Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.ihre ungewöhnliche Öde, die große Zahl der Leichenwagen und der in schnellstem Auch die Entrüstung über die Hamburger "Ausreißer" erscheint uns sehr Wenn wir aber auch unser Urteil dahin zusammenfassen, daß die Vor- Mag auch über die Entstehungsursache der Epidemie in diesem Falle, Was nun das erste betrifft, so thun uns die wirklich Unrecht, die in den? ihre ungewöhnliche Öde, die große Zahl der Leichenwagen und der in schnellstem Auch die Entrüstung über die Hamburger „Ausreißer" erscheint uns sehr Wenn wir aber auch unser Urteil dahin zusammenfassen, daß die Vor- Mag auch über die Entstehungsursache der Epidemie in diesem Falle, Was nun das erste betrifft, so thun uns die wirklich Unrecht, die in den? <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0363" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213477"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1116" prev="#ID_1115"> ihre ungewöhnliche Öde, die große Zahl der Leichenwagen und der in schnellstem<lb/> Tempo dahinjagenden Krankenwagen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1117"> Auch die Entrüstung über die Hamburger „Ausreißer" erscheint uns sehr<lb/> wenig angebracht zu sein, so begreiflich wir es auch andrerseits finden, daß<lb/> man sie sich anderwärts möglichst vom Leibe halten wollte, und so wenig<lb/> taktvoll es von einzelnen Hamburger Zeitungen war, über die Absperrungs-<lb/> maßregeln kleinerer deutscher Städte lärmend Beschwerde zu führen. Abgesehen<lb/> davon, daß die Zahlen ohne Zweifel weit übertrieben waren, was sich teil¬<lb/> weise daraus erklärt, daß schon zur Zeit des Ausbruchs der Epidemie viele<lb/> wohlhabende Hamburger auf der üblichen Ferienreise von Hamburg abwesend<lb/> wären, mußte man doch bei gerechter Beurteilung erkennen, daß sich, wie anch<lb/> frühere Erfahrungen beweisen, bei einer derartigen Epidemie in jeder Stadt<lb/> dieselbe Erscheinung gezeigt hätte. Vor allem kam es darauf an, daß die zu<lb/> Hause blieben, die ihr Amt oder ihr Beruf dazu verpflichtete, der Senat, die<lb/> Beamten, die Ärzte, die in der Bürgerschaft oder in der Selbstverwaltung<lb/> thätigen Bürger; und diese waren alle an ihrem Platze und haben jeder an<lb/> seiner Stelle ihre Pflicht gethan. Auch hat sich gezeigt, daß die Flüchtlinge<lb/> meist nicht zur seßhaften Hamburger Bevölkerung gehörten, sondern eingewan-<lb/> derte, mit Hamburg noch nicht eng verwachsene Elemente waren. Von einer<lb/> Flucht der Hamburger „Patrizier," von der in sozialdemokratischen Blättern<lb/> die Rede war, kam? uicht gesprochen werden. Schnell reich gewordne Börsen¬<lb/> leute und sonstige Emporkömmlinge bildeten das Gros der Flüchtlinge.</p><lb/> <p xml:id="ID_1118"> Wenn wir aber auch unser Urteil dahin zusammenfassen, daß die Vor-<lb/> bengungsmaßregeln der Verwaltung gegenüber der Epidemie nach menschlicher<lb/> Voraussicht ausreichend waren, und daß die Seuche selbst kräftig, planmäßig<lb/> und zweckmäßig bekämpft worden ist, so erhebt sich natürlich immer die Frage:<lb/> Wie war es möglich, daß in Hamburg die Epidemie einen Charakter annehmen<lb/> konnte, den man bisher in Europa an ihr noch nie wahrgenommen hat? Der<lb/> Beantwortung dieser Frage darf sich Hamburg nicht uur im Interesse des<lb/> Gesamtvaterlandes, sondern auch im eignen Interesse nicht entziehen; denn<lb/> nichts ist so geeignet, die Lebensfähigkeit und Lebensberechtigung seines selb¬<lb/> ständigen Staatswesens darzuthun, wie die Thatsache, daß sich Hamburg selbst<lb/> völlig klar ist über den eigentlichen Sitz des Übels, dessen sichtbares Anzeichen<lb/> diese schreckliche Seuche gewesen ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_1119"> Mag auch über die Entstehungsursache der Epidemie in diesem Falle,<lb/> sowie über die Art ihrer Übertragung von Mensch zu Mensch unter den Ge¬<lb/> lehrten noch so viel Uneinigkeit bestehen, so sind doch alle Sachverständigen<lb/> und überhaupt alle verständigen Menschen darüber einig, daß die Epidemie<lb/> keinen solchen Umfang hätte annehmen können, wenn unsre Wasserversorgung<lb/> besser und unsre Wohnungsverhältnisse gesünder gewesen wären.</p><lb/> <p xml:id="ID_1120" next="#ID_1121"> Was nun das erste betrifft, so thun uns die wirklich Unrecht, die in den?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0363]
ihre ungewöhnliche Öde, die große Zahl der Leichenwagen und der in schnellstem
Tempo dahinjagenden Krankenwagen.
