Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Leider liegen die Vorbilder dieser seltsamen Art Geschichte zu schreiben im -- Nach einzelnen solchen Sätzen gehört Dondorff in eine Reihe mit Viktor Es giebt eine gewisse Art, Wissenschaft zu treiben, die den Dingen nicht Drum schade um soviel Pathos und soviel Witz, soviel reiche Bildung und Maßgebliches und Unmaßgebliches Leider liegen die Vorbilder dieser seltsamen Art Geschichte zu schreiben im — Nach einzelnen solchen Sätzen gehört Dondorff in eine Reihe mit Viktor Es giebt eine gewisse Art, Wissenschaft zu treiben, die den Dingen nicht Drum schade um soviel Pathos und soviel Witz, soviel reiche Bildung und <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0382" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/212858"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1287"> Leider liegen die Vorbilder dieser seltsamen Art Geschichte zu schreiben im —<lb/> alten Testament, in den theokratisch zugespitzten Chroniken des auserwnhlten<lb/> Volkes. Diese doch etwas rückständige Geschichtsauffassung würden wir sich selbst<lb/> überlassen, wenn nicht in demselben Buch, dem diese Sätze entnommen sind (Aus<lb/> drei Epochen preußischer Geschichte. Eine Studie über das Woher und Wohin<lb/> unsrer Bewegung von Prof. Dr. Hellmuth Dondorff. Berlin, Wiegand und Grieben,<lb/> 1892) auch recht beachtenswerte Dinge stünden: ,,Der Individualismus, dies<lb/> mächtig treibende Prinzip der modernen Kulturbewegung, um sich berechtigt und<lb/> notwendig, um die Fülle innerer Lebenskräfte zur Entfaltung zu bringen, mußte<lb/> doch, einmal losgelöst von der religiösen Grundlage, ohne zu wurzeln in den Kräften<lb/> einer ewigen Welt, die den einzelnen im Zusammenhang mit dem Weltganzen nach<lb/> einer gottgewollten Ordnung erhält, eine gesteigerte Selbstsucht, eine frühzeitige<lb/> Erschöpfung und Verödung des Einzellebens auf allen Gebieten menschlicher Thätig¬<lb/> keit zur Folge haben." Dvudorfs kritisirt nun den ästhetischen, den philosophischen,<lb/> den religiösen, den politischen und den wirtschaftlichen Individualismus der dreißiger<lb/> Jahre und den radikalen Liberalismus unsrer Tage. ,,Was unsrer Gesellschaft ein<lb/> so verzweifelt hippokratisches Ansehn giebt, das ist der Umstand, daß die Ethik, oder<lb/> sagen wir die sittliche Substanz im Volksleben, sich mehr und mehr aus den ver-<lb/> schiednen Lebensgebieten zurückzieht und von einer verblendeten Wissenschaft geradezu<lb/> zurückgewiesen wird." „Die Trennung aller Lebensgebiete (Gewerbe, Kunst, Schule,<lb/> Geschichtschreibung, Ehe, Dienstverhältnis, Recht) von der Ethik, die der gemein¬<lb/> same Nährboden aller sein sollte, ist der Tod der Gesellschaft, Der Lebensstrom<lb/> zieht sich zurück und versiegt, die verschiednen Organe treiben ihre Funktionen so¬<lb/> zusagen ans eigne Hand fort, bis das wild wuchernde Fleisch alle edlern Säfte<lb/> verzehrt und in das eiternde Gift der Korruption übergeführt hat." Dies zugleich<lb/> als Probe von Dondorsfs saftiger, aber anch etwas üppiger Ausdrucksweise.<lb/> Ingrimmig und witzig predigt er gegen den Witz: ,,Sonne, Mond und Sterne, zu<lb/> denen die Phantasie Haupt und Hände gläubig emporhebt, steckt Witz, der kleine,<lb/> behende Mann, kaltblütig in die Tasche."</p><lb/> <p xml:id="ID_1288"> Nach einzelnen solchen Sätzen gehört Dondorff in eine Reihe mit Viktor<lb/> Hehn und Paul de Lagarde; stünde nur das übrige auf derselben Höhe!</p><lb/> <p xml:id="ID_1289"> Es giebt eine gewisse Art, Wissenschaft zu treiben, die den Dingen nicht<lb/> gerecht wird, weil sie keine Ehrfurcht vor den Dingen hat; das ist der Rationalismus.<lb/> Aber eine besondre „ungläubige Wissenschaft" giebt es nicht. Wissenschaft wird<lb/> ungläubig sein, oder sie wird nicht sein; so auch die Bibelkritik. Doch warum<lb/> sollte die Bibel, sollte unsre gesamte religiöse Überlieferung nicht vertragen, was<lb/> doch nach Dondorffs Ansicht Schiller verträgt, „daß wir unterscheiden, was unver¬<lb/> gänglich ist, und was menschlicher Schwäche und Einseitigkeit angehört"? Übrigens<lb/> ist die Bibelkritik schon zufrieden, wenn es ihr gelingt, jüngere und ältere, selbständige<lb/> und abhängige Schichten zu unterscheiden. Aber Dondorff beklagt wohl mehr ein<lb/> überwiegen der kritischen Beschäftigung, ihn verdrießt mehr das Behagen des<lb/> Bildungsphilisters, der da meint, nun sei wer weiß was gethan. Leider beschränkt<lb/> er sich aber fast auf Klagen und Schwarzmalen, anstatt zu forgen, wie denn nun<lb/> mehr Wärme und Liebe, mehr Fühlung mit gestern und mit morgen, mehr Haltung<lb/> und fromme Sitte ins Volk zu bringen sei. Daß er selber in seiner Schrift mit<lb/> gutem Beispiel voranginge, läßt sich auch nicht sagen. Ein böser, polternder,<lb/> bilderstürmerischer Ton herrscht vor. Blaß und abgezogen erscheint in der Ferne,<lb/> wenig glaublich, das Ideal einer heiligen, allgemeinen, apostolischen Znkunftskirche.