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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Fortgang der politischen Theorie in unserm Zeitalter haben sie gar keinen
Einfluß ausgeübt. Es entsteht nun die Frage, woher die Elemente in unsre
heutige Stantsansicht gekommen sind, die der gesamten ältern Theorie durchaus
fremd sind, also zum Beispiel unsre Ausfassung des Königtums. Denn es
wird doch niemand behaupte", daß, wer heute die Berechtigung dieser In¬
stitution überhaupt noch zugiebt, sie auf den <üontra,t> sooig.1 oder die Lehre
von der Teilung der Gewalten gründe. Andrerseits sind es auch nur wenige
extreme Stimmen, die noch von einem Königtum von Gottes Gnaden im Sinne
Jakobs des Ersten und Ludwigs des Vierzehnte" sprechen; in dem Geräusch
unsrer politischen Diskussionen machen sie sich kaum bemerkbar.

Die Geschichte der Staatswissenschaften hat diese Frage längst beant¬
wortet: der geistige Urheber der neuen konservativen Doktrin unsers Jahr¬
hunderts ist der Schweizer Karl Ludwig von Haller. Dadurch, daß er den
Unterschied zwischen natürlicher und bürgerlicher Gesellschaft nicht wollte gelten
lassen, erschütterte er das ganze Gebäude der politischen Theorie, wie es die
letzten zwei Jahrhunderte aufgeführt hatten; nicht nur den Anwälten des kon¬
stitutionellen Schemas nach französischem Muster, auch dessen Bestreitern
entzog er den Boden, auf dem sie Stellung genommen hatten.

Eben in jenen Abhandlungen Rankes, von denen wir ausgegangen sind,
findet sich die Bemerkung: wenngleich die Doktrin ihr eignes Leben habe und
sich durch Spekulation fortentwickle, so übe doch die reale Welt allemal einen
bedeutenden Einfluß auf sie aus: die großen Krisen der Gesellschaft gäben
Impulse zu neuen Auffassungen, Idealen, Systemen. Das Zusammenwirken
jener innern und dieser äußern Motive bildet den eigentlichen Gegenstand von
Ranles Untersuchungen.

Bon der Lehre Hallers könnte man sagen, sie sei trotz aller ihrer
scheinbaren Ursprünglichkeit aus eiuer längst verbreiteten Ansicht entsprungen,
die auf den von ihm oft und mit Geringschätzung bestrittenen Montesquieu
zurückgeht: daß nämlich die natürlichen Verhältnisse eines Landes -- Klima,
Lage, Sinnesart der Bewohner, ihre Vergangenheit, ihre ökonomischen und
gesellschaftlichen Zustände -- den Charakter der Verfassung bestimmten, die
ihm allein angemessen sei, und daß es kein Schema eines besten Staates gebe,
das sich überall und unter allen Umständen anwenden lasse. Andrerseits
meinen wir aber, daß die Ausbildung der Hallerschen Doktrin zu ihrer eigen¬
tümlichen Gestalt äußern Veranlassungen zuzuschreiben sei. Wir finden diese
in deu Umwälzungen, die das Vaterland Hallers, die Schweiz, in der Zeit,
wo er auf der Höhe des Lebens stand, zwischen 1798 und 1830, erfahren
hat. Hierauf ist bis jetzt nur wenig Rücksicht genommen worden.

Haller war 1768 geboren und hat von seinem sechzehnten Jahre an in
seiner Vaterstadt Bern, zu deren politisch berechtigten Geschlechtern seine Familie
gehörte, in öffentlichen Dienste" gestanden. Als sogenannter Kommissions-


Fortgang der politischen Theorie in unserm Zeitalter haben sie gar keinen
Einfluß ausgeübt. Es entsteht nun die Frage, woher die Elemente in unsre
heutige Stantsansicht gekommen sind, die der gesamten ältern Theorie durchaus
fremd sind, also zum Beispiel unsre Ausfassung des Königtums. Denn es
wird doch niemand behaupte», daß, wer heute die Berechtigung dieser In¬
stitution überhaupt noch zugiebt, sie auf den <üontra,t> sooig.1 oder die Lehre
von der Teilung der Gewalten gründe. Andrerseits sind es auch nur wenige
extreme Stimmen, die noch von einem Königtum von Gottes Gnaden im Sinne
Jakobs des Ersten und Ludwigs des Vierzehnte» sprechen; in dem Geräusch
unsrer politischen Diskussionen machen sie sich kaum bemerkbar.

Die Geschichte der Staatswissenschaften hat diese Frage längst beant¬
wortet: der geistige Urheber der neuen konservativen Doktrin unsers Jahr¬
hunderts ist der Schweizer Karl Ludwig von Haller. Dadurch, daß er den
Unterschied zwischen natürlicher und bürgerlicher Gesellschaft nicht wollte gelten
lassen, erschütterte er das ganze Gebäude der politischen Theorie, wie es die
letzten zwei Jahrhunderte aufgeführt hatten; nicht nur den Anwälten des kon¬
stitutionellen Schemas nach französischem Muster, auch dessen Bestreitern
entzog er den Boden, auf dem sie Stellung genommen hatten.

