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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Besitzer seine eignen Organisationen gegenüberzustellen. Andrerseits ist nichts
thörichter, als in dem Kampf gegen den Kapitalismus einen Angriff auf das
Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h.
die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals,
der das Privateigentum von nenn Zehnteln der Volksgenossen bedroht und
zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum,
aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen
Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt und
wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen,
der Börsenschwindel und der Wucher uoch nicht eingenistet haben. Wenn dem¬
nach Wolf mit seinem Buche dahin abzielt, "den Sozialismus als Volks¬
bethörer lahm zu legen," so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein
tötliches Geschütz gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was
er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den
er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in
diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Thätigkeit der
Sozialdemokratie ist für unsre deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen
nicht allein heilsam, sondern vor der Hand sogar noch notwendig. Sie übt
an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der
Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene
Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie die Lage der untern
Klaffen zu verbessern und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg ge¬
habt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar
nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Thätigkeit steckt nichts
von Bethörung, sondern sie beruht ans Wahrheit und wirkt in dem teilweise
erkrankten Gesellschaftskörper als Heilmittel. Als Bethörung kann man höchstens
die Znkunftsträume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harm¬
loser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgange ander¬
weitiger Ideale, fast unentbehrliche Illusionen.

Da Wolf auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich
nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baues windschief geraten ist,
nicht allem in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapi¬
talismus, sondern auch noch in andrer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen
und die im engern Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen
schlecht in einander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechts¬
philosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsre Person so
ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht
von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserm Sinne
gehalten ist, und sagt sehr schön: "Für uns hier stellen wir nur das eine
fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur er¬
reicht werden kam? auf dem Wege über eine befriedigende materielle Existenz


Besitzer seine eignen Organisationen gegenüberzustellen. Andrerseits ist nichts
thörichter, als in dem Kampf gegen den Kapitalismus einen Angriff auf das
Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h.
die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals,
der das Privateigentum von nenn Zehnteln der Volksgenossen bedroht und
zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum,
aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen
Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt und
wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen,
der Börsenschwindel und der Wucher uoch nicht eingenistet haben. Wenn dem¬
nach Wolf mit seinem Buche dahin abzielt, „den Sozialismus als Volks¬
bethörer lahm zu legen," so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein
tötliches Geschütz gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was
er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den
er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in
diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Thätigkeit der
Sozialdemokratie ist für unsre deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen
nicht allein heilsam, sondern vor der Hand sogar noch notwendig. Sie übt
an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der
Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene
Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie die Lage der untern
Klaffen zu verbessern und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg ge¬
habt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar
nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Thätigkeit steckt nichts
von Bethörung, sondern sie beruht ans Wahrheit und wirkt in dem teilweise
erkrankten Gesellschaftskörper als Heilmittel. Als Bethörung kann man höchstens
die Znkunftsträume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harm¬
loser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgange ander¬
weitiger Ideale, fast unentbehrliche Illusionen.

Da Wolf auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich
nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baues windschief geraten ist,
nicht allem in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapi¬
talismus, sondern auch noch in andrer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen
und die im engern Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen
schlecht in einander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechts¬
philosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsre Person so
ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht
von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserm Sinne
gehalten ist, und sagt sehr schön: „Für uns hier stellen wir nur das eine
fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur er¬
reicht werden kam? auf dem Wege über eine befriedigende materielle Existenz


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[0166] Besitzer seine eignen Organisationen gegenüberzustellen. Andrerseits ist nichts thörichter, als in dem Kampf gegen den Kapitalismus einen Angriff auf das Privatvermögen zu sehen. Im Gegenteil ist es gerade der Kapitalismus, d. h. die grundsätzliche und planmäßige Förderung der Übermacht des Großkapitals, der das Privateigentum von nenn Zehnteln der Volksgenossen bedroht und zum Teil schon verschlungen hat. Im Mittelalter gab es Privateigentum, aber keinen Kapitalismus; dasselbe gilt noch heute von solchen orientalischen Ländern, die sich, wie Bulgarien, einen kräftigen Bauernstand bewahrt und wo sich solche Kulturpflanzen wie die Großindustrie, das Staatsschuldenwesen, der Börsenschwindel und der Wucher uoch nicht eingenistet haben. Wenn dem¬ nach Wolf mit seinem Buche dahin abzielt, „den Sozialismus als Volks¬ bethörer lahm zu legen," so ist es kein geringerer als der Staat, auf den sein tötliches Geschütz gerichtet ist; denn ein unsozialer Staat ist ein Unding. Was er meint, ist nun freilich nicht jener Sozialismus, den wir meinen, und den er selber für notwendig hält, sondern die Sozialdemokratie. Aber auch in diesem Sinne bleibt seine Absicht noch höchst bedenklich. Die Thätigkeit der Sozialdemokratie ist für unsre deutsche Gesellschaft und für unser Staatswesen nicht allein heilsam, sondern vor der Hand sogar noch notwendig. Sie übt an den herrschenden Zuständen eine Kritik, die zwar in vieler Beziehung der Berichtigung bedarf, die aber doch besser ist als gar keine, und ohne jene Partei würden wir keine haben. Zugleich strebt sie die Lage der untern Klaffen zu verbessern und hat mit diesem Streben bereits einigen Erfolg ge¬ habt, denn ohne sie würde u. a. das, was man heute Sozialpolitik nennt, gar nicht vorhanden sein. In dieser negativen und positiven Thätigkeit steckt nichts von Bethörung, sondern sie beruht ans Wahrheit und wirkt in dem teilweise erkrankten Gesellschaftskörper als Heilmittel. Als Bethörung kann man höchstens die Znkunftsträume der Sozialdemokratie bezeichnen; allein diese sind teils harm¬ loser Natur, teils unter den obwaltenden Umständen, d. h. beim Abgange ander¬ weitiger Ideale, fast unentbehrliche Illusionen. Da Wolf auf die Grundlage klarer Begriffe verzichtet hat, darf man sich nicht wundern, daß ihm die ganze Anlage seines Baues windschief geraten ist, nicht allem in der falschen Gegenüberstellung von Sozialismus und Kapi¬ talismus, sondern auch noch in andrer Beziehung. Die volkswirtschaftlichen und die im engern Sinne sozialpolitischen Abschnitte seines Buches greifen schlecht in einander ein, und seine Sozialpolitik läuft zudem auf eine Rechts¬ philosophie hinaus, eine Rechtsphilosophie, mit der wir für unsre Person so ziemlich übereinstimmen, die wir aber für sehr unwirksam halten. Er geht von einer geschichtsphilosophischen Betrachtung aus, die ganz in unserm Sinne gehalten ist, und sagt sehr schön: „Für uns hier stellen wir nur das eine fest: daß, wie immer der Menschheitszweck gefaßt wird, er sicherlich nur er¬ reicht werden kam? auf dem Wege über eine befriedigende materielle Existenz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/166>, abgerufen am 22.12.2024.