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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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unser Hafen wahrscheinlich schon infizirt, ehe überhaupt ein wirklicher Cholera¬
fall vorkam, und die ersten ernstern Erkrankungen wären dann nicht als
Ursache, sondern als Folge der Wasservergiftung anzusehen. Ohne Zweifel
war Hamburg zur Zeit der Einschleppung wie ein volles Pulverfaß. Es
bedürfte nur eines Fünkchens, um die gewaltige Explosion herbeizuführen.
Solche Fünkchen sind im modernen Verkehr, zumal auf dem Landwege, un¬
möglich abzusperren. Allerdings haben die vielen Flüchtlinge aus Hamburg,
die auswärts erkrankt sind, bis jetzt noch nirgends eine Epidemie erzeugt, und
man glaubt, daß das den dort geübten energischen Jsolirungeu und Des¬
infektionen zu danken sei. Ich bin ketzerisch genug, die Nichtigkeit dieses
Schlusses sehr ernstlich zu bezweifeln, schon allein um der Diarrhoekrauken
willen, die allen diesen Maßnahmen nicht unterworfen werden. Meines Er-
achtens hängt das Verhalten eines Ortes gegenüber der Cholera viel weniger
davon ab, wie bald der erste Fall konstatirt wird, und was dann gegen die
Weiterverbreitung geschieht, als vor allem davon, in welchem sanitären Zu¬
stande sich der Ort zur Zeit der Einschleppung befindet, und weiter, ob die
in ihrem ursächlichen Zusammenhange noch wenig aufgeklärten zeitlichen und
örtlichen Dispositionen Pettenkofcrs vorhanden sind oder nicht." Hiermit
erhebt I)r. Reineke gegen die Stadtverwaltung von Hamburg eine schwere
Anklage. Denn wer anders als diese ist für den sanitären Zustand der Stadt
verantwortlich? Wer ist daran schuld, daß Hamburg zur Zeit der Einschleppung
"wie ein volles Pulverfaß" war? Es liegen Versäumnisse von Jahrzehnten
vor, die sich jetzt mit einemmale strafen.

Die Kanalisation und die Wasserversorgung Hamburgs befinden sich in
höchst bedenklichem Zustande. Hamburg entläßt seine Schmutzwässer in der
Nähe der Altonaer Grenze in die Elbe. Das ist an sich keine schöne Ein¬
richtung, wird aber dadurch zu einem wahren Unglück, daß die Flut, die bis über
Hamburg hinauf wirkt, diesen Schmutz in die Stadt zurücktreibt, wodurch der
Hafen, die Ufer und niedrigen Stadtteile mit Vcrwesungsstoffen getränkt
werden. Die Betriebsstätte der Wasserkunst zu Rvthenburgsort liegt wenig
oberhalb der Stadt und im Bereiche der Flut. Das verunreinigte Wasser
wird bei ungenügender Filtrirung in die Leitungen gepumpt und der Stadt
zugeführt Hierzu kommt, daß das Wasserleitungswasser für den Bedarf der
Stadt bei weitem nicht ausreicht, und daß sich viele Bewohner des Elbwassers
oder des Wassers verunreinigter Brunnen bedienen. Solche Zustände bergen
eine außerordentliche Gefahr. Verfährt man nun noch mit der unglaublichen
Lotterei, daß man die Abwäsfer eines Choleraquarantäneortes in die Elbe
leitet, in ein Wasserbecken, das den allergünstigsten Nährboden für den Cholera-
bacillus bildet, so kann man sich über den Erfolg nicht wundern. Als in
Spanien vor etlichen Jahren die Cholera oberhalb Barcelonas ausbrach, hatte
man infizirte Kleidungsstücke in einem Bache gewaschen, und die Bewohner


unser Hafen wahrscheinlich schon infizirt, ehe überhaupt ein wirklicher Cholera¬
fall vorkam, und die ersten ernstern Erkrankungen wären dann nicht als
Ursache, sondern als Folge der Wasservergiftung anzusehen. Ohne Zweifel
war Hamburg zur Zeit der Einschleppung wie ein volles Pulverfaß. Es
bedürfte nur eines Fünkchens, um die gewaltige Explosion herbeizuführen.
Solche Fünkchen sind im modernen Verkehr, zumal auf dem Landwege, un¬
möglich abzusperren. Allerdings haben die vielen Flüchtlinge aus Hamburg,
die auswärts erkrankt sind, bis jetzt noch nirgends eine Epidemie erzeugt, und
man glaubt, daß das den dort geübten energischen Jsolirungeu und Des¬
infektionen zu danken sei. Ich bin ketzerisch genug, die Nichtigkeit dieses
Schlusses sehr ernstlich zu bezweifeln, schon allein um der Diarrhoekrauken
willen, die allen diesen Maßnahmen nicht unterworfen werden. Meines Er-
achtens hängt das Verhalten eines Ortes gegenüber der Cholera viel weniger
davon ab, wie bald der erste Fall konstatirt wird, und was dann gegen die
Weiterverbreitung geschieht, als vor allem davon, in welchem sanitären Zu¬
stande sich der Ort zur Zeit der Einschleppung befindet, und weiter, ob die
in ihrem ursächlichen Zusammenhange noch wenig aufgeklärten zeitlichen und
örtlichen Dispositionen Pettenkofcrs vorhanden sind oder nicht." Hiermit
erhebt I)r. Reineke gegen die Stadtverwaltung von Hamburg eine schwere
Anklage. Denn wer anders als diese ist für den sanitären Zustand der Stadt
verantwortlich? Wer ist daran schuld, daß Hamburg zur Zeit der Einschleppung
„wie ein volles Pulverfaß" war? Es liegen Versäumnisse von Jahrzehnten
vor, die sich jetzt mit einemmale strafen.

