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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Litteratur

trifft der Staat, die Kosten dafür tragen bis auf weiteres die Benutzer." Gemäß
dem Zweck der Erziehung, die Bürger für Krieg und Frieden tüchtig zu machen,
soll das Unterrichtswesen umgestaltet, der klassische Zopf endlich einmal abge¬
schnitten werden. Eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage der Bildung
aller Staatsbürger habe ehedem die christliche Kirche dargeboten. Durch ihre
Spaltung jedoch, die täglich zu immer weiterer Zerklüftung führe, habe sie sich
unfähig gemacht, das Volk zu einigen. Dem Staate bleibe unter diesen Umständen
als einigendes Gedankenband nur "der Kausalitätsgedanke und die auf diesem be¬
ruhende neue Wissenschaft." Auf eine Auseinandersetzung mit dem Verfasser über
diesen Puukt köunen wir nicht eingehen, weil sie zu weit führen würde. Auch auf
das boden- und uferlose Meer des Schulstreits lassen wir uns diesmal nicht ver¬
locken. Den Kulturwert des griechisch-römischen Altertums erkennt der Verfasser
übrigens an, wie wir unserseits die Verheerungen nicht bestreiten, die die Philologie
unter dem unberechtigten Namen der klassischen Bildung anrichtet. Aber der Ver¬
fasser übertreibt. Richtig ist, daß man in gewissen Kreisen immer dümmer wird.
Alls die Weltgeschichte von hinten folgen Examenfragen über das Jnvnlidengesetz,
nach den Namen der Söhne unsers Kaisers, und welcher davon die schönsten
Augen habe, und nach militärtechnischen Dingen aus der Kriegsgeschichte in einer
-- Lehrerinnenprüfung. Aber griechisch-römische Reinkulturen dürften es nicht,
sein, aus denen der Dummheitsbnzillus hervorkriecht. Gegen Charakterlosigkeit
schützt keine Naturwissenschaft und kein Studium der Kausalität.

Des Verfassers Sprache ist nicht weniger schneidig als seine Weltansicht.
Manche Wendungen sind reizend in ihrer drastischen Kürze, z. B. wenn er sagt:
"wobei jedoch der Wirtschaftswert der eigentlichen Jugendzeit fast (Gänsejunge)
oder gänzlich (Gymnasiast) Null ist." Von seinen schneidigen neuen Wortbildungen
dürfte namentlich die "Jnbenutzungnnhme" in einer gewissen "diesbezüglich" ma߬
gebenden Stelle das Bedenken erregen, ob eine nach des Verfassers Grundsätzen
eingerichtete Schule die deutsche Jugend in jeder Hinsicht zum Heile führen werde.
Sachtüchtigkeit und Formvollendung "differenziren" sich eben auch gern ein bischen
von einander. Solche kleine Mängel halten uns natürlich nicht ab, der Schrift
die weiteste Verbreitung und nachhaltige Beachtung zu wünschen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Carl Marquart in Leipzig
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trifft der Staat, die Kosten dafür tragen bis auf weiteres die Benutzer." Gemäß
dem Zweck der Erziehung, die Bürger für Krieg und Frieden tüchtig zu machen,
soll das Unterrichtswesen umgestaltet, der klassische Zopf endlich einmal abge¬
schnitten werden. Eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage der Bildung
aller Staatsbürger habe ehedem die christliche Kirche dargeboten. Durch ihre
Spaltung jedoch, die täglich zu immer weiterer Zerklüftung führe, habe sie sich
unfähig gemacht, das Volk zu einigen. Dem Staate bleibe unter diesen Umständen
als einigendes Gedankenband nur „der Kausalitätsgedanke und die auf diesem be¬
ruhende neue Wissenschaft." Auf eine Auseinandersetzung mit dem Verfasser über
diesen Puukt köunen wir nicht eingehen, weil sie zu weit führen würde. Auch auf
das boden- und uferlose Meer des Schulstreits lassen wir uns diesmal nicht ver¬
locken. Den Kulturwert des griechisch-römischen Altertums erkennt der Verfasser
übrigens an, wie wir unserseits die Verheerungen nicht bestreiten, die die Philologie
unter dem unberechtigten Namen der klassischen Bildung anrichtet. Aber der Ver¬
fasser übertreibt. Richtig ist, daß man in gewissen Kreisen immer dümmer wird.
Alls die Weltgeschichte von hinten folgen Examenfragen über das Jnvnlidengesetz,
nach den Namen der Söhne unsers Kaisers, und welcher davon die schönsten
Augen habe, und nach militärtechnischen Dingen aus der Kriegsgeschichte in einer
— Lehrerinnenprüfung. Aber griechisch-römische Reinkulturen dürften es nicht,
sein, aus denen der Dummheitsbnzillus hervorkriecht. Gegen Charakterlosigkeit
schützt keine Naturwissenschaft und kein Studium der Kausalität.

