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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Weltgeschichte in Hinterwinkel

Bauern auch verachte". Hältst du mich für ein schlechtes Madchen? fügte sie
rasch hinzu.

Ich versicherte ihr das Gegenteil und berichtete ihr auch, daß mich an
jenem Erntetage die Püffe des Füllentoni nur ihretwegen geärgert hatten, und
daß es auch mir Freude gemacht hätte, beim Milchessen an ihrer Seite zu
sitzen. Wir hätten gewiß keinen Streit bekommen wegen des Eingebrockten.

Und ich bin dennoch ein schlechtes Mädchen, erwiderte sie in festem, ent-
schloßnem Ton, wiewohl sie von meinen Worten getröstet schien.

So rätselhaft und unbegreiflich mir damals im Walde das Betragen der
bleichgewordnen Cölestine erschien, so unfaßbar blieb mir hente in der Kirche
der Sinn von dem, was im Schiff drunten vor sich ging.

Die Colestine kniete an ihrem gewöhnlichen Platz; die übrigen Mädchen
dagegen, die sonst den Stuhl mit ihr teilten, hielten sich im Gange und wei¬
gerten sich einzutreten. Ein Geraume und Geplausche ging durch die Kirche
und wurde immer lauter und beunruhigender.

Dann sah ich, wie sich die Cölestine plötzlich erhob und mit wankenden
Schritten, aber trocknen Auges ihre Bank verließ, um auf dem letzten Bänk¬
lein des Schiffs, das Magdalenenbünklein genannt, neben der Hanne Stroh-
Melker und einer alten Bettelfrau niederzuknien, während ihr bisheriger Stuhl
nun von den andern Mädchen unter triumphirendem Gebühren in Besitz ge¬
nommen wurde.

Zu Hause fragte ich die Mutter, was denn mit der Cölestine sei. Ich
kann mich aber nicht mehr erinnern, was sie darauf anwortete. Sie erklärte
mir nichts und forderte doch auch kein weiteres Forschen heraus.

Ich hörte dann den Tag über genug Bemerkungen über die Angelegen¬
heit, darunter recht uuflütige; aber meine angeborne Zurückhaltung, in diesem
Falle gesteigert durch die Scham und Scheu, die aus der dunkeln Ahnung
eines Geheimnisses entspringt, und meine aufgeregten Gedanken über die eigne
nächste Zukunft ließen mich nur halb auf diese Reden hinhorchen und kaum
darüber nachdenken.

So kam es, daß ich es auch bei dieser so günstigen Gelegenheit versäumte,
den ersten Einblick in eine Wissenschaft zu thun, die meinen Altersgenossen von
Hinterwinkel schon geläufiger war als das Einmaleins.

Ein Satz besonders klang um jenem Tage als ewiger Refrain an mein
^hr: Und anch noch von einem Preußen! Es war für mich ein geheimnis¬
volleres Wort, ein dunkleres Rätsel als vier Monate vorher das:


Schleswig-Holstein meeruinschlnngen,
Schleswig-Holstein stammverwandt.

Aber etwas schlimmes, sehr schlimmes mußte der Cölestine von einem Preußen,
Melmehr von einem Hamburger geschehen sein. Das sah ich an der Wirkung


Weltgeschichte in Hinterwinkel

Bauern auch verachte«. Hältst du mich für ein schlechtes Madchen? fügte sie
rasch hinzu.

Ich versicherte ihr das Gegenteil und berichtete ihr auch, daß mich an
jenem Erntetage die Püffe des Füllentoni nur ihretwegen geärgert hatten, und
daß es auch mir Freude gemacht hätte, beim Milchessen an ihrer Seite zu
sitzen. Wir hätten gewiß keinen Streit bekommen wegen des Eingebrockten.

Und ich bin dennoch ein schlechtes Mädchen, erwiderte sie in festem, ent-
schloßnem Ton, wiewohl sie von meinen Worten getröstet schien.

So rätselhaft und unbegreiflich mir damals im Walde das Betragen der
bleichgewordnen Cölestine erschien, so unfaßbar blieb mir hente in der Kirche
der Sinn von dem, was im Schiff drunten vor sich ging.

Die Colestine kniete an ihrem gewöhnlichen Platz; die übrigen Mädchen
dagegen, die sonst den Stuhl mit ihr teilten, hielten sich im Gange und wei¬
gerten sich einzutreten. Ein Geraume und Geplausche ging durch die Kirche
und wurde immer lauter und beunruhigender.

Dann sah ich, wie sich die Cölestine plötzlich erhob und mit wankenden
Schritten, aber trocknen Auges ihre Bank verließ, um auf dem letzten Bänk¬
lein des Schiffs, das Magdalenenbünklein genannt, neben der Hanne Stroh-
Melker und einer alten Bettelfrau niederzuknien, während ihr bisheriger Stuhl
nun von den andern Mädchen unter triumphirendem Gebühren in Besitz ge¬
nommen wurde.

