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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

noch das Zeugnis, daß es gut begabt, einfach, nüchtern, fleißig, religiös und in
bewunderungswürdigem Grade sparsam sei und ein geregeltes Familienleben führe.
Und die Sicherheit des Staates! Sind doch italienische Staatsmänner, wie
unter andern auch die Berichterstatter der oben erwähnten agrarischen Enquete,
seelensfroh darüber, daß das Gesetz über den obligatorischen Volksschulunter¬
richt bis jetzt noch auf dem Papiere stehen geblieben ist. "Gerade die Be¬
schränktheit des geistigen Horizonts in jenen Kreisen der italienischen Bevölke¬
rung, die sich in der schlechtesten Lage befinden, bemerkt Eheberg, hat, so be¬
dauerlich sie sein mag, für den ruhigen Bestand des Staats anch ihr heilsames
gehabt. Es ist zu verwundern, wie bei der vielfach gedrückten Lage der Land¬
leute doch die Ruhe nie im größern Maßstabe auf längere Zeit gestört wird.
Werden die Kenntnisse allgemeiner um sich greifen, ^das "um sich greifen"
klingt nicht sehr schmeichelhaft für die Kenntnisse^, so wird, wenn nicht bis
dahin eine Besserung eingetreten ist, der italienische Bauer kaum noch sür lange
Zeit in der alten Gefügigkeit verharren. Erzählt man doch jetzt schon, daß
die in der Ableistung der Militärpflicht gewonnene Bildung vielfach Unzufrieden¬
heit hervorgerufen und geschürt habe. Ein Glück, daß die italienischen Land-
leute ^zum Ersatz für die fehlende Schulbildung^ in einem patriarchalisch ge¬
regelten Familienleben eine Quelle guter Gesinnung und moralischer Anschauungen
haben." Also schon das Militär wirkt aufwiegelnd! Wie würde es erst werden,
wenn sich die Landleute haufenweise in zeitunglesende Fabrikarbeiter verwandelten!

Die letzten beiden der Fragen, in die sich die Hauptfrage des Verfassers
gliedert, lauten: Ist die schutzzöllnerische Politik das rechte Mittel, zum Ziele,
d- h. zur Entwicklung der Industrie zu gelangen, und wenn ja, war das Maß
des Schutzes richtig bemessen? Die erste Frage vermag er als verständiger
Volkswirt weder unbedingt zu bejahen noch unbedingt zu verneinen. Auf die
Zweite antwortet er, die italienische Tarifreform sei im großen Ganzen als ein
notwendiger und gesunder Fortschritt zu begrüßen. Das gelte aber eben nur
von den Jndustriezöllen. Den Agrarzöllen könne keinerlei Berechtigung zu¬
gestanden werden. Erstens sei bei der ohnehin kärglichen Ernährung des italie¬
nischen Volks jede Steigerung der Brot- und Fleischpreise gefährlich, sodann
würde jede Verschiebung der Anbauverhältnisse, zu der sich die wenigen, denen
die Preissteigerung Vorteil brächte, die Großgrundbesitzer, möglicherweise würden
verleiten lassen, höchst verderblich sein. Schränkten diese zu Gunsten des Ge¬
treidebaus die Kultur des Weins, des Ölbaums, der Sauerfrüchte, des Maul-
beerbaums ein, also gerade der Bodenerzeugnisse, in denen sich die Vorzüge
des Klimas in wirtschaftliche Werte umsetzten, so würde dadurch der Gesamt¬
wert der Jahresproduktion Italiens vermindert werden. Noch schlimmer würde
es sein, wen" gesteigerte Viehpreise zur Ausdehnung der Viehzucht verleiteten;
dadurch würde die ohnehin auf den Latifundien Mittel- und Süditaliens be¬
merkbare Tendenz, Ackerland in Viehweide zu verwandeln, noch gesteigert werden.


Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts

noch das Zeugnis, daß es gut begabt, einfach, nüchtern, fleißig, religiös und in
bewunderungswürdigem Grade sparsam sei und ein geregeltes Familienleben führe.
Und die Sicherheit des Staates! Sind doch italienische Staatsmänner, wie
unter andern auch die Berichterstatter der oben erwähnten agrarischen Enquete,
seelensfroh darüber, daß das Gesetz über den obligatorischen Volksschulunter¬
richt bis jetzt noch auf dem Papiere stehen geblieben ist. „Gerade die Be¬
schränktheit des geistigen Horizonts in jenen Kreisen der italienischen Bevölke¬
rung, die sich in der schlechtesten Lage befinden, bemerkt Eheberg, hat, so be¬
dauerlich sie sein mag, für den ruhigen Bestand des Staats anch ihr heilsames
gehabt. Es ist zu verwundern, wie bei der vielfach gedrückten Lage der Land¬
leute doch die Ruhe nie im größern Maßstabe auf längere Zeit gestört wird.
Werden die Kenntnisse allgemeiner um sich greifen, ^das »um sich greifen«
klingt nicht sehr schmeichelhaft für die Kenntnisse^, so wird, wenn nicht bis
dahin eine Besserung eingetreten ist, der italienische Bauer kaum noch sür lange
Zeit in der alten Gefügigkeit verharren. Erzählt man doch jetzt schon, daß
die in der Ableistung der Militärpflicht gewonnene Bildung vielfach Unzufrieden¬
heit hervorgerufen und geschürt habe. Ein Glück, daß die italienischen Land-
leute ^zum Ersatz für die fehlende Schulbildung^ in einem patriarchalisch ge¬
regelten Familienleben eine Quelle guter Gesinnung und moralischer Anschauungen
haben." Also schon das Militär wirkt aufwiegelnd! Wie würde es erst werden,
wenn sich die Landleute haufenweise in zeitunglesende Fabrikarbeiter verwandelten!

