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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Alkyonische Tage

ländischen Meers. Was aber das Boll sagte und sang, spannen die Dichter
weiter aus, und so wurde es aufs neue Eigentum des Volks, in jener be¬
ständigen Wechselwirkung, die den Baum der griechischen Sage immer auss
neue befruchtete und immer neue Schößlinge treiben ließ.

So kam es, daß man von den alkyonischen Vögeln an verschiednen Orten
der hellenischen Welt verschiednes erzählte. Wer auf dem Jsthmos von Korinth
nach ihnen fragte, dem berichteten die Leute von dem gewaltigen Niesen Al-
kyoneus, der einst dort gehaust habe; manche stellten sich ihn als Hirten vor,
der die Rinderherde des auf Akrokorinth thronenden Sonnengottes hütete;
andern galt er als ein räuberischer Unhold, der dem Herakles die erbeuteten
Rinder des Geryoneus zu entwenden trachtete. Darin aber waren alle einig,
daß er mit Herakles einen grimmigen Kampf bestanden habe. Aber Alkyonens
war so stark, daß selbst die Heldenkraft eines Herakles nichts gegen ihn aus¬
richten konnte und ihm weichen mußte, und da wäre es dem dorischen Helden
wohl übel ergangen, wenn nicht Athene, seine Schutzgöttin, den Gott des
Schlafs zu Hilfe gerufen Hütte. Der schwebte heran und berührte mit sanfter
Hand das Haupt des Riesen; da sank der Unhold in tiefen Schlaf, und so
stieß ihn Herakles nieder. Wie nun seine Töchter, die Alkyoniden, den Vater
tot daliegen sahen, eilten sie von Angst und Verzweiflung getrieben an den
Strand und stürzten sich ins Meer. Amphitrite aber, die Meeresgöttin,
empfing sie gnadenvoll und verwandelte sie in Eisvögel; so streichen sie nun
übers Meer dahin und nisten in den Uferklippen, aber immer hört man sie
klagen.

Ging man eine Wegstunde weiter auf dem Wege nach Eleusis zu, so
wollten die Leute schon nichts mehr wissen von den Töchtern des Alkyonens.
Sie wiesen auf den Engpaß hin, den dort das in jähem Absturz fast un¬
mittelbar ans Meer tretende Gebirge bildet, und sprachen von dem wilden
Skiron und seiner Tochter, der schönen Alkyone. Jener Skiron, der an der
gefährlichen Stelle saß, die Wandrer zwang, ihm die Füße zu waschen, und
sie nach gethaner Arbeit mit einem Fußstoß ins Meer hinabstürzte, bis ihm
dann von Theseus dasselbe widerfuhr, gebot einst seiner Tochter, sie solle
sich einen Gemahl suchen; sie wühlte aber nicht mit des Vaters Augen Glanz
und Reichtum, sondern suchte sich einen unbekannten Mann, "den ersten besten,"
zum Liebhaber aus. Darüber ergrimmte der Unhold so, daß er sie im Zorn
ins Meer stürzte; aber die Götter hatten Erbarmen und ließen sie nicht um¬
kommen, sondern verwandelten sie in den Alkyvn; und so klagt sie nun um
ihre blühende Jugend.

Wieder andres konnte man auf Chpern zu hören bekommen; hier war
die märchenumwvbne Gestalt des Kinhras der Mittelpunkt dieser Sage, wie
so vieler andern. Kinyras, König und Priester zugleich, war ein Liebling
der Aphrodite und des goldlockigen Apollon. Bon ihm stammte die süße,


Alkyonische Tage

ländischen Meers. Was aber das Boll sagte und sang, spannen die Dichter
weiter aus, und so wurde es aufs neue Eigentum des Volks, in jener be¬
ständigen Wechselwirkung, die den Baum der griechischen Sage immer auss
neue befruchtete und immer neue Schößlinge treiben ließ.

So kam es, daß man von den alkyonischen Vögeln an verschiednen Orten
der hellenischen Welt verschiednes erzählte. Wer auf dem Jsthmos von Korinth
nach ihnen fragte, dem berichteten die Leute von dem gewaltigen Niesen Al-
kyoneus, der einst dort gehaust habe; manche stellten sich ihn als Hirten vor,
der die Rinderherde des auf Akrokorinth thronenden Sonnengottes hütete;
andern galt er als ein räuberischer Unhold, der dem Herakles die erbeuteten
Rinder des Geryoneus zu entwenden trachtete. Darin aber waren alle einig,
daß er mit Herakles einen grimmigen Kampf bestanden habe. Aber Alkyonens
war so stark, daß selbst die Heldenkraft eines Herakles nichts gegen ihn aus¬
richten konnte und ihm weichen mußte, und da wäre es dem dorischen Helden
wohl übel ergangen, wenn nicht Athene, seine Schutzgöttin, den Gott des
Schlafs zu Hilfe gerufen Hütte. Der schwebte heran und berührte mit sanfter
Hand das Haupt des Riesen; da sank der Unhold in tiefen Schlaf, und so
stieß ihn Herakles nieder. Wie nun seine Töchter, die Alkyoniden, den Vater
tot daliegen sahen, eilten sie von Angst und Verzweiflung getrieben an den
Strand und stürzten sich ins Meer. Amphitrite aber, die Meeresgöttin,
empfing sie gnadenvoll und verwandelte sie in Eisvögel; so streichen sie nun
übers Meer dahin und nisten in den Uferklippen, aber immer hört man sie
klagen.

