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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Friedrich Hölderlin

nach der Schweiz und mich Bordeaux, immer wieder in die Stellung eines Haus¬
lehrers hinein, deren Druck er ausgekostet hatte, wie keiner. Sein Mißgeschick,
vielleicht auch die merkliche Verdüsterung seines Sinnes führten jähe und gerade
für ihn bedenkliche Wechsel seiner Stellungen herbei. Noch sah er klar genug,
in dem letzten Brief an Schiller (Nürtingen. 2. Juni 1801) zu sagen: "Nun
finde ich. daß man wohl eine Auskunft treffen kann, wenn es versagt ist, der
nächsten Bestimmung zu leben, daß aber eine falsche Resignation so gut ein
schlimmes Ende nehmen muß, wie allzugroße Unklugheit." Gleichwohl blieb
jeder -- ohnehin matte -- Anlauf, den er nahm, dieser Resignation zu ent¬
rinnen, ohne Folge. Seit der Rückkehr aus Bordeaux brach die geistige Zer¬
rüttung unaufhaltsam über den Unglücklichen herein.

Es ist Litzmann gelungen, den Nachweis zu führen, daß Hölderlin nicht
(wie immer wieder erzählt wird) den Tod der Geliebten. Unvergessener in
Bordeaux erfahren haben kann. Hölderlin hatte Bordeaux, nach dem erhalten
gebliebner Reisepaß, bereits am 10. Mai 1802 verlassen, traf in der zweiten
Woche des Juni, mit den ausgesprochnen Merkmalen des Wahnsinns, bei
seiner Familie in Nürtingen ein, Frau Susette Goulard aber starb am 22.
Juni 1802 nach nur zehntägigem Krankenlager in Frankfurt a. M. Ein
nachweisbarer Zusammenhang beider Ereignisse, Diotimas Tod und Hölderlins
Wahnsinnsausbruch, besteht also nicht; Litzmann sieht die unmittelbare Ursache
in den Überanstrengungen einer Fußreise unter glühendem Sommerhimmel
durch das südliche Frankreich und sagt selbst: "Wann und auf welche Art
Hölderlin den Tod der von ihm verehrten und geliebten Frau erfuhr, ob er
in dem Augenblick fähig war, die ganze Größe des Schmerzes zu ermessen,
Wissen wir nicht." Ich möchte sagen: jeden Schmerz um das Schicksal der
Freundin, die in seinen Augen in unwürdiger Umgebung ein Leben lebte, das
schlimmer als der Tod war, jedes Leid über den Verlust, der ihn getroffen
hatte, hatte Hölderlin vor dieser Zeit bereits ausgekostet.

Die Geistesumnachtung, in die ihn der Widerspruch seines tiefsten Innern
mit der umgebenden Welt, die Unvereinbarkeit seines edeln Selbstgefühls mit
seiner äußern Lage, das leidvolle Ende seines einzigen Glückes gestürzt hatte,
erwies sich unbesiegbar. Nicht die letzte Versenkung in litterarische Thätigkeit,
zu der es Hölderlin selbst trieb, und die zu der Übersetzung zweier Tragödien
des Sophokles ("König Ödipus" und "Antigone") führte, die 1804 in Frank¬
furt a. M. erschienen und an mehr als einer Stelle ein trauriges Zeugnis
seiner hinschwindenden Geisteskraft ablegten, nicht die wahrhaft freundschaft¬
liche Hilfe, die ihm Sinclair bot, indem er ihn zum Bibliothekar in Homburg
ernennen ließ und den Gehalt dieser Stellung vorläufig aus eigner Tasche
zahlte, vermochten die innere Zerstörung aufzuhalten. Das leidvollste Ringen
währte von 1802 bis 1806, im Herbst 1806 mußte der Ärmste von Homburg
in die Heimat abgeholt werden, und da sich ein Heilungsversuch in Auten-