Die letzten beiden der Fragen, in die sich die Hauptfrage des Verfassers
gliedert, lauten: Ist die schutzzöllnerische Politik das rechte Mittel, zum Ziele,
d- h. zur Entwicklung der Industrie zu gelangen, und wenn ja, war das Maß
des Schutzes richtig bemessen? Die erste Frage vermag er als verständiger
Volkswirt weder unbedingt zu bejahen noch unbedingt zu verneinen. Auf die
Zweite antwortet er, die italienische Tarifreform sei im großen Ganzen als ein
notwendiger und gesunder Fortschritt zu begrüßen. Das gelte aber eben nur
von den Jndustriezöllen. Den Agrarzöllen könne keinerlei Berechtigung zu¬
gestanden werden. Erstens sei bei der ohnehin kärglichen Ernährung des italie¬
nischen Volks jede Steigerung der Brot- und Fleischpreise gefährlich, sodann
würde jede Verschiebung der Anbauverhältnisse, zu der sich die wenigen, denen
die Preissteigerung Vorteil brächte, die Großgrundbesitzer, möglicherweise würden
verleiten lassen, höchst verderblich sein. Schränkten diese zu Gunsten des Ge¬
treidebaus die Kultur des Weins, des Ölbaums, der Sauerfrüchte, des Maul-
beerbaums ein, also gerade der Bodenerzeugnisse, in denen sich die Vorzüge
des Klimas in wirtschaftliche Werte umsetzten, so würde dadurch der Gesamt¬
wert der Jahresproduktion Italiens vermindert werden. Noch schlimmer würde
es sein, wen» gesteigerte Viehpreise zur Ausdehnung der Viehzucht verleiteten;
dadurch würde die ohnehin auf den Latifundien Mittel- und Süditaliens be¬
merkbare Tendenz, Ackerland in Viehweide zu verwandeln, noch gesteigert werden.


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[0407] Die Handelspolitik unsers Jahrhunderts noch das Zeugnis, daß es gut begabt, einfach, nüchtern, fleißig, religiös und in bewunderungswürdigem Grade sparsam sei und ein geregeltes Familienleben führe. Und die Sicherheit des Staates! Sind doch italienische Staatsmänner, wie unter andern auch die Berichterstatter der oben erwähnten agrarischen Enquete, seelensfroh darüber, daß das Gesetz über den obligatorischen Volksschulunter¬ richt bis jetzt noch auf dem Papiere stehen geblieben ist. „Gerade die Be¬ schränktheit des geistigen Horizonts in jenen Kreisen der italienischen Bevölke¬ rung, die sich in der schlechtesten Lage befinden, bemerkt Eheberg, hat, so be¬ dauerlich sie sein mag, für den ruhigen Bestand des Staats anch ihr heilsames gehabt. Es ist zu verwundern, wie bei der vielfach gedrückten Lage der Land¬ leute doch die Ruhe nie im größern Maßstabe auf längere Zeit gestört wird. Werden die Kenntnisse allgemeiner um sich greifen, ^das »um sich greifen« klingt nicht sehr schmeichelhaft für die Kenntnisse^, so wird, wenn nicht bis dahin eine Besserung eingetreten ist, der italienische Bauer kaum noch sür lange Zeit in der alten Gefügigkeit verharren. Erzählt man doch jetzt schon, daß die in der Ableistung der Militärpflicht gewonnene Bildung vielfach Unzufrieden¬ heit hervorgerufen und geschürt habe. Ein Glück, daß die italienischen Land- leute ^zum Ersatz für die fehlende Schulbildung^ in einem patriarchalisch ge¬ regelten Familienleben eine Quelle guter Gesinnung und moralischer Anschauungen haben." Also schon das Militär wirkt aufwiegelnd! Wie würde es erst werden, wenn sich die Landleute haufenweise in zeitunglesende Fabrikarbeiter verwandelten! Die letzten beiden der Fragen, in die sich die Hauptfrage des Verfassers gliedert, lauten: Ist die schutzzöllnerische Politik das rechte Mittel, zum Ziele, d- h. zur Entwicklung der Industrie zu gelangen, und wenn ja, war das Maß des Schutzes richtig bemessen? Die erste Frage vermag er als verständiger Volkswirt weder unbedingt zu bejahen noch unbedingt zu verneinen. Auf die Zweite antwortet er, die italienische Tarifreform sei im großen Ganzen als ein notwendiger und gesunder Fortschritt zu begrüßen. Das gelte aber eben nur von den Jndustriezöllen. Den Agrarzöllen könne keinerlei Berechtigung zu¬ gestanden werden. Erstens sei bei der ohnehin kärglichen Ernährung des italie¬ nischen Volks jede Steigerung der Brot- und Fleischpreise gefährlich, sodann würde jede Verschiebung der Anbauverhältnisse, zu der sich die wenigen, denen die Preissteigerung Vorteil brächte, die Großgrundbesitzer, möglicherweise würden verleiten lassen, höchst verderblich sein. Schränkten diese zu Gunsten des Ge¬ treidebaus die Kultur des Weins, des Ölbaums, der Sauerfrüchte, des Maul- beerbaums ein, also gerade der Bodenerzeugnisse, in denen sich die Vorzüge des Klimas in wirtschaftliche Werte umsetzten, so würde dadurch der Gesamt¬ wert der Jahresproduktion Italiens vermindert werden. Noch schlimmer würde es sein, wen» gesteigerte Viehpreise zur Ausdehnung der Viehzucht verleiteten; dadurch würde die ohnehin auf den Latifundien Mittel- und Süditaliens be¬ merkbare Tendenz, Ackerland in Viehweide zu verwandeln, noch gesteigert werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/407>, abgerufen am 06.01.2025.