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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Die alte Geschichte von der alten Geschichte

seits die geliebte alte Geschichte, die neuerdings von der Abiturientenprüfung
ausgeschlossen worden ist, wieder in die Prüfung einzuschmuggeln.

Trotz aller neuern Verfügungen hangt der Geschichtsunterricht doch noch
immer an der alten Überlieferung, daß für die geschichtliche Auffassung die
Geschichte des griechischen und römischen Altertums von größtem Wert sei.
Diese Neigung der Lehrer an den höhern Schulen hängt mit der leidigen
Thatsache zusammen, daß es uoch immer an Fachlehrern für den Geschichts¬
unterricht fehlt. Nur die Gymnasien größerer Städte haben in ihren Lehrer¬
kollegien Historiker von Fach, in der Mehrzahl der höhern Unterrichtsanstalten
sind einseitig philologisch gebildete Lehrer nuserwählt, aber nur selteu berufen,
den Schülern die Kenntnis der Geschichte zu vermitteln, die dünn freilich von
jener Erkenntnis sehr weit entfernt ist, die, wie die Verordnung betont, "die
Begebenheiten im Zusammenhange ihrer Ursachen und Wirkungen erkennen
lehren soll."

Nur der Historiker von Fach (böse Zungen sagen, auch dieser nicht
immer) wird die Überzeugung hege" und weiter verbreiten, daß die Wurzeln
unsrer heutigen Entwicklung nicht in der Zeit der Griechen und Römer liegen,
sondern daß sie im Ausgange des Mittelalters, im sechzehnten Jahrhundert,
und sodann wesentlich in dem Zeitraum zu suchen sind, der den Ausgang des
achtzehnten und den Beginn unsers Jahrhunderts umfaßt. Nur wenn mau
die philologische Befangenheit abstreift und vorurteilslos genug ist, im Ge¬
schichtsunterricht das griechisch-römische Altertum vom objektiv geschichtlichen
Standpunkte zu betrachten, statt es als unübertroffnes Vorbild zu verhimmeln,
wird mau sich zu dieser Überzeugung aufschwingen.

In der Schule geht es der Geschichte meist wie der Antike. Die Schüler
lernen selten den Geist des Altertums, seltner noch den Geist der Geschichte
erkennen und begreifen. Noch immer ist trotz aller gut gemeinten Reformen
und Verordnungen die Unterrichtsmethode formalistisch. Sie bemüht sich, die
Frucht des Geistes herauszutreiben und das leere Stroh der Grammatikalien
und Geschichtstabellen zu dreschen. Gerade in letzterer Beziehung kommt die
neueste Prüfungsordnung den Zeitforderungen verständig entgegen, wenn sie
ausdrücklich betont, daß in der Geschichtsprüfnng "mehr aus deu Erweis des
innern Verständnisses und der geistigen Aneignung als auf rein gedächtnis-
mäßiges Wissen äußerer Daten Gewicht zu legen" sei. Aber es dürste noch
lange dauern, bis der Wortlaut der ministeriellen Verordnung in ihren Geist
umgesetzt werdeu wird. Der neue Erlaß des Ministers giebt den besten Be¬
weis dafür. Die verordnungswidrigen Geschichtswiederholungen (das früher
gebrauchte Fremdwort RePetitionen macht den Begriff geläufiger), die der
Minister rügt, stecken den Lehrern der alten Schule, die dem Schüler Ver¬
ständnis und Liebe für die Geisteswissenschaften beibringen sollen, zu tief im
Blute. Der Zopf der alten Unterrichtsmethode wird durch Verordnungen


Die alte Geschichte von der alten Geschichte

seits die geliebte alte Geschichte, die neuerdings von der Abiturientenprüfung
ausgeschlossen worden ist, wieder in die Prüfung einzuschmuggeln.

Trotz aller neuern Verfügungen hangt der Geschichtsunterricht doch noch
immer an der alten Überlieferung, daß für die geschichtliche Auffassung die
Geschichte des griechischen und römischen Altertums von größtem Wert sei.
Diese Neigung der Lehrer an den höhern Schulen hängt mit der leidigen
Thatsache zusammen, daß es uoch immer an Fachlehrern für den Geschichts¬
unterricht fehlt. Nur die Gymnasien größerer Städte haben in ihren Lehrer¬
kollegien Historiker von Fach, in der Mehrzahl der höhern Unterrichtsanstalten
sind einseitig philologisch gebildete Lehrer nuserwählt, aber nur selteu berufen,
den Schülern die Kenntnis der Geschichte zu vermitteln, die dünn freilich von
jener Erkenntnis sehr weit entfernt ist, die, wie die Verordnung betont, „die
Begebenheiten im Zusammenhange ihrer Ursachen und Wirkungen erkennen
lehren soll."

Nur der Historiker von Fach (böse Zungen sagen, auch dieser nicht
immer) wird die Überzeugung hege« und weiter verbreiten, daß die Wurzeln
unsrer heutigen Entwicklung nicht in der Zeit der Griechen und Römer liegen,
sondern daß sie im Ausgange des Mittelalters, im sechzehnten Jahrhundert,
und sodann wesentlich in dem Zeitraum zu suchen sind, der den Ausgang des
achtzehnten und den Beginn unsers Jahrhunderts umfaßt. Nur wenn mau
die philologische Befangenheit abstreift und vorurteilslos genug ist, im Ge¬
schichtsunterricht das griechisch-römische Altertum vom objektiv geschichtlichen
Standpunkte zu betrachten, statt es als unübertroffnes Vorbild zu verhimmeln,
wird mau sich zu dieser Überzeugung aufschwingen.

