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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Der Rückgang der französischen Bevölkerung

Vermindert? Frankreich aber hat gar nicht Muße dazu, sich der Betrachtung
darüber hinzugeben, was in dieser Erscheinung Ursache und was Wirkung sei,
oder welcher Zusammenhang überhaupt gegeben sei, sondern diese Frage ist
bereits wieder abgelöst durch eine weit dringendere, durch die Frage, ob Frank¬
reich unter solchen Umständen die Hoffnung hegen könne, seine heutige Macht¬
stellung zu wahren und seine Bestrebungen für die Zukunft der Nation auf¬
recht zu erhalten. Aber auch für alle andern Staaten wird ein gewisses Maß
der Dichtigkeit der Bevölkerung, eine gewisse Zahl der Überschüsse der Geburten
über die Sterbefülle als eine unerläßliche Bedingung für die dauernde Er¬
haltung einer bestimmten Heereshöhe anerkannt werden müssen.

In Frankreich ist man seit geraumer Zeit über die Ergebnisse der sta¬
tistischen Zählungen sehr beunruhigt. Nachdem sich seit einer Reihe von
Jahren in verschleimen Departements Überschüsse der Todesfälle über die Ge¬
burten ergeben hatten, ist für das Jahr 1890 dieselbe Erscheinung für das
ganze Land zu Tage getreten, und die Statistiker befürchten für 1892 ein ähn¬
liches Ergebnis. Inzwischen hat auch die Volkszählung von 1891 bedenkliche
Störungen im Aufbau der Bevölkerung enthüllt, und überhaupt macht sich
in den Zahlen eine bedenkliche Unstetigkeit bemerkbar.

Bei solcher Lage der Dinge dürfte es von Interesse sein, die Meinung
eines hervorragenden französischen Statistikers und Demographen, des Aka¬
demikers E. Levasfenr, zu hören, der durch seine geschichtlichen und volks¬
wirtschaftlichen Arbeiten, durch seine Thätigkeit bei internationalen Kon¬
gressen u. s. w. auch außerhalb Frankreichs rühmlichst bekannt ist, und der
vor kurzem sein dreibändiges Werk: Population lrg,u<M8ö abgeschlossen hat,
das Ergebnis einer Arbeit von zwanzig Jahren, durch das wir ein um¬
fassendes Bild der Lebensbedingungen des französischen Volks erhalten.

Levasfenr verneint die Möglichkeit, die Lebensgesetze eines Volks oder der
Menschheit in eine kurze Formel zu fassen, wie es Malthus gethan hat, und
versucht die wichtigsten Erfahrungssätze in folgender Weise auszudrücken:

1. Jederzeit und überall bilden die im Lande gezognen oder durch Tausch
erworbnen Güter eine Schranke für die Bevölkerung. Für diese Wahrheit läßt
sich aber keine mathematische Formel aufstellen, sondern man kann zur nähern Be¬
stimmung mir folgendes sagen.

2. Diese Schranke verschiebt sich je nach der Menge der von einem Volke
erzeugten Güter und nach dem durchschnittlichen Bedarf der Einzelnen, d. h. wenn
ein Volk mehr Lebensmittel oder Tauschwerte schafft, kann es eine größere Menge
von Menschen auf demselben Boden ernähren, und wenn jeder mehr verzehrt, so
mindert sich diese Zahl.

3. Jedes Volk hat eine Neigung, sich durch Geburten zu vermehren, wie eS
eine Neigung hat, Güter zu schaffen; es läßt sich aber nicht sagen, welche dieser
Neigungen von Natur aus vorwiegt. Herrscht die erstere Neigung, so verarmt
das Volk, und gerade die Ärmsten leiden dann um meisten; herrscht die zweite
Neigung, so wächst der Wohlstand.


Der Rückgang der französischen Bevölkerung

Vermindert? Frankreich aber hat gar nicht Muße dazu, sich der Betrachtung
darüber hinzugeben, was in dieser Erscheinung Ursache und was Wirkung sei,
oder welcher Zusammenhang überhaupt gegeben sei, sondern diese Frage ist
bereits wieder abgelöst durch eine weit dringendere, durch die Frage, ob Frank¬
reich unter solchen Umständen die Hoffnung hegen könne, seine heutige Macht¬
stellung zu wahren und seine Bestrebungen für die Zukunft der Nation auf¬
recht zu erhalten. Aber auch für alle andern Staaten wird ein gewisses Maß
der Dichtigkeit der Bevölkerung, eine gewisse Zahl der Überschüsse der Geburten
über die Sterbefülle als eine unerläßliche Bedingung für die dauernde Er¬
haltung einer bestimmten Heereshöhe anerkannt werden müssen.

In Frankreich ist man seit geraumer Zeit über die Ergebnisse der sta¬
tistischen Zählungen sehr beunruhigt. Nachdem sich seit einer Reihe von
Jahren in verschleimen Departements Überschüsse der Todesfälle über die Ge¬
burten ergeben hatten, ist für das Jahr 1890 dieselbe Erscheinung für das
ganze Land zu Tage getreten, und die Statistiker befürchten für 1892 ein ähn¬
liches Ergebnis. Inzwischen hat auch die Volkszählung von 1891 bedenkliche
Störungen im Aufbau der Bevölkerung enthüllt, und überhaupt macht sich
in den Zahlen eine bedenkliche Unstetigkeit bemerkbar.

