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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Frankreich -- und das ist ja die Nächstliegende Möglichkeit -- gemeinschaftlich über
uns herfallen sollten, jeder Deutsche -- der Sozinldemokrnt nicht ausgenommen --
den Feind aus dem Lande schaffen helfen werde, ja er selbst werde in solchem
Falle gesonnen sein, mit in den Kampf zu ziehen, um "unsre Kultur vor dieser
Barbarei zu beschützen." Aber Herr Liebknecht ist weiter gegangen, er hat nicht
nur diesen nächstliegenden Fall erörtert, bei dem ihm allerdings seine demokratische
und daher dem despotischen Rußland feindliche Gesinnung die Entscheidung ebenso
wie die Begründung der Entscheidung außerordentlich erleichtert hat, sondern er
hat auch ganz im allgemeinen erklärt, daß wenn Frankreich -- ob mit oder ohne
Rußland --, d. h, also selbst wenn das republikanische Frankreich allein den Ver¬
such unternehmen sollte, Elsaß-Lothringen mit Waffengewalt von Deutschland wieder-
zuerobern, es ganz Deutschland in Waffen sich gegenüber finden werde. Ja noch
weiter ist er gegangen. Er hat -- in Übereinstimmung mit allen nationalen
Kreisen -- dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß an eine freiwillige und friedliche
Abtretung von Elsaß-Lothringen nicht zu denken sei. Es gebe nur eine Möglich¬
keit, die "sogenannte" -- man beachte dieses Wort -- elsaß-lothringische Frage
zu lösen, nämlich daß Frankreich sowohl wie Deutschland sich sozialistisch und
demokratisch entwickle; dann -- so sagt Herr Liebknecht -- wird es keine elsa߬
lothringische Frage mehr geben, dann ist es vollständig gleichgiltig, wohin Elsaß-
Lothringen gehört, dann leben alle Völker friedlich neben einander. Man sieht,
wie Herr Liebknecht hier wieder, um seine Gedanken in dem bengalischen Feuer
interuationnler Anschauungsweise erscheinen zu lassen, denselben Kniff anwendet,
den die sozialdemokratische Parteileitung auch sonst liebt: er zeigt in der Zukunft
das internationale Ziel, dem er zustrebt, in der Praxis ist er aber national, so
gut wie wir. Was Herr Liebknecht von der Zukunft erwartet, die, wie er hofft,
sich in sozialistischer und demokratischer Weise in beiden Länder" "entwickeln"
Wird -- er setzt hier ausdrücklich eine Entwicklung, d. h. ein langsames orga¬
nisches Zustreben zu diesem Ziele voraus --, das ist für die Gegenwart und die
Nächstliegende Zukunft, also für die Praxis, mit der wir allein zu rechnen haben,
ganz gleichgiltig. Für diese kommt allein in Betracht, daß Herr Liebknecht mit
uns darin übereinstimmt, daß auch er zur Zeit keine freiwillige Herausgabe von
Elsaß-Lothringen und keine andre Verständigung über die "sogenannte" elsa߬
lothringische Frage kennt, als die Anerkennung des Frankfurter Friedensvertrags,
und daß er diesen Friedensvertrag zusammen mit allen Vaterlandsfreunden gegen
einen französischen Angriff zu verteidige" gesonnen ist. Daß er nebenbei Zuknnfts-
hvsfnnngen hegt auf ein sozialistisches und demokratisches allgemeines Weltreich, in
dem nur eitel Glück und Friede herrschen wird, ehrt seine ideale Gesinnung, ist
aber im übrigen für die praktische Politik so gleichgiltig wie nur möglich.