Die Kanalisation und die Wasserversorgung Hamburgs befinden sich in
höchst bedenklichem Zustande. Hamburg entläßt seine Schmutzwässer in der
Nähe der Altonaer Grenze in die Elbe. Das ist an sich keine schöne Ein¬
richtung, wird aber dadurch zu einem wahren Unglück, daß die Flut, die bis über
Hamburg hinauf wirkt, diesen Schmutz in die Stadt zurücktreibt, wodurch der
Hafen, die Ufer und niedrigen Stadtteile mit Vcrwesungsstoffen getränkt
werden. Die Betriebsstätte der Wasserkunst zu Rvthenburgsort liegt wenig
oberhalb der Stadt und im Bereiche der Flut. Das verunreinigte Wasser
wird bei ungenügender Filtrirung in die Leitungen gepumpt und der Stadt
zugeführt Hierzu kommt, daß das Wasserleitungswasser für den Bedarf der
Stadt bei weitem nicht ausreicht, und daß sich viele Bewohner des Elbwassers
oder des Wassers verunreinigter Brunnen bedienen. Solche Zustände bergen
eine außerordentliche Gefahr. Verfährt man nun noch mit der unglaublichen
Lotterei, daß man die Abwäsfer eines Choleraquarantäneortes in die Elbe
leitet, in ein Wasserbecken, das den allergünstigsten Nährboden für den Cholera-
bacillus bildet, so kann man sich über den Erfolg nicht wundern. Als in
Spanien vor etlichen Jahren die Cholera oberhalb Barcelonas ausbrach, hatte
man infizirte Kleidungsstücke in einem Bache gewaschen, und die Bewohner


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[0014] unser Hafen wahrscheinlich schon infizirt, ehe überhaupt ein wirklicher Cholera¬ fall vorkam, und die ersten ernstern Erkrankungen wären dann nicht als Ursache, sondern als Folge der Wasservergiftung anzusehen. Ohne Zweifel war Hamburg zur Zeit der Einschleppung wie ein volles Pulverfaß. Es bedürfte nur eines Fünkchens, um die gewaltige Explosion herbeizuführen. Solche Fünkchen sind im modernen Verkehr, zumal auf dem Landwege, un¬ möglich abzusperren. Allerdings haben die vielen Flüchtlinge aus Hamburg, die auswärts erkrankt sind, bis jetzt noch nirgends eine Epidemie erzeugt, und man glaubt, daß das den dort geübten energischen Jsolirungeu und Des¬ infektionen zu danken sei. Ich bin ketzerisch genug, die Nichtigkeit dieses Schlusses sehr ernstlich zu bezweifeln, schon allein um der Diarrhoekrauken willen, die allen diesen Maßnahmen nicht unterworfen werden. Meines Er- achtens hängt das Verhalten eines Ortes gegenüber der Cholera viel weniger davon ab, wie bald der erste Fall konstatirt wird, und was dann gegen die Weiterverbreitung geschieht, als vor allem davon, in welchem sanitären Zu¬ stande sich der Ort zur Zeit der Einschleppung befindet, und weiter, ob die in ihrem ursächlichen Zusammenhange noch wenig aufgeklärten zeitlichen und örtlichen Dispositionen Pettenkofcrs vorhanden sind oder nicht." Hiermit erhebt I)r. Reineke gegen die Stadtverwaltung von Hamburg eine schwere Anklage. Denn wer anders als diese ist für den sanitären Zustand der Stadt verantwortlich? Wer ist daran schuld, daß Hamburg zur Zeit der Einschleppung „wie ein volles Pulverfaß" war? Es liegen Versäumnisse von Jahrzehnten vor, die sich jetzt mit einemmale strafen. Die Kanalisation und die Wasserversorgung Hamburgs befinden sich in höchst bedenklichem Zustande. Hamburg entläßt seine Schmutzwässer in der Nähe der Altonaer Grenze in die Elbe. Das ist an sich keine schöne Ein¬ richtung, wird aber dadurch zu einem wahren Unglück, daß die Flut, die bis über Hamburg hinauf wirkt, diesen Schmutz in die Stadt zurücktreibt, wodurch der Hafen, die Ufer und niedrigen Stadtteile mit Vcrwesungsstoffen getränkt werden. Die Betriebsstätte der Wasserkunst zu Rvthenburgsort liegt wenig oberhalb der Stadt und im Bereiche der Flut. Das verunreinigte Wasser wird bei ungenügender Filtrirung in die Leitungen gepumpt und der Stadt zugeführt Hierzu kommt, daß das Wasserleitungswasser für den Bedarf der Stadt bei weitem nicht ausreicht, und daß sich viele Bewohner des Elbwassers oder des Wassers verunreinigter Brunnen bedienen. Solche Zustände bergen eine außerordentliche Gefahr. Verfährt man nun noch mit der unglaublichen Lotterei, daß man die Abwäsfer eines Choleraquarantäneortes in die Elbe leitet, in ein Wasserbecken, das den allergünstigsten Nährboden für den Cholera- bacillus bildet, so kann man sich über den Erfolg nicht wundern. Als in Spanien vor etlichen Jahren die Cholera oberhalb Barcelonas ausbrach, hatte man infizirte Kleidungsstücke in einem Bache gewaschen, und die Bewohner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/14>, abgerufen am 22.12.2024.