Auch die Entrüstung über die Hamburger „Ausreißer" erscheint uns sehr
wenig angebracht zu sein, so begreiflich wir es auch andrerseits finden, daß
man sie sich anderwärts möglichst vom Leibe halten wollte, und so wenig
taktvoll es von einzelnen Hamburger Zeitungen war, über die Absperrungs-
maßregeln kleinerer deutscher Städte lärmend Beschwerde zu führen. Abgesehen
davon, daß die Zahlen ohne Zweifel weit übertrieben waren, was sich teil¬
weise daraus erklärt, daß schon zur Zeit des Ausbruchs der Epidemie viele
wohlhabende Hamburger auf der üblichen Ferienreise von Hamburg abwesend
wären, mußte man doch bei gerechter Beurteilung erkennen, daß sich, wie anch
frühere Erfahrungen beweisen, bei einer derartigen Epidemie in jeder Stadt
dieselbe Erscheinung gezeigt hätte. Vor allem kam es darauf an, daß die zu
Hause blieben, die ihr Amt oder ihr Beruf dazu verpflichtete, der Senat, die
Beamten, die Ärzte, die in der Bürgerschaft oder in der Selbstverwaltung
thätigen Bürger; und diese waren alle an ihrem Platze und haben jeder an
seiner Stelle ihre Pflicht gethan. Auch hat sich gezeigt, daß die Flüchtlinge
meist nicht zur seßhaften Hamburger Bevölkerung gehörten, sondern eingewan-
derte, mit Hamburg noch nicht eng verwachsene Elemente waren. Von einer
Flucht der Hamburger „Patrizier," von der in sozialdemokratischen Blättern
die Rede war, kam? uicht gesprochen werden. Schnell reich gewordne Börsen¬
leute und sonstige Emporkömmlinge bildeten das Gros der Flüchtlinge.
Wenn wir aber auch unser Urteil dahin zusammenfassen, daß die Vor-
bengungsmaßregeln der Verwaltung gegenüber der Epidemie nach menschlicher
Voraussicht ausreichend waren, und daß die Seuche selbst kräftig, planmäßig
und zweckmäßig bekämpft worden ist, so erhebt sich natürlich immer die Frage:
Wie war es möglich, daß in Hamburg die Epidemie einen Charakter annehmen
konnte, den man bisher in Europa an ihr noch nie wahrgenommen hat? Der
Beantwortung dieser Frage darf sich Hamburg nicht uur im Interesse des
Gesamtvaterlandes, sondern auch im eignen Interesse nicht entziehen; denn
nichts ist so geeignet, die Lebensfähigkeit und Lebensberechtigung seines selb¬
ständigen Staatswesens darzuthun, wie die Thatsache, daß sich Hamburg selbst
völlig klar ist über den eigentlichen Sitz des Übels, dessen sichtbares Anzeichen
diese schreckliche Seuche gewesen ist.
Mag auch über die Entstehungsursache der Epidemie in diesem Falle,
sowie über die Art ihrer Übertragung von Mensch zu Mensch unter den Ge¬
lehrten noch so viel Uneinigkeit bestehen, so sind doch alle Sachverständigen
und überhaupt alle verständigen Menschen darüber einig, daß die Epidemie
keinen solchen Umfang hätte annehmen können, wenn unsre Wasserversorgung
besser und unsre Wohnungsverhältnisse gesünder gewesen wären.
Was nun das erste betrifft, so thun uns die wirklich Unrecht, die in den?
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