Zu Hause fragte ich die Mutter, was denn mit der Cölestine sei. Ich
kann mich aber nicht mehr erinnern, was sie darauf anwortete. Sie erklärte
mir nichts und forderte doch auch kein weiteres Forschen heraus.

Ich hörte dann den Tag über genug Bemerkungen über die Angelegen¬
heit, darunter recht uuflütige; aber meine angeborne Zurückhaltung, in diesem
Falle gesteigert durch die Scham und Scheu, die aus der dunkeln Ahnung
eines Geheimnisses entspringt, und meine aufgeregten Gedanken über die eigne
nächste Zukunft ließen mich nur halb auf diese Reden hinhorchen und kaum
darüber nachdenken.

So kam es, daß ich es auch bei dieser so günstigen Gelegenheit versäumte,
den ersten Einblick in eine Wissenschaft zu thun, die meinen Altersgenossen von
Hinterwinkel schon geläufiger war als das Einmaleins.

Ein Satz besonders klang um jenem Tage als ewiger Refrain an mein
^hr: Und anch noch von einem Preußen! Es war für mich ein geheimnis¬
volleres Wort, ein dunkleres Rätsel als vier Monate vorher das:


Schleswig-Holstein meeruinschlnngen,
Schleswig-Holstein stammverwandt.

Aber etwas schlimmes, sehr schlimmes mußte der Cölestine von einem Preußen,
Melmehr von einem Hamburger geschehen sein. Das sah ich an der Wirkung


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[0435] Weltgeschichte in Hinterwinkel Bauern auch verachte«. Hältst du mich für ein schlechtes Madchen? fügte sie rasch hinzu. Ich versicherte ihr das Gegenteil und berichtete ihr auch, daß mich an jenem Erntetage die Püffe des Füllentoni nur ihretwegen geärgert hatten, und daß es auch mir Freude gemacht hätte, beim Milchessen an ihrer Seite zu sitzen. Wir hätten gewiß keinen Streit bekommen wegen des Eingebrockten. Und ich bin dennoch ein schlechtes Mädchen, erwiderte sie in festem, ent- schloßnem Ton, wiewohl sie von meinen Worten getröstet schien. So rätselhaft und unbegreiflich mir damals im Walde das Betragen der bleichgewordnen Cölestine erschien, so unfaßbar blieb mir hente in der Kirche der Sinn von dem, was im Schiff drunten vor sich ging. Die Colestine kniete an ihrem gewöhnlichen Platz; die übrigen Mädchen dagegen, die sonst den Stuhl mit ihr teilten, hielten sich im Gange und wei¬ gerten sich einzutreten. Ein Geraume und Geplausche ging durch die Kirche und wurde immer lauter und beunruhigender. Dann sah ich, wie sich die Cölestine plötzlich erhob und mit wankenden Schritten, aber trocknen Auges ihre Bank verließ, um auf dem letzten Bänk¬ lein des Schiffs, das Magdalenenbünklein genannt, neben der Hanne Stroh- Melker und einer alten Bettelfrau niederzuknien, während ihr bisheriger Stuhl nun von den andern Mädchen unter triumphirendem Gebühren in Besitz ge¬ nommen wurde. Zu Hause fragte ich die Mutter, was denn mit der Cölestine sei. Ich kann mich aber nicht mehr erinnern, was sie darauf anwortete. Sie erklärte mir nichts und forderte doch auch kein weiteres Forschen heraus. Ich hörte dann den Tag über genug Bemerkungen über die Angelegen¬ heit, darunter recht uuflütige; aber meine angeborne Zurückhaltung, in diesem Falle gesteigert durch die Scham und Scheu, die aus der dunkeln Ahnung eines Geheimnisses entspringt, und meine aufgeregten Gedanken über die eigne nächste Zukunft ließen mich nur halb auf diese Reden hinhorchen und kaum darüber nachdenken. So kam es, daß ich es auch bei dieser so günstigen Gelegenheit versäumte, den ersten Einblick in eine Wissenschaft zu thun, die meinen Altersgenossen von Hinterwinkel schon geläufiger war als das Einmaleins. Ein Satz besonders klang um jenem Tage als ewiger Refrain an mein ^hr: Und anch noch von einem Preußen! Es war für mich ein geheimnis¬ volleres Wort, ein dunkleres Rätsel als vier Monate vorher das: Schleswig-Holstein meeruinschlnngen, Schleswig-Holstein stammverwandt. Aber etwas schlimmes, sehr schlimmes mußte der Cölestine von einem Preußen, Melmehr von einem Hamburger geschehen sein. Das sah ich an der Wirkung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/435>, abgerufen am 06.01.2025.