Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Provinzen haben, so weit sie sich überhaupt noch im Besitz befinden, ihr Vieh und den Nun überlege man! Schon hat, abgesehen von der eben angedeuteten Mißwirt¬ Die Revanchelust der Franzosen ist bei den Verständigem nur Maske der *) Vorläufig sieht solches Überfluten bedeutend weniger großartig und poetisch aus als in der Völkerwanderung. Italien wimmelt gegenwärtig von deutschen Stromern und Fecht¬ brüdern; das ist die Wirkung der "Bekämpfung der Bagabundenplage." Grenzboten III 13N2 12
Maßgebliches und Unmaßgebliches Provinzen haben, so weit sie sich überhaupt noch im Besitz befinden, ihr Vieh und den Nun überlege man! Schon hat, abgesehen von der eben angedeuteten Mißwirt¬ Die Revanchelust der Franzosen ist bei den Verständigem nur Maske der *) Vorläufig sieht solches Überfluten bedeutend weniger großartig und poetisch aus als in der Völkerwanderung. Italien wimmelt gegenwärtig von deutschen Stromern und Fecht¬ brüdern; das ist die Wirkung der „Bekämpfung der Bagabundenplage." Grenzboten III 13N2 12
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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Provinzen haben, so weit sie sich überhaupt noch im Besitz befinden, ihr Vieh und den
Rest ihrer Energie eingebüßt, und das von der Regierung gelieferte Saatgetreide hat
nicht hingereicht. Unter anderm widmet auch der „Vorwärts" diesem Zustande
Rußlands eine Artikelreihe, die selbstverständlich nach der sozialdemokratischen
Schablone zugeschnitten ist und zu zeigen versucht, wie dieses Land im Begriff
stehe, die Geschicke des Kapitalismus zu vollenden. Der ganze Bauernstand werde
depossedirt werden und teils der Fabriksklaverei verfallen, teils als Landarbeiter¬
schaft die nun entstehenden Latifundien im Dienste neuer Herren ans dem Kapi¬
talistenstande bewirtschaften. So werde jetzt auch in Rußland dem Kapitalismus
sei» Weizen blühen, zugleich aber auch die internationale Sozialdemokratie um den
größten Teil des russischen Volks verstärkt und hierdurch der Sieg beschleunigt
werden. Diese Perspektive, die wir für verfehlt halten, interessirt uns weiter nicht,
dafür aber etwas andres um so mehr. Der „Vorwärts" führt u. a. die wahr¬
scheinlich richtige Thatsache an, daß Rußland bisher mehr als die Hälfte der
Getreideznfnhr geliefert habe, deren die europäischen Industriestaaten bedürfen.
Nun überlege man! Schon hat, abgesehen von der eben angedeuteten Mißwirt¬
schaft, ein heilloser Raubbau verbunden mit unsinniger Waldverwüstung die russische
Getreideproduktion vermindert; von allen Seiten her wird es bezeugt, daß die Flüsse
austrocknen, und in den ehedem, fruchtbarste» Provinzen der Humus verschwindet.
Wir haben also folgende Lage. Im Westen Europas stoßen einander, in angstvolle
Enge eingekeilt, dritthnlbhnndert Millionen Menschen, die Geist genug haben,
ein paar hunderttausend Quadratmeilen Ödland in ein Paradies zu verwandeln.
Im Osten hungern einhundert Millionen Menschen, verstreut über eine Fläche, die
so groß ist wie das ganze übrige Europa, und lassen den fruchtbarsten Boden
veröden. Wem gehören nun eigentlich diese sechstehalb Millionen Quadratkilometer
russischen Bodens? Sind sie den herrschenden Mächten bis zum jüngsten Tage
verschrieben? Oder gehören sie der spitzbübischen russischen Bureaukratie? Oder
den Wucherer», die deu Bauer vou Haus und Hof jagen, nachdem sie ihn so voll¬
ständig ausgepreßt haben, daß er keinen Zins mehr herauszuarbeiten vermag?
Alles positive Eigentumsrecht wird Unrecht und Unsinn, sobald es seinen Zweck,
die Erhaltung des Menschengeschlechts, nicht mehr erfüllt, sondern selbst vereitelt.
Nicht die Erhaltung des Friedens kann das Endziel der europäischen Staats¬
weisheit sein, eiues Friedens, der die Völker mit Steuern erdrückt und die Sol¬
daten zu einem unausgesetzten Drill verurteilt, der zehnmal anstrengender ist, als
ers vor dreißig Jahren war, und die absolut vollkommne Waffe für den Krieg
schaffen und scharf halten soll, damit nnr kein Krieg aufbreche; sondern das nächste
Ziel der europäischen Staatskunst kann nur sein, die Macht, über die sie verfügt,
dazu zu verwenden, daß sie das Leben der europäischen Völker wieder auf eine
breitere, auf eine gesunde Grundlage stellt, die unnatürliche Verteilung von Geist
und Boden ausgleicht, dem verkümmernder Geiste wieder Boden als geräumige
Werkstatt, dem verwahrlosten Boden wieder befruchtenden Geist meent und so
gleichzeitig der Not der Russen wie der westlichen Jndustrievvlker abhilft.
Die Revanchelust der Franzosen ist bei den Verständigem nur Maske der
Furcht. Sie wissen, daß ihre Volkszahl stehen bleibt, während die Deutschlands
stetig wächst und die Grenzen zu überfluten droht.") Sie fürchten, das gewaltige
*) Vorläufig sieht solches Überfluten bedeutend weniger großartig und poetisch aus als
in der Völkerwanderung. Italien wimmelt gegenwärtig von deutschen Stromern und Fecht¬
brüdern; das ist die Wirkung der „Bekämpfung der Bagabundenplage."
Grenzboten III 13N2 12
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