Eben in jenen Abhandlungen Rankes, von denen wir ausgegangen sind,
findet sich die Bemerkung: wenngleich die Doktrin ihr eignes Leben habe und
sich durch Spekulation fortentwickle, so übe doch die reale Welt allemal einen
bedeutenden Einfluß auf sie aus: die großen Krisen der Gesellschaft gäben
Impulse zu neuen Auffassungen, Idealen, Systemen. Das Zusammenwirken
jener innern und dieser äußern Motive bildet den eigentlichen Gegenstand von
Ranles Untersuchungen.

Bon der Lehre Hallers könnte man sagen, sie sei trotz aller ihrer
scheinbaren Ursprünglichkeit aus eiuer längst verbreiteten Ansicht entsprungen,
die auf den von ihm oft und mit Geringschätzung bestrittenen Montesquieu
zurückgeht: daß nämlich die natürlichen Verhältnisse eines Landes — Klima,
Lage, Sinnesart der Bewohner, ihre Vergangenheit, ihre ökonomischen und
gesellschaftlichen Zustände — den Charakter der Verfassung bestimmten, die
ihm allein angemessen sei, und daß es kein Schema eines besten Staates gebe,
das sich überall und unter allen Umständen anwenden lasse. Andrerseits
meinen wir aber, daß die Ausbildung der Hallerschen Doktrin zu ihrer eigen¬
tümlichen Gestalt äußern Veranlassungen zuzuschreiben sei. Wir finden diese
in deu Umwälzungen, die das Vaterland Hallers, die Schweiz, in der Zeit,
wo er auf der Höhe des Lebens stand, zwischen 1798 und 1830, erfahren
hat. Hierauf ist bis jetzt nur wenig Rücksicht genommen worden.

Haller war 1768 geboren und hat von seinem sechzehnten Jahre an in
seiner Vaterstadt Bern, zu deren politisch berechtigten Geschlechtern seine Familie
gehörte, in öffentlichen Dienste» gestanden. Als sogenannter Kommissions-


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[0596] Fortgang der politischen Theorie in unserm Zeitalter haben sie gar keinen Einfluß ausgeübt. Es entsteht nun die Frage, woher die Elemente in unsre heutige Stantsansicht gekommen sind, die der gesamten ältern Theorie durchaus fremd sind, also zum Beispiel unsre Ausfassung des Königtums. Denn es wird doch niemand behaupte», daß, wer heute die Berechtigung dieser In¬ stitution überhaupt noch zugiebt, sie auf den <üontra,t> sooig.1 oder die Lehre von der Teilung der Gewalten gründe. Andrerseits sind es auch nur wenige extreme Stimmen, die noch von einem Königtum von Gottes Gnaden im Sinne Jakobs des Ersten und Ludwigs des Vierzehnte» sprechen; in dem Geräusch unsrer politischen Diskussionen machen sie sich kaum bemerkbar. Die Geschichte der Staatswissenschaften hat diese Frage längst beant¬ wortet: der geistige Urheber der neuen konservativen Doktrin unsers Jahr¬ hunderts ist der Schweizer Karl Ludwig von Haller. Dadurch, daß er den Unterschied zwischen natürlicher und bürgerlicher Gesellschaft nicht wollte gelten lassen, erschütterte er das ganze Gebäude der politischen Theorie, wie es die letzten zwei Jahrhunderte aufgeführt hatten; nicht nur den Anwälten des kon¬ stitutionellen Schemas nach französischem Muster, auch dessen Bestreitern entzog er den Boden, auf dem sie Stellung genommen hatten. Eben in jenen Abhandlungen Rankes, von denen wir ausgegangen sind, findet sich die Bemerkung: wenngleich die Doktrin ihr eignes Leben habe und sich durch Spekulation fortentwickle, so übe doch die reale Welt allemal einen bedeutenden Einfluß auf sie aus: die großen Krisen der Gesellschaft gäben Impulse zu neuen Auffassungen, Idealen, Systemen. Das Zusammenwirken jener innern und dieser äußern Motive bildet den eigentlichen Gegenstand von Ranles Untersuchungen. Bon der Lehre Hallers könnte man sagen, sie sei trotz aller ihrer scheinbaren Ursprünglichkeit aus eiuer längst verbreiteten Ansicht entsprungen, die auf den von ihm oft und mit Geringschätzung bestrittenen Montesquieu zurückgeht: daß nämlich die natürlichen Verhältnisse eines Landes — Klima, Lage, Sinnesart der Bewohner, ihre Vergangenheit, ihre ökonomischen und gesellschaftlichen Zustände — den Charakter der Verfassung bestimmten, die ihm allein angemessen sei, und daß es kein Schema eines besten Staates gebe, das sich überall und unter allen Umständen anwenden lasse. Andrerseits meinen wir aber, daß die Ausbildung der Hallerschen Doktrin zu ihrer eigen¬ tümlichen Gestalt äußern Veranlassungen zuzuschreiben sei. Wir finden diese in deu Umwälzungen, die das Vaterland Hallers, die Schweiz, in der Zeit, wo er auf der Höhe des Lebens stand, zwischen 1798 und 1830, erfahren hat. Hierauf ist bis jetzt nur wenig Rücksicht genommen worden. Haller war 1768 geboren und hat von seinem sechzehnten Jahre an in seiner Vaterstadt Bern, zu deren politisch berechtigten Geschlechtern seine Familie gehörte, in öffentlichen Dienste» gestanden. Als sogenannter Kommissions-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/596>, abgerufen am 06.01.2025.