Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Litteratur schaft, in der es lebt, zu schützen. Hier nun wird einerseits betont, daß wir Litteratur schaft, in der es lebt, zu schützen. Hier nun wird einerseits betont, daß wir <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0438" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212914"/> <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/> <p xml:id="ID_1483" prev="#ID_1482" next="#ID_1484"> schaft, in der es lebt, zu schützen. Hier nun wird einerseits betont, daß wir<lb/> Handlungen, die wir gegen Angehörige derselben Gemeinschaft (Stamm, Nation,<lb/> Staat u. s. w.) begangen, als unsittlich verurteilen, gegenüber Angehörigen einer<lb/> andern „Sozietät" billigen können; andrerseits, daß der moralische Instinkt der<lb/> Völker des klassischen Altertums von dem unsrigen wesentlich verschieden war. Der<lb/> Verfasser wählt zum Beweise dafür das Beispiel der Adipussage und zeigt, daß<lb/> die Griechen deu Untergang des Ödipus und seines ganzen Geschlechts als verdient<lb/> ansahen, weil er, obwohl unbewußt, Thaten begangen hatte, die der Sozietät, die<lb/> der Familie schaden müssen. Sie „verabscheuten die unsittliche Handlung als solche<lb/> und kümmerten sich nicht um die Vorgänge im Gehirn des handelnden Subjektes.<lb/> Die Sünden der Väter rächen sich an den Kindern, das ist eine Naturerscheinung<lb/> des sozialen Lebens, und dieser hat die antike Moral Rechnung getragen. Auch<lb/> in der Bibel wird die Strafe an Kindern und Kindeskindern mit der Allgüte<lb/> Gottes vereinbar gefunden; das Kindeskind muß sein Schicksal ertragen; maßgebend<lb/> für dasselbe ist seine Stellung in der Sozietät, in der Familie, nicht sein persön¬<lb/> liches Denken und Fühlen." Diesem ungetrübten moralischen Instinkt der alten<lb/> Völker giebt Exner unverkennbar, im Interesse der Erhaltung der Art, deu Vor¬<lb/> zug vor dem Grundsatze der modernen Kultur, der „das Individuum gegen die<lb/> Härte der die Sozietät beherrschenden Naturgesetze in Schutz nahm, den Persön¬<lb/> lichen Gedanken und Gefühlen Gewicht verlieh und das handelnde Subjekt aus<lb/> seiner verschwindenden Kleinheit in der Gesamtheit der Sozietät zu einer selb¬<lb/> ständigen Stellung emporhob." Daß eine solche Auffassung heutzutage vielfachen<lb/> Widerspruch hervorrufen wird, ist nicht zu bezweifeln; und in seiner Allgemeinheit<lb/> wird sich der Satz auch anfechten lassen. Doch ist es dem Verfasser, wenn er<lb/> das auch nicht ausdrücklich ausspricht, wesentlich um die Rechtfertigung dessen zu<lb/> thun, was wir sonst gesunden nationalen Egoismus nennen. Dafür zeugt schon<lb/> seine Beziehung auf den Engländer Greg, der den sozialen Kampf zwischen dem<lb/> „sorglosen, schmutzigen, nicht höher hinaus wollenden," sich stark vermehrenden<lb/> Jrländer und dem „frugalen, vorsichtigen, sich selbst achtenden, ehrgeizigen, in<lb/> seiner Moralität strengen, in seinem Glanben durchgeistigten und in seinem Wissen<lb/> disziplinirten" Schotten veranschaulicht. Und unter all den Anwendungen, die der<lb/> allgemeine Satz finden kann, ist gewiß diese von der höchsten Wichtigkeit; von<lb/> höchster Wichtigkeit auch, daß gerade ein Naturforscher, und zwar ein deutscher<lb/> Naturforscher, die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkt. Denn kein zweites Volk<lb/> leidet so sehr an der in das internationale politische Leben übertragnen und eigen¬<lb/> sinnig sestgehaltnen schwächlichen Humanität. Die Lehren des philosophischen Jahr¬<lb/> hunderts, die von andern Nationen immer nur, soweit es ihnen paßt, befolgt werden,<lb/> haben bei uns namenlose Verwirrung angerichtet. Man erinnere sich nur, wie<lb/> sich der deutsche Liberalismus verpflichtet glaubte, die deutsche» Soldaten, die bei<lb/> Leipzig den erzwnugnen Dienst im Heere Napoleons verließen, wegen ihres Bruches<lb/> des Fahneneides nach Jahrzehnten noch zu schmähen. An die zahllosen Beispiele<lb/> ans neuester Zeit brauchen wir kaum zu erinnern. Fielen aber Polen, Ungarn,<lb/> Italiener von ihrem Landesherrn ab, so war das eher zu rühmen als zu tadeln!<lb/> Haben doch heute noch Demokraten und Sozialdemokraten, darunter solche, die die<lb/> Ehre genießen, in der Vertretung des deutschen Volkes zu sitzen, die Stirn, mit<lb/> den revanchelustigen Franzosen zu liebäugeln. Phantastereien, die ein Jahrhundert<lb/> lang noble Pnssivu der Gebildeten waren, sind nun in den Köpfen der Masse<lb/> verbreitet, und man darf sich nicht Wundern, daß sich der Handwerksgeselle aus<lb/> seine Aufklärung etwas zu gute thut, wen» er das Nationalgefühl als alten Plunder</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0438]
Litteratur
schaft, in der es lebt, zu schützen. Hier nun wird einerseits betont, daß wir
Handlungen, die wir gegen Angehörige derselben Gemeinschaft (Stamm, Nation,
Staat u. s. w.) begangen, als unsittlich verurteilen, gegenüber Angehörigen einer
andern „Sozietät" billigen können; andrerseits, daß der moralische Instinkt der
Völker des klassischen Altertums von dem unsrigen wesentlich verschieden war. Der
Verfasser wählt zum Beweise dafür das Beispiel der Adipussage und zeigt, daß
die Griechen deu Untergang des Ödipus und seines ganzen Geschlechts als verdient
ansahen, weil er, obwohl unbewußt, Thaten begangen hatte, die der Sozietät, die
der Familie schaden müssen. Sie „verabscheuten die unsittliche Handlung als solche
und kümmerten sich nicht um die Vorgänge im Gehirn des handelnden Subjektes.
