Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Reise ins Kloster

Als wir erwachten, hielten wir vor einem großen Hause. Die Sonne
war im Untergehen, und wie uns der Hausknecht aus dem Wagen hob, sahen
wir, noch schlaftrunken, auf die Straßen einer kleinen Stadt. Dann saßen
wir plötzlich in einer kühlen, dunkeln Gaststube, sollten essen und mochten nicht,
sondern blinzelten halb besinnungslos um uns.

Vater sand nicht viel Zeit, sich um uns zu bekümmern; er hatte zufällig
einen Universitätsfreund getroffen, und beide Herren unterhielten sich lebhaft.
Das Hausmädchen brachte mich zu Bette, während sich Jürgen energisch jede
weibliche Hilfe verbat. Wir hatten zwei aneinanderstoßende Zimmer und
glücklicherweise keine Himmelbetten. Als ich aber in den Kissen lag, wurde
ich wieder vollständig wach. War es die ungewohnte Umgebung, das fremde
Lager -- kurz, alle Müdigkeit war von mir gewichen. Ich setzte mich im Bett
aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln. War ich wirklich fern von
den andern Brüdern, von der Insel, von zu Hause? Und als mir immer
klarer wurde, daß ich mich in der Fremde befand, kam das bitterste Heimweh
über mich, und das Gefühl eines solchen Leids, daß ich es noch heute
empfinde.

Wie lange ich in die Kissen geschluchzt habe, weiß ich nicht; plötzlich aber
öffnete sich die Thür, und Jürgen huschte herein. Komm schnell! rief er,
draußen vor der Thür spielen junge Katzen mit deinen Sonntagsstiefeln!

In einer Sekunde war ich aus dem Bett und aus dem Vorplatz. Dort
zerrten drei junge, halberwachsene Katzen seelenvergnügt an meinen Stiefeln,
und die Kcitzenmntter saß auf der Bodentreppe und sah dem Treiben ihrer
Kinder zu. Es war reizend -- aber es waren doch meine Sonntagsstiesel,
und ich stand ratlos vor der Notwendigkeit, mein bestes Eigentum möglichst
zu schützen. Ich gönnte ja den Katzen ihr Vergnügen von Herzen, aber ich
dachte auch an Mutter. Jürgen warf ihnen ein paar fürchterlich alte Pan¬
toffel hin, die er unter seinem Bett hervorgegraben hatte, aber die ließen sie
liegen und bewiesen damit allerdings einen achtungswerten Geschmack -- aber
was sollte ich um ansaugen? Da durchzuckte mich ein rettender Gedanke:
ich wollte ihnen eine weiße Maus opfern -- nur eine, drei waren genug für
die Taute. Sie lebten noch alle vier, vorhin erst hatte ich mich davon über¬
zeugt, denn sie hatten nicht bloß die Semmel, sondern auch ein Stück Seife
aufgefressen, das ich in die Tasche gesteckt hatte, Veilchenseife. Sie schienen
ordentlich dick geworden zu sein, wie ich mich durch vorsichtiges Öffnen der
Tasche überzeugt hatte. Die magerste von den vier sollte also den Kätzchen
überliefert werden. Zum Spielen natürlich; wenn sie dann schließlich verspeist
wurde, schadete es auch nicht allzuviel.

Jürgen ging mit sehr viel Begeisterung auf meinen Plan ein, und weil
er sich von mir an Großmut nicht übertreffen lassen wollte, holte er sein
Grashüpferkästchen, um auch sein Teil zum Katzenvergnügen beizutragen. Aber


Die Reise ins Kloster

Als wir erwachten, hielten wir vor einem großen Hause. Die Sonne
war im Untergehen, und wie uns der Hausknecht aus dem Wagen hob, sahen
wir, noch schlaftrunken, auf die Straßen einer kleinen Stadt. Dann saßen
wir plötzlich in einer kühlen, dunkeln Gaststube, sollten essen und mochten nicht,
sondern blinzelten halb besinnungslos um uns.

Vater sand nicht viel Zeit, sich um uns zu bekümmern; er hatte zufällig
einen Universitätsfreund getroffen, und beide Herren unterhielten sich lebhaft.
Das Hausmädchen brachte mich zu Bette, während sich Jürgen energisch jede
weibliche Hilfe verbat. Wir hatten zwei aneinanderstoßende Zimmer und
glücklicherweise keine Himmelbetten. Als ich aber in den Kissen lag, wurde
ich wieder vollständig wach. War es die ungewohnte Umgebung, das fremde
Lager — kurz, alle Müdigkeit war von mir gewichen. Ich setzte mich im Bett
aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln. War ich wirklich fern von
den andern Brüdern, von der Insel, von zu Hause? Und als mir immer
klarer wurde, daß ich mich in der Fremde befand, kam das bitterste Heimweh
über mich, und das Gefühl eines solchen Leids, daß ich es noch heute
empfinde.