Des Verfassers Sprache ist nicht weniger schneidig als seine Weltansicht.
Manche Wendungen sind reizend in ihrer drastischen Kürze, z. B. wenn er sagt:
„wobei jedoch der Wirtschaftswert der eigentlichen Jugendzeit fast (Gänsejunge)
oder gänzlich (Gymnasiast) Null ist." Von seinen schneidigen neuen Wortbildungen
dürfte namentlich die „Jnbenutzungnnhme" in einer gewissen „diesbezüglich" ma߬
gebenden Stelle das Bedenken erregen, ob eine nach des Verfassers Grundsätzen
eingerichtete Schule die deutsche Jugend in jeder Hinsicht zum Heile führen werde.
Sachtüchtigkeit und Formvollendung „differenziren" sich eben auch gern ein bischen
von einander. Solche kleine Mängel halten uns natürlich nicht ab, der Schrift
die weiteste Verbreitung und nachhaltige Beachtung zu wünschen.






Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig
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[0440] Litteratur trifft der Staat, die Kosten dafür tragen bis auf weiteres die Benutzer." Gemäß dem Zweck der Erziehung, die Bürger für Krieg und Frieden tüchtig zu machen, soll das Unterrichtswesen umgestaltet, der klassische Zopf endlich einmal abge¬ schnitten werden. Eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage der Bildung aller Staatsbürger habe ehedem die christliche Kirche dargeboten. Durch ihre Spaltung jedoch, die täglich zu immer weiterer Zerklüftung führe, habe sie sich unfähig gemacht, das Volk zu einigen. Dem Staate bleibe unter diesen Umständen als einigendes Gedankenband nur „der Kausalitätsgedanke und die auf diesem be¬ ruhende neue Wissenschaft." Auf eine Auseinandersetzung mit dem Verfasser über diesen Puukt köunen wir nicht eingehen, weil sie zu weit führen würde. Auch auf das boden- und uferlose Meer des Schulstreits lassen wir uns diesmal nicht ver¬ locken. Den Kulturwert des griechisch-römischen Altertums erkennt der Verfasser übrigens an, wie wir unserseits die Verheerungen nicht bestreiten, die die Philologie unter dem unberechtigten Namen der klassischen Bildung anrichtet. Aber der Ver¬ fasser übertreibt. Richtig ist, daß man in gewissen Kreisen immer dümmer wird. Alls die Weltgeschichte von hinten folgen Examenfragen über das Jnvnlidengesetz, nach den Namen der Söhne unsers Kaisers, und welcher davon die schönsten Augen habe, und nach militärtechnischen Dingen aus der Kriegsgeschichte in einer — Lehrerinnenprüfung. Aber griechisch-römische Reinkulturen dürften es nicht, sein, aus denen der Dummheitsbnzillus hervorkriecht. Gegen Charakterlosigkeit schützt keine Naturwissenschaft und kein Studium der Kausalität. Des Verfassers Sprache ist nicht weniger schneidig als seine Weltansicht. Manche Wendungen sind reizend in ihrer drastischen Kürze, z. B. wenn er sagt: „wobei jedoch der Wirtschaftswert der eigentlichen Jugendzeit fast (Gänsejunge) oder gänzlich (Gymnasiast) Null ist." Von seinen schneidigen neuen Wortbildungen dürfte namentlich die „Jnbenutzungnnhme" in einer gewissen „diesbezüglich" ma߬ gebenden Stelle das Bedenken erregen, ob eine nach des Verfassers Grundsätzen eingerichtete Schule die deutsche Jugend in jeder Hinsicht zum Heile führen werde. Sachtüchtigkeit und Formvollendung „differenziren" sich eben auch gern ein bischen von einander. Solche kleine Mängel halten uns natürlich nicht ab, der Schrift die weiteste Verbreitung und nachhaltige Beachtung zu wünschen. Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Carl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/440>, abgerufen am 06.01.2025.