Friedrich Hölderlin

nach der Schweiz und mich Bordeaux, immer wieder in die Stellung eines Haus¬
lehrers hinein, deren Druck er ausgekostet hatte, wie keiner. Sein Mißgeschick,
vielleicht auch die merkliche Verdüsterung seines Sinnes führten jähe und gerade
für ihn bedenkliche Wechsel seiner Stellungen herbei. Noch sah er klar genug,
in dem letzten Brief an Schiller (Nürtingen. 2. Juni 1801) zu sagen: „Nun
finde ich. daß man wohl eine Auskunft treffen kann, wenn es versagt ist, der
nächsten Bestimmung zu leben, daß aber eine falsche Resignation so gut ein
schlimmes Ende nehmen muß, wie allzugroße Unklugheit." Gleichwohl blieb
jeder — ohnehin matte — Anlauf, den er nahm, dieser Resignation zu ent¬
rinnen, ohne Folge. Seit der Rückkehr aus Bordeaux brach die geistige Zer¬
rüttung unaufhaltsam über den Unglücklichen herein.

Es ist Litzmann gelungen, den Nachweis zu führen, daß Hölderlin nicht
(wie immer wieder erzählt wird) den Tod der Geliebten. Unvergessener in
Bordeaux erfahren haben kann. Hölderlin hatte Bordeaux, nach dem erhalten
gebliebner Reisepaß, bereits am 10. Mai 1802 verlassen, traf in der zweiten
Woche des Juni, mit den ausgesprochnen Merkmalen des Wahnsinns, bei
seiner Familie in Nürtingen ein, Frau Susette Goulard aber starb am 22.
Juni 1802 nach nur zehntägigem Krankenlager in Frankfurt a. M. Ein
nachweisbarer Zusammenhang beider Ereignisse, Diotimas Tod und Hölderlins
Wahnsinnsausbruch, besteht also nicht; Litzmann sieht die unmittelbare Ursache
in den Überanstrengungen einer Fußreise unter glühendem Sommerhimmel
durch das südliche Frankreich und sagt selbst: „Wann und auf welche Art
Hölderlin den Tod der von ihm verehrten und geliebten Frau erfuhr, ob er
in dem Augenblick fähig war, die ganze Größe des Schmerzes zu ermessen,
Wissen wir nicht." Ich möchte sagen: jeden Schmerz um das Schicksal der
Freundin, die in seinen Augen in unwürdiger Umgebung ein Leben lebte, das
schlimmer als der Tod war, jedes Leid über den Verlust, der ihn getroffen
hatte, hatte Hölderlin vor dieser Zeit bereits ausgekostet.

Die Geistesumnachtung, in die ihn der Widerspruch seines tiefsten Innern
mit der umgebenden Welt, die Unvereinbarkeit seines edeln Selbstgefühls mit
seiner äußern Lage, das leidvolle Ende seines einzigen Glückes gestürzt hatte,
erwies sich unbesiegbar. Nicht die letzte Versenkung in litterarische Thätigkeit,
zu der es Hölderlin selbst trieb, und die zu der Übersetzung zweier Tragödien
des Sophokles („König Ödipus" und „Antigone") führte, die 1804 in Frank¬
furt a. M. erschienen und an mehr als einer Stelle ein trauriges Zeugnis
seiner hinschwindenden Geisteskraft ablegten, nicht die wahrhaft freundschaft¬
liche Hilfe, die ihm Sinclair bot, indem er ihn zum Bibliothekar in Homburg
ernennen ließ und den Gehalt dieser Stellung vorläufig aus eigner Tasche
zahlte, vermochten die innere Zerstörung aufzuhalten. Das leidvollste Ringen
währte von 1802 bis 1806, im Herbst 1806 mußte der Ärmste von Homburg
in die Heimat abgeholt werden, und da sich ein Heilungsversuch in Auten-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/179>, abgerufen am 25.08.2024.