Herr Liebknecht freut sich, daß er den Franzosen einmal gründlich "den Star
habe stechen können," und -- in der That -- er rühmt sich dessen mit vollem
Rechte. Wir hatten große Befürchtungen, als gerade er unes Frankreich ging, um
die französischen "Brüder" zu begrüße", und um ^ denn wir glauben bestimmt,
daß auch dies der Zweck der Reise gewesen sei -- Frankreich vor Illusionen in
Bezug auf die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zu warnen; aber wir be¬
kennen offen, daß wir ihm Unrecht gethan haben. Er hat in der That den Fran¬
zosen den Star gestochen. Sie haben es begriffen, die Entrüstuugsrufe der ganzen
französischen national-chauvinistischen Presse beweisen es, was er ihnen sagen wollte,
und bis hinauf in die französischen Regierungskreise ist der Sinn seiner Reden
wohl verstanden worden. Das zeigt sich namentlich mit Deutlichkeit in einer offi-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Frankreich — und das ist ja die Nächstliegende Möglichkeit — gemeinschaftlich über
uns herfallen sollten, jeder Deutsche — der Sozinldemokrnt nicht ausgenommen —
den Feind aus dem Lande schaffen helfen werde, ja er selbst werde in solchem
Falle gesonnen sein, mit in den Kampf zu ziehen, um „unsre Kultur vor dieser
Barbarei zu beschützen." Aber Herr Liebknecht ist weiter gegangen, er hat nicht
nur diesen nächstliegenden Fall erörtert, bei dem ihm allerdings seine demokratische
und daher dem despotischen Rußland feindliche Gesinnung die Entscheidung ebenso
wie die Begründung der Entscheidung außerordentlich erleichtert hat, sondern er
hat auch ganz im allgemeinen erklärt, daß wenn Frankreich — ob mit oder ohne
Rußland —, d. h, also selbst wenn das republikanische Frankreich allein den Ver¬
such unternehmen sollte, Elsaß-Lothringen mit Waffengewalt von Deutschland wieder-
zuerobern, es ganz Deutschland in Waffen sich gegenüber finden werde. Ja noch
weiter ist er gegangen. Er hat — in Übereinstimmung mit allen nationalen
Kreisen — dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß an eine freiwillige und friedliche
Abtretung von Elsaß-Lothringen nicht zu denken sei. Es gebe nur eine Möglich¬
keit, die „sogenannte" — man beachte dieses Wort — elsaß-lothringische Frage
zu lösen, nämlich daß Frankreich sowohl wie Deutschland sich sozialistisch und
demokratisch entwickle; dann — so sagt Herr Liebknecht — wird es keine elsa߬
lothringische Frage mehr geben, dann ist es vollständig gleichgiltig, wohin Elsaß-
Lothringen gehört, dann leben alle Völker friedlich neben einander. Man sieht,
wie Herr Liebknecht hier wieder, um seine Gedanken in dem bengalischen Feuer
interuationnler Anschauungsweise erscheinen zu lassen, denselben Kniff anwendet,
den die sozialdemokratische Parteileitung auch sonst liebt: er zeigt in der Zukunft
das internationale Ziel, dem er zustrebt, in der Praxis ist er aber national, so
gut wie wir. Was Herr Liebknecht von der Zukunft erwartet, die, wie er hofft,
sich in sozialistischer und demokratischer Weise in beiden Länder» „entwickeln"
Wird — er setzt hier ausdrücklich eine Entwicklung, d. h. ein langsames orga¬
nisches Zustreben zu diesem Ziele voraus —, das ist für die Gegenwart und die
Nächstliegende Zukunft, also für die Praxis, mit der wir allein zu rechnen haben,
ganz gleichgiltig. Für diese kommt allein in Betracht, daß Herr Liebknecht mit
uns darin übereinstimmt, daß auch er zur Zeit keine freiwillige Herausgabe von
Elsaß-Lothringen und keine andre Verständigung über die „sogenannte" elsa߬
lothringische Frage kennt, als die Anerkennung des Frankfurter Friedensvertrags,
und daß er diesen Friedensvertrag zusammen mit allen Vaterlandsfreunden gegen
einen französischen Angriff zu verteidige» gesonnen ist. Daß er nebenbei Zuknnfts-
hvsfnnngen hegt auf ein sozialistisches und demokratisches allgemeines Weltreich, in
dem nur eitel Glück und Friede herrschen wird, ehrt seine ideale Gesinnung, ist
aber im übrigen für die praktische Politik so gleichgiltig wie nur möglich.