Die Sünden der Väter rächen sich an den Kindern, das ist eine Naturerscheinung
des sozialen Lebens, und dieser hat die antike Moral Rechnung getragen. Auch
in der Bibel wird die Strafe an Kindern und Kindeskindern mit der Allgüte
Gottes vereinbar gefunden; das Kindeskind muß sein Schicksal ertragen; maßgebend
für dasselbe ist seine Stellung in der Sozietät, in der Familie, nicht sein persön¬
liches Denken und Fühlen." Diesem ungetrübten moralischen Instinkt der alten
Völker giebt Exner unverkennbar, im Interesse der Erhaltung der Art, deu Vor¬
zug vor dem Grundsatze der modernen Kultur, der „das Individuum gegen die
Härte der die Sozietät beherrschenden Naturgesetze in Schutz nahm, den Persön¬
lichen Gedanken und Gefühlen Gewicht verlieh und das handelnde Subjekt aus
seiner verschwindenden Kleinheit in der Gesamtheit der Sozietät zu einer selb¬
ständigen Stellung emporhob." Daß eine solche Auffassung heutzutage vielfachen
Widerspruch hervorrufen wird, ist nicht zu bezweifeln; und in seiner Allgemeinheit
wird sich der Satz auch anfechten lassen. Doch ist es dem Verfasser, wenn er
das auch nicht ausdrücklich ausspricht, wesentlich um die Rechtfertigung dessen zu
thun, was wir sonst gesunden nationalen Egoismus nennen. Dafür zeugt schon
seine Beziehung auf den Engländer Greg, der den sozialen Kampf zwischen dem
„sorglosen, schmutzigen, nicht höher hinaus wollenden," sich stark vermehrenden
Jrländer und dem „frugalen, vorsichtigen, sich selbst achtenden, ehrgeizigen, in
seiner Moralität strengen, in seinem Glanben durchgeistigten und in seinem Wissen
disziplinirten" Schotten veranschaulicht. Und unter all den Anwendungen, die der
allgemeine Satz finden kann, ist gewiß diese von der höchsten Wichtigkeit; von
höchster Wichtigkeit auch, daß gerade ein Naturforscher, und zwar ein deutscher
Naturforscher, die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkt. Denn kein zweites Volk
leidet so sehr an der in das internationale politische Leben übertragnen und eigen¬
sinnig sestgehaltnen schwächlichen Humanität. Die Lehren des philosophischen Jahr¬
hunderts, die von andern Nationen immer nur, soweit es ihnen paßt, befolgt werden,
haben bei uns namenlose Verwirrung angerichtet. Man erinnere sich nur, wie
sich der deutsche Liberalismus verpflichtet glaubte, die deutsche» Soldaten, die bei
Leipzig den erzwnugnen Dienst im Heere Napoleons verließen, wegen ihres Bruches
des Fahneneides nach Jahrzehnten noch zu schmähen. An die zahllosen Beispiele
ans neuester Zeit brauchen wir kaum zu erinnern. Fielen aber Polen, Ungarn,
Italiener von ihrem Landesherrn ab, so war das eher zu rühmen als zu tadeln!
Haben doch heute noch Demokraten und Sozialdemokraten, darunter solche, die die
Ehre genießen, in der Vertretung des deutschen Volkes zu sitzen, die Stirn, mit
den revanchelustigen Franzosen zu liebäugeln. Phantastereien, die ein Jahrhundert
lang noble Pnssivu der Gebildeten waren, sind nun in den Köpfen der Masse
verbreitet, und man darf sich nicht Wundern, daß sich der Handwerksgeselle aus
seine Aufklärung etwas zu gute thut, wen» er das Nationalgefühl als alten Plunder
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