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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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schworne falsche Angaben über das Alter der Kinder zu umgehn." Was die
Kirche anlangt, so habe Gott durch den Gang der Weltgeschichte gegen sie und
für den Staat entschieden. Wenn sie sich jetzt als Vorkämpferin der Eltern¬
rechte ausspiele, so sei das nur eine heuchlerische Kriegslist; so lange sie die
Macht gehabt, habe sie sich um keine Elternrechte gekümmert. Übrigens schätzt
Gronlund die katholische Kirche sehr hoch; er bewundert ihre Verfassung, die
dem Genosfenschaftsstaate zum Vorbild dienen könne, und lobt ihren sozialen
Geist im Gegensatz zu dem unsozialen, kalten und lieblosen Kalvinistengeiste.
Von der heutigen Sittlichkeit, das Wort im engern Sinne genommen, denkt
er sehr gering. Er hält die konventionelle Moral für Unmoral und behauptet,
daß die herrschenden Klassen heute wieder so verderbt seien wie im kaiserlichen
Rom; nur die höhere Sittlichkeit der heutigen Arbeiter, die hoch über dem
Sklavengesindel Altrvms stünden, unterscheide die heutige Welt von jener alten.
Wenn sich die Engländer für besser halten als die Franzosen, so sei das
Heuchelei; der einzige Unterschied bestehe darin, daß die Franzosen -- er hätte
sagen können: die Romanen -- aufrichtiger seien.

Wie aus der wohlorganisirten Gesellschaft die Blüte echter Moralität,
so wird aus dieser wiederum die höchste Blüte der Menschennatur, die wahre
Religion hervorsprießen; eine von den dogmatischen Fesseln befreite Religion,
die nicht zu dem selbstsüchtigen Zwecke geübt wird, die eigne Seele zu retten.
Nicht weil sie Sozialisten seien, meint Gronlnnd, seien die deutschen und fran¬
zösischen Sozialisten Atheisten, sondern weil sie Deutsche und Franzosen seien
(dem Nordamerikaner gilt jeder Deutsche als Atheist, so lange er nicht das
Gegenteil bewiesen hat). Der Glaube an Gott und an die persönliche Un¬
sterblichkeit des Menschengeistes seien notwendige Ergebnisse der Entwicklung.
Der gegenwärtige anarchisch-satanische Zustand entschuldige zur Genüge die
vorübergehenden Verirrungen der Vaterlandslosigkeit und des Atheismus der
einen, sowie des Pessimismus der andern. Denn der das Vaterland ver¬
tretende Staat unterdrücke die Massen des arbeitenden Volkes, und die gött¬
liche Weltordnung scheine Bankerott gemacht zu haben. Aber ebeu durch die
Thatsache, daß trotz aller Nötigung und Versuchung zum Bösen so viele
Menschen noch so gut geblieben seien, sei Satan geschlagen, und nachdem die
göttliche Ordnung hergestellt worden sein werde, werde auch Gott allgemein
anerkannt und die Unsterblichkeit als Bedürfnis empfunden werden. Denn
wo das Leben nichts mehr wert sei, da werde die Vernichtung nicht als ein
Unglück gefürchtet, sondern als ein Glück ersehnt. Wenn sich dagegen jeder
im Hinblick auf die Güter, die der Tod raubt oder zu rauben scheint, und zu
denen auch seine eigne Persönlichkeit gehört, werde sagen müssen: wie bitter
ist ooch der Tod! dann werde er überzeugt sein, daß dieser unendlich wert¬
volle Lebensinhalt nicht dem Untergange geweiht sein könne, sondern zu ewiger
Dauer bestimmt sein müsse. Gronlund stellt eine Reihe interessanter Unter-


schworne falsche Angaben über das Alter der Kinder zu umgehn." Was die
Kirche anlangt, so habe Gott durch den Gang der Weltgeschichte gegen sie und
für den Staat entschieden. Wenn sie sich jetzt als Vorkämpferin der Eltern¬
rechte ausspiele, so sei das nur eine heuchlerische Kriegslist; so lange sie die
Macht gehabt, habe sie sich um keine Elternrechte gekümmert. Übrigens schätzt
Gronlund die katholische Kirche sehr hoch; er bewundert ihre Verfassung, die
dem Genosfenschaftsstaate zum Vorbild dienen könne, und lobt ihren sozialen
Geist im Gegensatz zu dem unsozialen, kalten und lieblosen Kalvinistengeiste.
Von der heutigen Sittlichkeit, das Wort im engern Sinne genommen, denkt
er sehr gering. Er hält die konventionelle Moral für Unmoral und behauptet,
daß die herrschenden Klassen heute wieder so verderbt seien wie im kaiserlichen
Rom; nur die höhere Sittlichkeit der heutigen Arbeiter, die hoch über dem
Sklavengesindel Altrvms stünden, unterscheide die heutige Welt von jener alten.
Wenn sich die Engländer für besser halten als die Franzosen, so sei das
Heuchelei; der einzige Unterschied bestehe darin, daß die Franzosen — er hätte
sagen können: die Romanen — aufrichtiger seien.

Wie aus der wohlorganisirten Gesellschaft die Blüte echter Moralität,
so wird aus dieser wiederum die höchste Blüte der Menschennatur, die wahre
Religion hervorsprießen; eine von den dogmatischen Fesseln befreite Religion,
die nicht zu dem selbstsüchtigen Zwecke geübt wird, die eigne Seele zu retten.
Nicht weil sie Sozialisten seien, meint Gronlnnd, seien die deutschen und fran¬
zösischen Sozialisten Atheisten, sondern weil sie Deutsche und Franzosen seien
(dem Nordamerikaner gilt jeder Deutsche als Atheist, so lange er nicht das
Gegenteil bewiesen hat). Der Glaube an Gott und an die persönliche Un¬
sterblichkeit des Menschengeistes seien notwendige Ergebnisse der Entwicklung.
Der gegenwärtige anarchisch-satanische Zustand entschuldige zur Genüge die
vorübergehenden Verirrungen der Vaterlandslosigkeit und des Atheismus der
einen, sowie des Pessimismus der andern. Denn der das Vaterland ver¬
tretende Staat unterdrücke die Massen des arbeitenden Volkes, und die gött¬
liche Weltordnung scheine Bankerott gemacht zu haben. Aber ebeu durch die
Thatsache, daß trotz aller Nötigung und Versuchung zum Bösen so viele
Menschen noch so gut geblieben seien, sei Satan geschlagen, und nachdem die
göttliche Ordnung hergestellt worden sein werde, werde auch Gott allgemein
anerkannt und die Unsterblichkeit als Bedürfnis empfunden werden. Denn
wo das Leben nichts mehr wert sei, da werde die Vernichtung nicht als ein
Unglück gefürchtet, sondern als ein Glück ersehnt. Wenn sich dagegen jeder
im Hinblick auf die Güter, die der Tod raubt oder zu rauben scheint, und zu
denen auch seine eigne Persönlichkeit gehört, werde sagen müssen: wie bitter
ist ooch der Tod! dann werde er überzeugt sein, daß dieser unendlich wert¬
volle Lebensinhalt nicht dem Untergange geweiht sein könne, sondern zu ewiger
Dauer bestimmt sein müsse. Gronlund stellt eine Reihe interessanter Unter-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/83>, abgerufen am 23.07.2024.