</p><lb/> <p xml:id="ID_1290" next="#ID_1291"> Drum schade um soviel Pathos und soviel Witz, soviel reiche Bildung und</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0382]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Leider liegen die Vorbilder dieser seltsamen Art Geschichte zu schreiben im —
alten Testament, in den theokratisch zugespitzten Chroniken des auserwnhlten
Volkes. Diese doch etwas rückständige Geschichtsauffassung würden wir sich selbst
überlassen, wenn nicht in demselben Buch, dem diese Sätze entnommen sind (Aus
drei Epochen preußischer Geschichte. Eine Studie über das Woher und Wohin
unsrer Bewegung von Prof. Dr. Hellmuth Dondorff. Berlin, Wiegand und Grieben,
1892) auch recht beachtenswerte Dinge stünden: ,,Der Individualismus, dies
mächtig treibende Prinzip der modernen Kulturbewegung, um sich berechtigt und
notwendig, um die Fülle innerer Lebenskräfte zur Entfaltung zu bringen, mußte
doch, einmal losgelöst von der religiösen Grundlage, ohne zu wurzeln in den Kräften
einer ewigen Welt, die den einzelnen im Zusammenhang mit dem Weltganzen nach
einer gottgewollten Ordnung erhält, eine gesteigerte Selbstsucht, eine frühzeitige
Erschöpfung und Verödung des Einzellebens auf allen Gebieten menschlicher Thätig¬
keit zur Folge haben." Dvudorfs kritisirt nun den ästhetischen, den philosophischen,
den religiösen, den politischen und den wirtschaftlichen Individualismus der dreißiger
Jahre und den radikalen Liberalismus unsrer Tage. ,,Was unsrer Gesellschaft ein
so verzweifelt hippokratisches Ansehn giebt, das ist der Umstand, daß die Ethik, oder
sagen wir die sittliche Substanz im Volksleben, sich mehr und mehr aus den ver-
schiednen Lebensgebieten zurückzieht und von einer verblendeten Wissenschaft geradezu
zurückgewiesen wird." „Die Trennung aller Lebensgebiete (Gewerbe, Kunst, Schule,
Geschichtschreibung, Ehe, Dienstverhältnis, Recht) von der Ethik, die der gemein¬
same Nährboden aller sein sollte, ist der Tod der Gesellschaft, Der Lebensstrom
zieht sich zurück und versiegt, die verschiednen Organe treiben ihre Funktionen so¬
zusagen ans eigne Hand fort, bis das wild wuchernde Fleisch alle edlern Säfte
verzehrt und in das eiternde Gift der Korruption übergeführt hat." Dies zugleich
als Probe von Dondorsfs saftiger, aber anch etwas üppiger Ausdrucksweise.
Ingrimmig und witzig predigt er gegen den Witz: ,,Sonne, Mond und Sterne, zu
denen die Phantasie Haupt und Hände gläubig emporhebt, steckt Witz, der kleine,
behende Mann, kaltblütig in die Tasche."
Nach einzelnen solchen Sätzen gehört Dondorff in eine Reihe mit Viktor
Hehn und Paul de Lagarde; stünde nur das übrige auf derselben Höhe!
Es giebt eine gewisse Art, Wissenschaft zu treiben, die den Dingen nicht
gerecht wird, weil sie keine Ehrfurcht vor den Dingen hat; das ist der Rationalismus.
Aber eine besondre „ungläubige Wissenschaft" giebt es nicht. Wissenschaft wird
ungläubig sein, oder sie wird nicht sein; so auch die Bibelkritik. Doch warum
sollte die Bibel, sollte unsre gesamte religiöse Überlieferung nicht vertragen, was
doch nach Dondorffs Ansicht Schiller verträgt, „daß wir unterscheiden, was unver¬
gänglich ist, und was menschlicher Schwäche und Einseitigkeit angehört"? Übrigens
ist die Bibelkritik schon zufrieden, wenn es ihr gelingt, jüngere und ältere, selbständige
und abhängige Schichten zu unterscheiden. Aber Dondorff beklagt wohl mehr ein
überwiegen der kritischen Beschäftigung, ihn verdrießt mehr das Behagen des
Bildungsphilisters, der da meint, nun sei wer weiß was gethan. Leider beschränkt
er sich aber fast auf Klagen und Schwarzmalen, anstatt zu forgen, wie denn nun
mehr Wärme und Liebe, mehr Fühlung mit gestern und mit morgen, mehr Haltung
und fromme Sitte ins Volk zu bringen sei. Daß er selber in seiner Schrift mit
gutem Beispiel voranginge, läßt sich auch nicht sagen. Ein böser, polternder,
bilderstürmerischer Ton herrscht vor. Blaß und abgezogen erscheint in der Ferne,
wenig glaublich, das Ideal einer heiligen, allgemeinen, apostolischen Znkunftskirche.
Drum schade um soviel Pathos und soviel Witz, soviel reiche Bildung und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |