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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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müssen." Und weiterhin: "Wie sollen wir uns die Lebensgeschichte einer Art
überhaupt möglich denken, bei der eine solche Summation von Ubnngsanlagen sich
vollzieht, daß schließlich eine so verwickelte Folge von Justiukthandlungen wie die
der Raupe des Nachtpfauenauges entsteht?" Der Satz, mit dem er die Erörterung
der Vererbungstheorie schließt: "Aber annehmen dürfen wir nach Maßgabe der
allgemeinen psychischen Eigenschaften mit Bestimmtheit, daß überall äußere Lebens¬
bedingungen und von Gefühlen ausgehende Willeushaudluugeu in ihrer innigen
Verbindung die Ausbildung ursprünglicher Lebensgewohnheiten bestimmt haben,"
dieser Satz kaun doch wohl nur als ein verhüllter Verzicht auf die Ertlnruug
eingesehen werden. Dabei hat Wunde noch nicht einmal erwähnt, daß die Ver¬
erbung, und zwar uicht bloß die Vererbung erworbner Gewohnheiten, sondern die
Vererbung an sich und überhaupt das Wunder aller Wunder ist. Wie können
Gehirnleitnngen, Naseufvrmcu oder beliebige untre Körperteile, Einrichtungen und
Eigenschaften vererbt werden durch die mikroskopische Eizelle, die weder ein Ge¬
hirn, noch eine Nase, noch sonst etwas dergleichen enthält? Man muß Herrn
Hnctel den Ruhm lassen, daß er den Mut gehabt hat, sich an dieses Wunder
heranzuwagen und das Geheimnis durch ein andres zu erkläre", indem er den
Zellen Gedächtnis zuspricht. Gewiß ein köstlicher Fall jeuer Ironie, mit der sich
der Menschengeist selbst zu verspotte:: Pflegt, wenn er um Ende seiner Weisheit
angelangt ist! Nachdem sich die Naturwissenschaft so unendlich viel Mühe gegeben
hat, uns zu beweisen, daß keinerlei geistige Leistung, sei es eine Erinnerung oder
ein Urteil oder Entschluß, möglich sei ohne ein Gehirn oder wenigstens einen
Nervenapparat, und zwar ohne einen solchen von entsprechender Größe und Struktur,
wird zuletzt einer einzelnen Zelle Gedächtnis zugeschrieben, und was für ein Ge¬
dächtnis! Ein Gedächtnis, dem zugleich die wunderbarste Gestaltungskraft inne-
wohnt. Es bleibt schon dabei: die Naturwissenschaften sind beschreibende Wissen¬
schaften. Sie zeigen uns, was da ist und wie es ist, aber nicht, wie das Seiende
geworden ist. Nur innerhalb kleiner in sich abgeschlvßner Kreise, z. B. des che¬
mischen Prozesses, des Blutumlaufs, der Nerventhätigkeit, vermögen sie Auflaufe
darüber zu geben, wie eines aus dem andern hervorgeht, oder vielmehr auch das
noch nicht, sondern nnr, unter welchen Bedingungen eins auf das andre folgt.

So wertvoll als interessant ist die Theorie der Willensfreiheit, die Wunde
in diesem Buche wie in seiner Ethik entwickelt; sie darzustellen, würde eine eigne
Abhandlung erfordern/ An der zuerst von Lotze überzeugend nachgewiesene!! Un¬
vergleichbarkeit der physischen und der psychischen Vorgänge hält er fest. Auch
uach ihm kann Physisches immer nur ans Physischen und Psychisches nur aus
Psychischen hervorgehen; zwischen beiden Reihen ursächlicher Verkettung besteht ein
Parallelismus, der uns in einem bestimmten Abschnitte der physikalischen Ereiguis-
kctte, nämlich soweit mit Nerven ausgerüstete Organismen vorhanden sind, als
wechselseitiges Eingreifen beider in einander erscheint. Diese Zweiheit des Welt¬
inhalts zur Einheit zu verknüpfen, ist nicht mehr Aufgabe der Erfahruiigswissen-
schaften, sondern Aufgabe der Philosophie. Also auch Wunde führt uus im Grunde
genommen über Leibnizens prästabilirte Harmonie nicht hinaus. Was uun das
eigentliche Problem, der Psychologie anlangt, so kommt er zu folgendem Ergebnis:
"Unsre Seele ist nichts andres als die Summe unsrer innern Erlebnisse selbst,
unsers Vorstellens, Fühlens und Wollens, wie es sich im Bewußtsein zu einer
Einheit zusammenfügt und in einer Stufenfolge von Entwicklungen schließlich zum
selbstbewußte,! Denken und zum freiem sittlichen Wollen erhebt. Nirgends wird
uns in der Erklärung des Zusammenhangs der innern Erlebnisse ein Anlaß ge-


Litteratur

müssen." Und weiterhin: „Wie sollen wir uns die Lebensgeschichte einer Art
überhaupt möglich denken, bei der eine solche Summation von Ubnngsanlagen sich
vollzieht, daß schließlich eine so verwickelte Folge von Justiukthandlungen wie die
der Raupe des Nachtpfauenauges entsteht?" Der Satz, mit dem er die Erörterung
der Vererbungstheorie schließt: „Aber annehmen dürfen wir nach Maßgabe der
allgemeinen psychischen Eigenschaften mit Bestimmtheit, daß überall äußere Lebens¬
bedingungen und von Gefühlen ausgehende Willeushaudluugeu in ihrer innigen
Verbindung die Ausbildung ursprünglicher Lebensgewohnheiten bestimmt haben,"
dieser Satz kaun doch wohl nur als ein verhüllter Verzicht auf die Ertlnruug
eingesehen werden. Dabei hat Wunde noch nicht einmal erwähnt, daß die Ver¬
erbung, und zwar uicht bloß die Vererbung erworbner Gewohnheiten, sondern die
Vererbung an sich und überhaupt das Wunder aller Wunder ist. Wie können
Gehirnleitnngen, Naseufvrmcu oder beliebige untre Körperteile, Einrichtungen und
Eigenschaften vererbt werden durch die mikroskopische Eizelle, die weder ein Ge¬
hirn, noch eine Nase, noch sonst etwas dergleichen enthält? Man muß Herrn
Hnctel den Ruhm lassen, daß er den Mut gehabt hat, sich an dieses Wunder
heranzuwagen und das Geheimnis durch ein andres zu erkläre», indem er den
Zellen Gedächtnis zuspricht. Gewiß ein köstlicher Fall jeuer Ironie, mit der sich
der Menschengeist selbst zu verspotte:: Pflegt, wenn er um Ende seiner Weisheit
angelangt ist! Nachdem sich die Naturwissenschaft so unendlich viel Mühe gegeben
hat, uns zu beweisen, daß keinerlei geistige Leistung, sei es eine Erinnerung oder
ein Urteil oder Entschluß, möglich sei ohne ein Gehirn oder wenigstens einen
Nervenapparat, und zwar ohne einen solchen von entsprechender Größe und Struktur,
wird zuletzt einer einzelnen Zelle Gedächtnis zugeschrieben, und was für ein Ge¬
dächtnis! Ein Gedächtnis, dem zugleich die wunderbarste Gestaltungskraft inne-
wohnt. Es bleibt schon dabei: die Naturwissenschaften sind beschreibende Wissen¬
schaften. Sie zeigen uns, was da ist und wie es ist, aber nicht, wie das Seiende
geworden ist. Nur innerhalb kleiner in sich abgeschlvßner Kreise, z. B. des che¬
mischen Prozesses, des Blutumlaufs, der Nerventhätigkeit, vermögen sie Auflaufe
darüber zu geben, wie eines aus dem andern hervorgeht, oder vielmehr auch das
noch nicht, sondern nnr, unter welchen Bedingungen eins auf das andre folgt.

So wertvoll als interessant ist die Theorie der Willensfreiheit, die Wunde
in diesem Buche wie in seiner Ethik entwickelt; sie darzustellen, würde eine eigne
Abhandlung erfordern/ An der zuerst von Lotze überzeugend nachgewiesene!! Un¬
vergleichbarkeit der physischen und der psychischen Vorgänge hält er fest. Auch
uach ihm kann Physisches immer nur ans Physischen und Psychisches nur aus
Psychischen hervorgehen; zwischen beiden Reihen ursächlicher Verkettung besteht ein
Parallelismus, der uns in einem bestimmten Abschnitte der physikalischen Ereiguis-
kctte, nämlich soweit mit Nerven ausgerüstete Organismen vorhanden sind, als
wechselseitiges Eingreifen beider in einander erscheint. Diese Zweiheit des Welt¬
inhalts zur Einheit zu verknüpfen, ist nicht mehr Aufgabe der Erfahruiigswissen-
schaften, sondern Aufgabe der Philosophie. Also auch Wunde führt uus im Grunde
genommen über Leibnizens prästabilirte Harmonie nicht hinaus. Was uun das
eigentliche Problem, der Psychologie anlangt, so kommt er zu folgendem Ergebnis:
„Unsre Seele ist nichts andres als die Summe unsrer innern Erlebnisse selbst,
unsers Vorstellens, Fühlens und Wollens, wie es sich im Bewußtsein zu einer
Einheit zusammenfügt und in einer Stufenfolge von Entwicklungen schließlich zum
selbstbewußte,! Denken und zum freiem sittlichen Wollen erhebt. Nirgends wird
uns in der Erklärung des Zusammenhangs der innern Erlebnisse ein Anlaß ge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/54>, abgerufen am 22.12.2024.