In der Schule geht es der Geschichte meist wie der Antike. Die Schüler
lernen selten den Geist des Altertums, seltner noch den Geist der Geschichte
erkennen und begreifen. Noch immer ist trotz aller gut gemeinten Reformen
und Verordnungen die Unterrichtsmethode formalistisch. Sie bemüht sich, die
Frucht des Geistes herauszutreiben und das leere Stroh der Grammatikalien
und Geschichtstabellen zu dreschen. Gerade in letzterer Beziehung kommt die
neueste Prüfungsordnung den Zeitforderungen verständig entgegen, wenn sie
ausdrücklich betont, daß in der Geschichtsprüfnng „mehr aus deu Erweis des
innern Verständnisses und der geistigen Aneignung als auf rein gedächtnis-
mäßiges Wissen äußerer Daten Gewicht zu legen" sei. Aber es dürste noch
lange dauern, bis der Wortlaut der ministeriellen Verordnung in ihren Geist
umgesetzt werdeu wird. Der neue Erlaß des Ministers giebt den besten Be¬
weis dafür. Die verordnungswidrigen Geschichtswiederholungen (das früher
gebrauchte Fremdwort RePetitionen macht den Begriff geläufiger), die der
Minister rügt, stecken den Lehrern der alten Schule, die dem Schüler Ver¬
ständnis und Liebe für die Geisteswissenschaften beibringen sollen, zu tief im
Blute. Der Zopf der alten Unterrichtsmethode wird durch Verordnungen


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[0643] Die alte Geschichte von der alten Geschichte seits die geliebte alte Geschichte, die neuerdings von der Abiturientenprüfung ausgeschlossen worden ist, wieder in die Prüfung einzuschmuggeln. Trotz aller neuern Verfügungen hangt der Geschichtsunterricht doch noch immer an der alten Überlieferung, daß für die geschichtliche Auffassung die Geschichte des griechischen und römischen Altertums von größtem Wert sei. Diese Neigung der Lehrer an den höhern Schulen hängt mit der leidigen Thatsache zusammen, daß es uoch immer an Fachlehrern für den Geschichts¬ unterricht fehlt. Nur die Gymnasien größerer Städte haben in ihren Lehrer¬ kollegien Historiker von Fach, in der Mehrzahl der höhern Unterrichtsanstalten sind einseitig philologisch gebildete Lehrer nuserwählt, aber nur selteu berufen, den Schülern die Kenntnis der Geschichte zu vermitteln, die dünn freilich von jener Erkenntnis sehr weit entfernt ist, die, wie die Verordnung betont, „die Begebenheiten im Zusammenhange ihrer Ursachen und Wirkungen erkennen lehren soll." Nur der Historiker von Fach (böse Zungen sagen, auch dieser nicht immer) wird die Überzeugung hege« und weiter verbreiten, daß die Wurzeln unsrer heutigen Entwicklung nicht in der Zeit der Griechen und Römer liegen, sondern daß sie im Ausgange des Mittelalters, im sechzehnten Jahrhundert, und sodann wesentlich in dem Zeitraum zu suchen sind, der den Ausgang des achtzehnten und den Beginn unsers Jahrhunderts umfaßt. Nur wenn mau die philologische Befangenheit abstreift und vorurteilslos genug ist, im Ge¬ schichtsunterricht das griechisch-römische Altertum vom objektiv geschichtlichen Standpunkte zu betrachten, statt es als unübertroffnes Vorbild zu verhimmeln, wird mau sich zu dieser Überzeugung aufschwingen. In der Schule geht es der Geschichte meist wie der Antike. Die Schüler lernen selten den Geist des Altertums, seltner noch den Geist der Geschichte erkennen und begreifen. Noch immer ist trotz aller gut gemeinten Reformen und Verordnungen die Unterrichtsmethode formalistisch. Sie bemüht sich, die Frucht des Geistes herauszutreiben und das leere Stroh der Grammatikalien und Geschichtstabellen zu dreschen. Gerade in letzterer Beziehung kommt die neueste Prüfungsordnung den Zeitforderungen verständig entgegen, wenn sie ausdrücklich betont, daß in der Geschichtsprüfnng „mehr aus deu Erweis des innern Verständnisses und der geistigen Aneignung als auf rein gedächtnis- mäßiges Wissen äußerer Daten Gewicht zu legen" sei. Aber es dürste noch lange dauern, bis der Wortlaut der ministeriellen Verordnung in ihren Geist umgesetzt werdeu wird. Der neue Erlaß des Ministers giebt den besten Be¬ weis dafür. Die verordnungswidrigen Geschichtswiederholungen (das früher gebrauchte Fremdwort RePetitionen macht den Begriff geläufiger), die der Minister rügt, stecken den Lehrern der alten Schule, die dem Schüler Ver¬ ständnis und Liebe für die Geisteswissenschaften beibringen sollen, zu tief im Blute. Der Zopf der alten Unterrichtsmethode wird durch Verordnungen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/643>, abgerufen am 03.07.2024.