesamtkapital von dreihundert Millionen Dollars. Solche Erfolge lockten
bei uns begreiflicherweise zur Nachahmung. Doch liegen die Verhältnisse in
Deutschland ganz anders, außerdem schreckte der bis 1889 vorhandne Zwang
für jeden Gesellschafter, solidarisch für die Gesamtheit zu haften, viele und
namentlich die Bemitteltsten ab. Allein der Gedanke war einmal gegeben, und
so ist es denn nach vielen Versuche» gelungen, gemeinnützige Baugesellschaften
ins Leben zu rufen, die bezwecken, den Arbeitern und kleinen Leuten Häuser
zu bauen und deren Ankauf zu erleichtern. Nun hat man auf Grund sorg¬
fältiger Erwägungen behauptet, daß gewiß 95 Prozent sämtlicher Arbeiter
schwerlich oder gar nicht in der Lage sind, den Besitz eines eignen Hauses zu
riskiren. Das wäre ja schließlich noch zu ertragen. Giebt es doch auch uuter
den Mittelklassen eine ganze Zahl von Leuten, die sich den Luxus eines eignen
Besitztums versagen müssen. In den Großstädten wird das wohl zur Regel
werdeu, da hier die Spekulation den Preis für Grund und Boden so in die
Hohe getrieben hat, daß selbst an der Peripherie oder in Vororten der Ban
von kleinen Wohnhäusern erschwert und ihr Erwerb für den Arbeiter und
kleinen Mann nahezu unmöglich wird. Die seit 1889 entstandnen Baugesell¬
schaften mit beschränkter Haftpflicht haben sich daher immer mehr mit dem
Gedanken vertraut gemacht, neben Kaufhäusern auch Miethäuser zu errichten
und dementsprechend vom Bau kleiner Hänser zu großen Mietkasernen mit
zahlreichen kleinen Wohnungen überzugehen.

Gehen auf diese Weise Arbeitgeber und Arbeiter gleichzeitig vor, dann ist
zunächst Aussicht vorhanden, zu einem Preise, der dem Lohne des Arbeiters
entspricht, Wohnungen herzustellen. Es fragt sich nun, was geschehe» muß,
um die den Forderungen der Gesundheitslehre und der Sittlichkeit in gleicher
Weise hohnsprechenden Zustande, die vielen Arbeiterwohnungen in den Gro߬
städten anhaften, aus der Welt zu schaffe». Zweifellos tritt wie die Woh¬
nungsnot im allgemeinen, so auch der Mangel an gesunden und auskömm¬
lichen Wohmmge» zu billigen Preisen im besondern bei größern Städten in
weit höhern, Grade als in kleinen Orten und auf dem Lande hervor. Dafür
ist ein Aufsatz von dem Dozenten an der technischen Hochschule in Hannover,


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[0124] Oer gegenwärtige Stand der Arbeiterwohnungsfrage Stempel der Wohlthätigkeit an der Stirn trage, von vornherein ablehnen und auch bei dem Bau von Arbeiterwohnungen versuchen, Einrichtungen zu treffen, die sich verzinsen. Man hat es zunächst nach dem Muster der Engländer und der Ameri¬ kaner, die bei den Engländern in die Schule gegangen waren, mit Baugesell¬ schaften versucht, deren Ziel das eigne Heim des..Arbeiters mitten in einem Garten war. Schon in den siebziger Jahren zählte man in England gegen zweitausend dieser Gesellschaften mit mehreren hunderttausend Mitgliedern. In den Vereinigten Staaten von Nordamerika aber giebt es nach ungefährer Schätzung zur Zeit drei- bis fünftausend Gesellschaften mit einem stehenden Gesamtkapital von dreihundert Millionen Dollars. Solche Erfolge lockten bei uns begreiflicherweise zur Nachahmung. Doch liegen die Verhältnisse in Deutschland ganz anders, außerdem schreckte der bis 1889 vorhandne Zwang für jeden Gesellschafter, solidarisch für die Gesamtheit zu haften, viele und namentlich die Bemitteltsten ab. Allein der Gedanke war einmal gegeben, und so ist es denn nach vielen Versuche» gelungen, gemeinnützige Baugesellschaften ins Leben zu rufen, die bezwecken, den Arbeitern und kleinen Leuten Häuser zu bauen und deren Ankauf zu erleichtern. Nun hat man auf Grund sorg¬ fältiger Erwägungen behauptet, daß gewiß 95 Prozent sämtlicher Arbeiter schwerlich oder gar nicht in der Lage sind, den Besitz eines eignen Hauses zu riskiren. Das wäre ja schließlich noch zu ertragen. Giebt es doch auch uuter den Mittelklassen eine ganze Zahl von Leuten, die sich den Luxus eines eignen Besitztums versagen müssen. In den Großstädten wird das wohl zur Regel werdeu, da hier die Spekulation den Preis für Grund und Boden so in die Hohe getrieben hat, daß selbst an der Peripherie oder in Vororten der Ban von kleinen Wohnhäusern erschwert und ihr Erwerb für den Arbeiter und kleinen Mann nahezu unmöglich wird. Die seit 1889 entstandnen Baugesell¬ schaften mit beschränkter Haftpflicht haben sich daher immer mehr mit dem Gedanken vertraut gemacht, neben Kaufhäusern auch Miethäuser zu errichten und dementsprechend vom Bau kleiner Hänser zu großen Mietkasernen mit zahlreichen kleinen Wohnungen überzugehen. Gehen auf diese Weise Arbeitgeber und Arbeiter gleichzeitig vor, dann ist zunächst Aussicht vorhanden, zu einem Preise, der dem Lohne des Arbeiters entspricht, Wohnungen herzustellen. Es fragt sich nun, was geschehe» muß, um die den Forderungen der Gesundheitslehre und der Sittlichkeit in gleicher Weise hohnsprechenden Zustande, die vielen Arbeiterwohnungen in den Gro߬ städten anhaften, aus der Welt zu schaffe». Zweifellos tritt wie die Woh¬ nungsnot im allgemeinen, so auch der Mangel an gesunden und auskömm¬ lichen Wohmmge» zu billigen Preisen im besondern bei größern Städten in weit höhern, Grade als in kleinen Orten und auf dem Lande hervor. Dafür ist ein Aufsatz von dem Dozenten an der technischen Hochschule in Hannover,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/124>, abgerufen am 01.09.2024.