Ging man eine Wegstunde weiter auf dem Wege nach Eleusis zu, so
wollten die Leute schon nichts mehr wissen von den Töchtern des Alkyonens.
Sie wiesen auf den Engpaß hin, den dort das in jähem Absturz fast un¬
mittelbar ans Meer tretende Gebirge bildet, und sprachen von dem wilden
Skiron und seiner Tochter, der schönen Alkyone. Jener Skiron, der an der
gefährlichen Stelle saß, die Wandrer zwang, ihm die Füße zu waschen, und
sie nach gethaner Arbeit mit einem Fußstoß ins Meer hinabstürzte, bis ihm
dann von Theseus dasselbe widerfuhr, gebot einst seiner Tochter, sie solle
sich einen Gemahl suchen; sie wühlte aber nicht mit des Vaters Augen Glanz
und Reichtum, sondern suchte sich einen unbekannten Mann, „den ersten besten,"
zum Liebhaber aus. Darüber ergrimmte der Unhold so, daß er sie im Zorn
ins Meer stürzte; aber die Götter hatten Erbarmen und ließen sie nicht um¬
kommen, sondern verwandelten sie in den Alkyvn; und so klagt sie nun um
ihre blühende Jugend.

Wieder andres konnte man auf Chpern zu hören bekommen; hier war
die märchenumwvbne Gestalt des Kinhras der Mittelpunkt dieser Sage, wie
so vieler andern. Kinyras, König und Priester zugleich, war ein Liebling
der Aphrodite und des goldlockigen Apollon. Bon ihm stammte die süße,


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[0490] Alkyonische Tage ländischen Meers. Was aber das Boll sagte und sang, spannen die Dichter weiter aus, und so wurde es aufs neue Eigentum des Volks, in jener be¬ ständigen Wechselwirkung, die den Baum der griechischen Sage immer auss neue befruchtete und immer neue Schößlinge treiben ließ. So kam es, daß man von den alkyonischen Vögeln an verschiednen Orten der hellenischen Welt verschiednes erzählte. Wer auf dem Jsthmos von Korinth nach ihnen fragte, dem berichteten die Leute von dem gewaltigen Niesen Al- kyoneus, der einst dort gehaust habe; manche stellten sich ihn als Hirten vor, der die Rinderherde des auf Akrokorinth thronenden Sonnengottes hütete; andern galt er als ein räuberischer Unhold, der dem Herakles die erbeuteten Rinder des Geryoneus zu entwenden trachtete. Darin aber waren alle einig, daß er mit Herakles einen grimmigen Kampf bestanden habe. Aber Alkyonens war so stark, daß selbst die Heldenkraft eines Herakles nichts gegen ihn aus¬ richten konnte und ihm weichen mußte, und da wäre es dem dorischen Helden wohl übel ergangen, wenn nicht Athene, seine Schutzgöttin, den Gott des Schlafs zu Hilfe gerufen Hütte. Der schwebte heran und berührte mit sanfter Hand das Haupt des Riesen; da sank der Unhold in tiefen Schlaf, und so stieß ihn Herakles nieder. Wie nun seine Töchter, die Alkyoniden, den Vater tot daliegen sahen, eilten sie von Angst und Verzweiflung getrieben an den Strand und stürzten sich ins Meer. Amphitrite aber, die Meeresgöttin, empfing sie gnadenvoll und verwandelte sie in Eisvögel; so streichen sie nun übers Meer dahin und nisten in den Uferklippen, aber immer hört man sie klagen. Ging man eine Wegstunde weiter auf dem Wege nach Eleusis zu, so wollten die Leute schon nichts mehr wissen von den Töchtern des Alkyonens. Sie wiesen auf den Engpaß hin, den dort das in jähem Absturz fast un¬ mittelbar ans Meer tretende Gebirge bildet, und sprachen von dem wilden Skiron und seiner Tochter, der schönen Alkyone. Jener Skiron, der an der gefährlichen Stelle saß, die Wandrer zwang, ihm die Füße zu waschen, und sie nach gethaner Arbeit mit einem Fußstoß ins Meer hinabstürzte, bis ihm dann von Theseus dasselbe widerfuhr, gebot einst seiner Tochter, sie solle sich einen Gemahl suchen; sie wühlte aber nicht mit des Vaters Augen Glanz und Reichtum, sondern suchte sich einen unbekannten Mann, „den ersten besten," zum Liebhaber aus. Darüber ergrimmte der Unhold so, daß er sie im Zorn ins Meer stürzte; aber die Götter hatten Erbarmen und ließen sie nicht um¬ kommen, sondern verwandelten sie in den Alkyvn; und so klagt sie nun um ihre blühende Jugend. Wieder andres konnte man auf Chpern zu hören bekommen; hier war die märchenumwvbne Gestalt des Kinhras der Mittelpunkt dieser Sage, wie so vieler andern. Kinyras, König und Priester zugleich, war ein Liebling der Aphrodite und des goldlockigen Apollon. Bon ihm stammte die süße,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/490>, abgerufen am 23.07.2024.