Wie lange ich in die Kissen geschluchzt habe, weiß ich nicht; plötzlich aber
öffnete sich die Thür, und Jürgen huschte herein. Komm schnell! rief er,
draußen vor der Thür spielen junge Katzen mit deinen Sonntagsstiefeln!

In einer Sekunde war ich aus dem Bett und aus dem Vorplatz. Dort
zerrten drei junge, halberwachsene Katzen seelenvergnügt an meinen Stiefeln,
und die Kcitzenmntter saß auf der Bodentreppe und sah dem Treiben ihrer
Kinder zu. Es war reizend — aber es waren doch meine Sonntagsstiesel,
und ich stand ratlos vor der Notwendigkeit, mein bestes Eigentum möglichst
zu schützen. Ich gönnte ja den Katzen ihr Vergnügen von Herzen, aber ich
dachte auch an Mutter. Jürgen warf ihnen ein paar fürchterlich alte Pan¬
toffel hin, die er unter seinem Bett hervorgegraben hatte, aber die ließen sie
liegen und bewiesen damit allerdings einen achtungswerten Geschmack — aber
was sollte ich um ansaugen? Da durchzuckte mich ein rettender Gedanke:
ich wollte ihnen eine weiße Maus opfern — nur eine, drei waren genug für
die Taute. Sie lebten noch alle vier, vorhin erst hatte ich mich davon über¬
zeugt, denn sie hatten nicht bloß die Semmel, sondern auch ein Stück Seife
aufgefressen, das ich in die Tasche gesteckt hatte, Veilchenseife. Sie schienen
ordentlich dick geworden zu sein, wie ich mich durch vorsichtiges Öffnen der
Tasche überzeugt hatte. Die magerste von den vier sollte also den Kätzchen
überliefert werden. Zum Spielen natürlich; wenn sie dann schließlich verspeist
wurde, schadete es auch nicht allzuviel.

Jürgen ging mit sehr viel Begeisterung auf meinen Plan ein, und weil
er sich von mir an Großmut nicht übertreffen lassen wollte, holte er sein
Grashüpferkästchen, um auch sein Teil zum Katzenvergnügen beizutragen. Aber