Herr Liebknecht freut sich, daß er den Franzosen einmal gründlich „den Star
habe stechen können," und — in der That — er rühmt sich dessen mit vollem
Rechte. Wir hatten große Befürchtungen, als gerade er unes Frankreich ging, um
die französischen „Brüder" zu begrüße», und um ^ denn wir glauben bestimmt,
daß auch dies der Zweck der Reise gewesen sei — Frankreich vor Illusionen in
Bezug auf die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zu warnen; aber wir be¬
kennen offen, daß wir ihm Unrecht gethan haben. Er hat in der That den Fran¬
zosen den Star gestochen. Sie haben es begriffen, die Entrüstuugsrufe der ganzen
französischen national-chauvinistischen Presse beweisen es, was er ihnen sagen wollte,
und bis hinauf in die französischen Regierungskreise ist der Sinn seiner Reden
wohl verstanden worden. Das zeigt sich namentlich mit Deutlichkeit in einer offi-


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[0146] Maßgebliches und Unmaßgebliches Frankreich — und das ist ja die Nächstliegende Möglichkeit — gemeinschaftlich über uns herfallen sollten, jeder Deutsche — der Sozinldemokrnt nicht ausgenommen — den Feind aus dem Lande schaffen helfen werde, ja er selbst werde in solchem Falle gesonnen sein, mit in den Kampf zu ziehen, um „unsre Kultur vor dieser Barbarei zu beschützen." Aber Herr Liebknecht ist weiter gegangen, er hat nicht nur diesen nächstliegenden Fall erörtert, bei dem ihm allerdings seine demokratische und daher dem despotischen Rußland feindliche Gesinnung die Entscheidung ebenso wie die Begründung der Entscheidung außerordentlich erleichtert hat, sondern er hat auch ganz im allgemeinen erklärt, daß wenn Frankreich — ob mit oder ohne Rußland —, d. h, also selbst wenn das republikanische Frankreich allein den Ver¬ such unternehmen sollte, Elsaß-Lothringen mit Waffengewalt von Deutschland wieder- zuerobern, es ganz Deutschland in Waffen sich gegenüber finden werde. Ja noch weiter ist er gegangen. Er hat — in Übereinstimmung mit allen nationalen Kreisen — dem Gedanken Ausdruck gegeben, daß an eine freiwillige und friedliche Abtretung von Elsaß-Lothringen nicht zu denken sei. Es gebe nur eine Möglich¬ keit, die „sogenannte" — man beachte dieses Wort — elsaß-lothringische Frage zu lösen, nämlich daß Frankreich sowohl wie Deutschland sich sozialistisch und demokratisch entwickle; dann — so sagt Herr Liebknecht — wird es keine elsa߬ lothringische Frage mehr geben, dann ist es vollständig gleichgiltig, wohin Elsaß- Lothringen gehört, dann leben alle Völker friedlich neben einander. Man sieht, wie Herr Liebknecht hier wieder, um seine Gedanken in dem bengalischen Feuer interuationnler Anschauungsweise erscheinen zu lassen, denselben Kniff anwendet, den die sozialdemokratische Parteileitung auch sonst liebt: er zeigt in der Zukunft das internationale Ziel, dem er zustrebt, in der Praxis ist er aber national, so gut wie wir. Was Herr Liebknecht von der Zukunft erwartet, die, wie er hofft, sich in sozialistischer und demokratischer Weise in beiden Länder» „entwickeln" Wird — er setzt hier ausdrücklich eine Entwicklung, d. h. ein langsames orga¬ nisches Zustreben zu diesem Ziele voraus —, das ist für die Gegenwart und die Nächstliegende Zukunft, also für die Praxis, mit der wir allein zu rechnen haben, ganz gleichgiltig. Für diese kommt allein in Betracht, daß Herr Liebknecht mit uns darin übereinstimmt, daß auch er zur Zeit keine freiwillige Herausgabe von Elsaß-Lothringen und keine andre Verständigung über die „sogenannte" elsa߬ lothringische Frage kennt, als die Anerkennung des Frankfurter Friedensvertrags, und daß er diesen Friedensvertrag zusammen mit allen Vaterlandsfreunden gegen einen französischen Angriff zu verteidige» gesonnen ist. Daß er nebenbei Zuknnfts- hvsfnnngen hegt auf ein sozialistisches und demokratisches allgemeines Weltreich, in dem nur eitel Glück und Friede herrschen wird, ehrt seine ideale Gesinnung, ist aber im übrigen für die praktische Politik so gleichgiltig wie nur möglich. Herr Liebknecht freut sich, daß er den Franzosen einmal gründlich „den Star habe stechen können," und — in der That — er rühmt sich dessen mit vollem Rechte. Wir hatten große Befürchtungen, als gerade er unes Frankreich ging, um die französischen „Brüder" zu begrüße», und um ^ denn wir glauben bestimmt, daß auch dies der Zweck der Reise gewesen sei — Frankreich vor Illusionen in Bezug auf die Haltung der deutschen Sozialdemokratie zu warnen; aber wir be¬ kennen offen, daß wir ihm Unrecht gethan haben. Er hat in der That den Fran¬ zosen den Star gestochen. Sie haben es begriffen, die Entrüstuugsrufe der ganzen französischen national-chauvinistischen Presse beweisen es, was er ihnen sagen wollte, und bis hinauf in die französischen Regierungskreise ist der Sinn seiner Reden wohl verstanden worden. Das zeigt sich namentlich mit Deutlichkeit in einer offi-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/146>, abgerufen am 22.12.2024.