Bei solcher Lage der Dinge dürfte es von Interesse sein, die Meinung
eines hervorragenden französischen Statistikers und Demographen, des Aka¬
demikers E. Levasfenr, zu hören, der durch seine geschichtlichen und volks¬
wirtschaftlichen Arbeiten, durch seine Thätigkeit bei internationalen Kon¬
gressen u. s. w. auch außerhalb Frankreichs rühmlichst bekannt ist, und der
vor kurzem sein dreibändiges Werk: Population lrg,u<M8ö abgeschlossen hat,
das Ergebnis einer Arbeit von zwanzig Jahren, durch das wir ein um¬
fassendes Bild der Lebensbedingungen des französischen Volks erhalten.

Levasfenr verneint die Möglichkeit, die Lebensgesetze eines Volks oder der
Menschheit in eine kurze Formel zu fassen, wie es Malthus gethan hat, und
versucht die wichtigsten Erfahrungssätze in folgender Weise auszudrücken:

1. Jederzeit und überall bilden die im Lande gezognen oder durch Tausch
erworbnen Güter eine Schranke für die Bevölkerung. Für diese Wahrheit läßt
sich aber keine mathematische Formel aufstellen, sondern man kann zur nähern Be¬
stimmung mir folgendes sagen.

2. Diese Schranke verschiebt sich je nach der Menge der von einem Volke
erzeugten Güter und nach dem durchschnittlichen Bedarf der Einzelnen, d. h. wenn
ein Volk mehr Lebensmittel oder Tauschwerte schafft, kann es eine größere Menge
von Menschen auf demselben Boden ernähren, und wenn jeder mehr verzehrt, so
mindert sich diese Zahl.

3. Jedes Volk hat eine Neigung, sich durch Geburten zu vermehren, wie eS
eine Neigung hat, Güter zu schaffen; es läßt sich aber nicht sagen, welche dieser
Neigungen von Natur aus vorwiegt. Herrscht die erstere Neigung, so verarmt
das Volk, und gerade die Ärmsten leiden dann um meisten; herrscht die zweite
Neigung, so wächst der Wohlstand.


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[0563] Der Rückgang der französischen Bevölkerung Vermindert? Frankreich aber hat gar nicht Muße dazu, sich der Betrachtung darüber hinzugeben, was in dieser Erscheinung Ursache und was Wirkung sei, oder welcher Zusammenhang überhaupt gegeben sei, sondern diese Frage ist bereits wieder abgelöst durch eine weit dringendere, durch die Frage, ob Frank¬ reich unter solchen Umständen die Hoffnung hegen könne, seine heutige Macht¬ stellung zu wahren und seine Bestrebungen für die Zukunft der Nation auf¬ recht zu erhalten. Aber auch für alle andern Staaten wird ein gewisses Maß der Dichtigkeit der Bevölkerung, eine gewisse Zahl der Überschüsse der Geburten über die Sterbefülle als eine unerläßliche Bedingung für die dauernde Er¬ haltung einer bestimmten Heereshöhe anerkannt werden müssen. In Frankreich ist man seit geraumer Zeit über die Ergebnisse der sta¬ tistischen Zählungen sehr beunruhigt. Nachdem sich seit einer Reihe von Jahren in verschleimen Departements Überschüsse der Todesfälle über die Ge¬ burten ergeben hatten, ist für das Jahr 1890 dieselbe Erscheinung für das ganze Land zu Tage getreten, und die Statistiker befürchten für 1892 ein ähn¬ liches Ergebnis. Inzwischen hat auch die Volkszählung von 1891 bedenkliche Störungen im Aufbau der Bevölkerung enthüllt, und überhaupt macht sich in den Zahlen eine bedenkliche Unstetigkeit bemerkbar. Bei solcher Lage der Dinge dürfte es von Interesse sein, die Meinung eines hervorragenden französischen Statistikers und Demographen, des Aka¬ demikers E. Levasfenr, zu hören, der durch seine geschichtlichen und volks¬ wirtschaftlichen Arbeiten, durch seine Thätigkeit bei internationalen Kon¬ gressen u. s. w. auch außerhalb Frankreichs rühmlichst bekannt ist, und der vor kurzem sein dreibändiges Werk: Population lrg,u<M8ö abgeschlossen hat, das Ergebnis einer Arbeit von zwanzig Jahren, durch das wir ein um¬ fassendes Bild der Lebensbedingungen des französischen Volks erhalten. Levasfenr verneint die Möglichkeit, die Lebensgesetze eines Volks oder der Menschheit in eine kurze Formel zu fassen, wie es Malthus gethan hat, und versucht die wichtigsten Erfahrungssätze in folgender Weise auszudrücken: 1. Jederzeit und überall bilden die im Lande gezognen oder durch Tausch erworbnen Güter eine Schranke für die Bevölkerung. Für diese Wahrheit läßt sich aber keine mathematische Formel aufstellen, sondern man kann zur nähern Be¬ stimmung mir folgendes sagen. 2. Diese Schranke verschiebt sich je nach der Menge der von einem Volke erzeugten Güter und nach dem durchschnittlichen Bedarf der Einzelnen, d. h. wenn ein Volk mehr Lebensmittel oder Tauschwerte schafft, kann es eine größere Menge von Menschen auf demselben Boden ernähren, und wenn jeder mehr verzehrt, so mindert sich diese Zahl. 3. Jedes Volk hat eine Neigung, sich durch Geburten zu vermehren, wie eS eine Neigung hat, Güter zu schaffen; es läßt sich aber nicht sagen, welche dieser Neigungen von Natur aus vorwiegt. Herrscht die erstere Neigung, so verarmt das Volk, und gerade die Ärmsten leiden dann um meisten; herrscht die zweite Neigung, so wächst der Wohlstand.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/563>, abgerufen am 22.12.2024.