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0570" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213046"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Reise ins Kloster</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1885"> Als wir erwachten, hielten wir vor einem großen Hause. Die Sonne<lb/>
war im Untergehen, und wie uns der Hausknecht aus dem Wagen hob, sahen<lb/>
wir, noch schlaftrunken, auf die Straßen einer kleinen Stadt. Dann saßen<lb/>
wir plötzlich in einer kühlen, dunkeln Gaststube, sollten essen und mochten nicht,<lb/>
sondern blinzelten halb besinnungslos um uns.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1886"> Vater sand nicht viel Zeit, sich um uns zu bekümmern; er hatte zufällig<lb/>
einen Universitätsfreund getroffen, und beide Herren unterhielten sich lebhaft.<lb/>
Das Hausmädchen brachte mich zu Bette, während sich Jürgen energisch jede<lb/>
weibliche Hilfe verbat. Wir hatten zwei aneinanderstoßende Zimmer und<lb/>
glücklicherweise keine Himmelbetten. Als ich aber in den Kissen lag, wurde<lb/>
ich wieder vollständig wach. War es die ungewohnte Umgebung, das fremde<lb/>
Lager &#x2014; kurz, alle Müdigkeit war von mir gewichen. Ich setzte mich im Bett<lb/>
aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln. War ich wirklich fern von<lb/>
den andern Brüdern, von der Insel, von zu Hause? Und als mir immer<lb/>
klarer wurde, daß ich mich in der Fremde befand, kam das bitterste Heimweh<lb/>
über mich, und das Gefühl eines solchen Leids, daß ich es noch heute<lb/>
empfinde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1887"> Wie lange ich in die Kissen geschluchzt habe, weiß ich nicht; plötzlich aber<lb/>
öffnete sich die Thür, und Jürgen huschte herein. Komm schnell! rief er,<lb/>
draußen vor der Thür spielen junge Katzen mit deinen Sonntagsstiefeln!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1888"> In einer Sekunde war ich aus dem Bett und aus dem Vorplatz. Dort<lb/>
zerrten drei junge, halberwachsene Katzen seelenvergnügt an meinen Stiefeln,<lb/>
und die Kcitzenmntter saß auf der Bodentreppe und sah dem Treiben ihrer<lb/>
Kinder zu. Es war reizend &#x2014; aber es waren doch meine Sonntagsstiesel,<lb/>
und ich stand ratlos vor der Notwendigkeit, mein bestes Eigentum möglichst<lb/>
zu schützen. Ich gönnte ja den Katzen ihr Vergnügen von Herzen, aber ich<lb/>
dachte auch an Mutter. Jürgen warf ihnen ein paar fürchterlich alte Pan¬<lb/>
toffel hin, die er unter seinem Bett hervorgegraben hatte, aber die ließen sie<lb/>
liegen und bewiesen damit allerdings einen achtungswerten Geschmack &#x2014; aber<lb/>
was sollte ich um ansaugen? Da durchzuckte mich ein rettender Gedanke:<lb/>
ich wollte ihnen eine weiße Maus opfern &#x2014; nur eine, drei waren genug für<lb/>
die Taute. Sie lebten noch alle vier, vorhin erst hatte ich mich davon über¬<lb/>
zeugt, denn sie hatten nicht bloß die Semmel, sondern auch ein Stück Seife<lb/>
aufgefressen, das ich in die Tasche gesteckt hatte, Veilchenseife. Sie schienen<lb/>
ordentlich dick geworden zu sein, wie ich mich durch vorsichtiges Öffnen der<lb/>
Tasche überzeugt hatte. Die magerste von den vier sollte also den Kätzchen<lb/>
überliefert werden. Zum Spielen natürlich; wenn sie dann schließlich verspeist<lb/>
wurde, schadete es auch nicht allzuviel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1889" next="#ID_1890"> Jürgen ging mit sehr viel Begeisterung auf meinen Plan ein, und weil<lb/>
er sich von mir an Großmut nicht übertreffen lassen wollte, holte er sein<lb/>
Grashüpferkästchen, um auch sein Teil zum Katzenvergnügen beizutragen. Aber</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0570] Die Reise ins Kloster Als wir erwachten, hielten wir vor einem großen Hause. Die Sonne war im Untergehen, und wie uns der Hausknecht aus dem Wagen hob, sahen wir, noch schlaftrunken, auf die Straßen einer kleinen Stadt. Dann saßen wir plötzlich in einer kühlen, dunkeln Gaststube, sollten essen und mochten nicht, sondern blinzelten halb besinnungslos um uns. Vater sand nicht viel Zeit, sich um uns zu bekümmern; er hatte zufällig einen Universitätsfreund getroffen, und beide Herren unterhielten sich lebhaft. Das Hausmädchen brachte mich zu Bette, während sich Jürgen energisch jede weibliche Hilfe verbat. Wir hatten zwei aneinanderstoßende Zimmer und glücklicherweise keine Himmelbetten. Als ich aber in den Kissen lag, wurde ich wieder vollständig wach. War es die ungewohnte Umgebung, das fremde Lager — kurz, alle Müdigkeit war von mir gewichen. Ich setzte mich im Bett aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln. War ich wirklich fern von den andern Brüdern, von der Insel, von zu Hause? Und als mir immer klarer wurde, daß ich mich in der Fremde befand, kam das bitterste Heimweh über mich, und das Gefühl eines solchen Leids, daß ich es noch heute empfinde. Wie lange ich in die Kissen geschluchzt habe, weiß ich nicht; plötzlich aber öffnete sich die Thür, und Jürgen huschte herein. Komm schnell! rief er, draußen vor der Thür spielen junge Katzen mit deinen Sonntagsstiefeln! In einer Sekunde war ich aus dem Bett und aus dem Vorplatz. Dort zerrten drei junge, halberwachsene Katzen seelenvergnügt an meinen Stiefeln, und die Kcitzenmntter saß auf der Bodentreppe und sah dem Treiben ihrer Kinder zu. Es war reizend — aber es waren doch meine Sonntagsstiesel, und ich stand ratlos vor der Notwendigkeit, mein bestes Eigentum möglichst zu schützen. Ich gönnte ja den Katzen ihr Vergnügen von Herzen, aber ich dachte auch an Mutter. Jürgen warf ihnen ein paar fürchterlich alte Pan¬ toffel hin, die er unter seinem Bett hervorgegraben hatte, aber die ließen sie liegen und bewiesen damit allerdings einen achtungswerten Geschmack — aber was sollte ich um ansaugen? Da durchzuckte mich ein rettender Gedanke: ich wollte ihnen eine weiße Maus opfern — nur eine, drei waren genug für die Taute. Sie lebten noch alle vier, vorhin erst hatte ich mich davon über¬ zeugt, denn sie hatten nicht bloß die Semmel, sondern auch ein Stück Seife aufgefressen, das ich in die Tasche gesteckt hatte, Veilchenseife. Sie schienen ordentlich dick geworden zu sein, wie ich mich durch vorsichtiges Öffnen der Tasche überzeugt hatte. Die magerste von den vier sollte also den Kätzchen überliefert werden. Zum Spielen natürlich; wenn sie dann schließlich verspeist wurde, schadete es auch nicht allzuviel. Jürgen ging mit sehr viel Begeisterung auf meinen Plan ein, und weil er sich von mir an Großmut nicht übertreffen lassen wollte, holte er sein Grashüpferkästchen, um auch sein Teil zum Katzenvergnügen beizutragen. Aber

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/570
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/570>, abgerufen am 08.01.2025.