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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr.

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stimmmig uiisrer Beweggründe mit ihnen das Kennzeichen subjektiver Sittlich¬
keit abgeben sollte. Daß uns aber diese Zwecke, nicht des Gesnmtwillens,
sondern des höchsten Willens, inibekannt bleiben, gesteht Wunde selbst Seite 608
mit den noch dazu durch gesperrten Druck hervorgehvbnen Worten zu: "Die
Wahrheit, über die schließlich auch alle Wissenschaft nicht empordringen kann,
daß der einzelne nicht für sich selbst lebt, sondern daß er mit seinem Einzel¬
dasein in einer allgemeinen geistigen Gemeinschaft aufgeht jdas "Aufgehen"
bestreikn wir, wenn es mehr als ein Bild sein svllj, mit den endlichen
Zwecken, die er verfolgt, unendlichen Zwecken dient, deren letzte Erfüllung
seinen: Auge verborgen bleibt ^wcirum nicht: die .... verborgen bleiben?s,
diese Wahrheit predigt die Religion jedem Gemüt."

So lange man sich in der Ethik damit abquält, nach den: höchsten und
letzten Gegenstande des sittlichen Strebens zu forsche", wird man immer ent¬
weder ins Bodenlose versinken oder an einer Sandbank stranden. Entweder
man geht rettungslos in dein Zirkel nnter: sittlich ist, was Gott oder die
Gesamtheit will, was Gott aber oder die Gesamtheit will -- ist das
Sittliche. Oder man sitzt auf einer jener oberflächlichen Parteimoralen fest,
die allerdings den Vorzug leichter Verständlichkeit und Erfüllbarkeit haben,
und erklärt kurz entschlossen: sittlich ist, wer der römischen Kirche ge¬
horcht, oder wer an Luthers Rechtfertigungslehre glaubt, oder wer
der Aufklärung huldigt, oder wer deu Koinmiiuismus verwirklicht, oder
wer dein Staate so dient, wie es der König von Preußen will, u. s. w.
Objektiv läßt sich die Sittlichkeit nur als Verwirklichung der sittlichen Ideen
oder, anders ausgedrückt, als Tugendübung bestimmen; zu untersuchen, woher
diese durch die Erfahrung gegebnen Ideen stammen, ist nicht mehr Aufgabe
der Ethik, sondern einerseits der Völkerpsychologie, andrerseits der Metaphysik.
Daß die Verwirklichung der Ideen nicht minder wie der Kulturfortschritt und
die Gesamtheit aller politischen Veränderungen einem uns unbekannten jen¬
seitigen Zwecke diene, heißt die Religion uns glaube", und zugleich heißt sie
uns hoffe", daß das Einzelglück aller in diesen höchsten Zweck eingeschlossen
sein werde. Wollen wir nicht in den endlosen Zirkel zurückfallen, so dürfen
wir auch bei der Begriffserkläruug des subjektiv Sittlichen, der Sittlichkeit,
nicht auf dieses unbekannte höchste Objekt des Sittlichen zurückgreifen. Wir
schlagen folgende Erklärung vor, deren Begründung in Erwägungen enthalten
ist, die wir bei andern Gelegenheiten angestellt haben: Ein Mensch ist unsitt¬
lich oder sittlich in dem Grade, als er sein Glück entweder im einsamen Genuß
und auf Kohle" andrer, oder im Glück andrer und mit Aufopferung eigner
Genüsse sucht, erstrebt und findet. Daß bei": sittlichen Handeln die Beweg¬
gründe den Zwecken des höchsten Willens entsprechen, versteht sich von selber,
aber an der Übereinstimmung mit diesen uns unbekannten Zwecken kann der
Grad ihrer Güte oder Schlechtigkeit nicht gemessen werden.


stimmmig uiisrer Beweggründe mit ihnen das Kennzeichen subjektiver Sittlich¬
keit abgeben sollte. Daß uns aber diese Zwecke, nicht des Gesnmtwillens,
sondern des höchsten Willens, inibekannt bleiben, gesteht Wunde selbst Seite 608
mit den noch dazu durch gesperrten Druck hervorgehvbnen Worten zu: „Die
Wahrheit, über die schließlich auch alle Wissenschaft nicht empordringen kann,
daß der einzelne nicht für sich selbst lebt, sondern daß er mit seinem Einzel¬
dasein in einer allgemeinen geistigen Gemeinschaft aufgeht jdas „Aufgehen"
bestreikn wir, wenn es mehr als ein Bild sein svllj, mit den endlichen
Zwecken, die er verfolgt, unendlichen Zwecken dient, deren letzte Erfüllung
seinen: Auge verborgen bleibt ^wcirum nicht: die .... verborgen bleiben?s,
diese Wahrheit predigt die Religion jedem Gemüt."

So lange man sich in der Ethik damit abquält, nach den: höchsten und
letzten Gegenstande des sittlichen Strebens zu forsche», wird man immer ent¬
weder ins Bodenlose versinken oder an einer Sandbank stranden. Entweder
man geht rettungslos in dein Zirkel nnter: sittlich ist, was Gott oder die
Gesamtheit will, was Gott aber oder die Gesamtheit will — ist das
Sittliche. Oder man sitzt auf einer jener oberflächlichen Parteimoralen fest,
die allerdings den Vorzug leichter Verständlichkeit und Erfüllbarkeit haben,
und erklärt kurz entschlossen: sittlich ist, wer der römischen Kirche ge¬
horcht, oder wer an Luthers Rechtfertigungslehre glaubt, oder wer
der Aufklärung huldigt, oder wer deu Koinmiiuismus verwirklicht, oder
wer dein Staate so dient, wie es der König von Preußen will, u. s. w.
Objektiv läßt sich die Sittlichkeit nur als Verwirklichung der sittlichen Ideen
oder, anders ausgedrückt, als Tugendübung bestimmen; zu untersuchen, woher
diese durch die Erfahrung gegebnen Ideen stammen, ist nicht mehr Aufgabe
der Ethik, sondern einerseits der Völkerpsychologie, andrerseits der Metaphysik.
Daß die Verwirklichung der Ideen nicht minder wie der Kulturfortschritt und
die Gesamtheit aller politischen Veränderungen einem uns unbekannten jen¬
seitigen Zwecke diene, heißt die Religion uns glaube», und zugleich heißt sie
uns hoffe», daß das Einzelglück aller in diesen höchsten Zweck eingeschlossen
sein werde. Wollen wir nicht in den endlosen Zirkel zurückfallen, so dürfen
wir auch bei der Begriffserkläruug des subjektiv Sittlichen, der Sittlichkeit,
nicht auf dieses unbekannte höchste Objekt des Sittlichen zurückgreifen. Wir
schlagen folgende Erklärung vor, deren Begründung in Erwägungen enthalten
ist, die wir bei andern Gelegenheiten angestellt haben: Ein Mensch ist unsitt¬
lich oder sittlich in dem Grade, als er sein Glück entweder im einsamen Genuß
und auf Kohle» andrer, oder im Glück andrer und mit Aufopferung eigner
Genüsse sucht, erstrebt und findet. Daß bei»: sittlichen Handeln die Beweg¬
gründe den Zwecken des höchsten Willens entsprechen, versteht sich von selber,
aber an der Übereinstimmung mit diesen uns unbekannten Zwecken kann der
Grad ihrer Güte oder Schlechtigkeit nicht gemessen werden.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_213113/118>, abgerufen am 23.07.2024.