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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Zolas Ariegsroman Oedacle

geschlachtet, wobei die Magd, die ein Kind von ihm hat, treulich Hilfe leistet.
Diese Szene gehört zu dem Widerwärtigsten, was Zola geschrieben hat.

Durch alle diese Episoden und Wandclbilder des Krieges, die bald auf
geschichtlicher Wahrheit beruhen, bald naturalistische Dichtungen sind, zieht sich
die einfache Geschichte der beiden Hauptpersonen Jean Macquart und Maurice
Levnssenr. Das siebente Korps, zu dem ihr Regiment gehört, hat beim Be¬
ginn des Feldzugs den Befehl erhalten, bei Mülhausen Stellung zu nehmen
und den Feind zu beobachten. In unglaublicher Verwirrung kommt das Korps
dort an, unvollständig und ganz unzureichend ausgerüstet. Die zweite Divi¬
sion fehlt noch; man erwartet sie aus Italien. Und die zweite Kavallerie¬
brigade hat man in Lyon zurückgelassen, weil man dort einen Volksaufstand
befürchtet. Drei Batterie" haben sich ans dem Marsche verlaufen, niemand
weiß, wohin. Die Magazine, die alle Kriegsausrüstungeu stellen sollten, sind
leer; nichts ist den Soldaten geliefert worden, weder Zelte noch Kochgeschirre,
weder gute Waffen noch ausreichende Kleidung. Der ganze Train des Kriegs
fehlt. Erst im letzten Augenblick hat man bemerkt, daß dreißigtmisend Reserve¬
teile für die Gewehre fehlten. Ein Offizier wird deshalb sofort nach Paris
geschickt, und diesem gelingt es denn auch nach langen Vorstellungen fünf¬
tausend zu erwischen; die übrigen Gewehre bleiben ohne Rcserveteile. Man
läßt die Regimenter unthätig im Elsaß liegen; die kostbarste Zeit verstreicht,
während die Deutschen unaufhaltsam vordringen. Trotzdem steht es bei den
französischen Soldaten ganz fest, daß die Deutschen geschlagen werden, und
daß man bald den Marsch nach Berlin antreten werde.

Erst Lavasseurs Schwager, der Elsüsscr Weiß, der von Sedan nach Mül-
hausen geeilt ist, um Geschäftsangelegenheiten zu ordnen, bringt den Leuten
eine andre Meinung von dein Zustande und den Leistungen der deutschen
Truppen bei. Der bramarbasirende Leutnant Rochas fährt dazwischen und
verbietet Weiß, im Lager solche Gespräche zu führen und die Leute zu ent¬
mutigen. Aber Weiß meint, die genaue Kenntnis der wirklichen Dinge könne
jedem nur nützlich sein, und fährt fort zu erzählen von Preußens Erstarrung
nach Sadowa, von der nationalen Bewegung in Deutschland, von der treff¬
lich geleiteten, gut geschulte,? deutschen Armee, und damit vergleicht er die ge¬
fährlichen Zustünde in Frankreich: das morsche Kaisertum, die durch leicht
gewonnene Siege in Algier verwöhnte Armee, die mangelhafte Ausbildung der
Führer, ihre Eitelkeit und Mißgunst und den kranken, kriegsuntauglichen Kaiser.
Rochas hat für alle diese Erwägungen kein Verständnis: "Österreich verhauen
bei Cnstiglioue, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Wagram! Preußen verhauen
bei Ehlnu. bei Jena. bei Lützen! Rußland verhauen bei Friedland, Smolensk
und an der Moskwa! Spanien, England überall verhauen! Der ganze Erdkreis
von oben nach unten, in die Länge und Breite verhauen! Und heute sollen
wir verhauen werdeu! Warum? wie? hat sich denn die Welt so verändert?"


Grenzboten 111 18U2 4ö
Zolas Ariegsroman Oedacle

geschlachtet, wobei die Magd, die ein Kind von ihm hat, treulich Hilfe leistet.
Diese Szene gehört zu dem Widerwärtigsten, was Zola geschrieben hat.

Durch alle diese Episoden und Wandclbilder des Krieges, die bald auf
geschichtlicher Wahrheit beruhen, bald naturalistische Dichtungen sind, zieht sich
die einfache Geschichte der beiden Hauptpersonen Jean Macquart und Maurice
Levnssenr. Das siebente Korps, zu dem ihr Regiment gehört, hat beim Be¬
ginn des Feldzugs den Befehl erhalten, bei Mülhausen Stellung zu nehmen
und den Feind zu beobachten. In unglaublicher Verwirrung kommt das Korps
dort an, unvollständig und ganz unzureichend ausgerüstet. Die zweite Divi¬
sion fehlt noch; man erwartet sie aus Italien. Und die zweite Kavallerie¬
brigade hat man in Lyon zurückgelassen, weil man dort einen Volksaufstand
befürchtet. Drei Batterie» haben sich ans dem Marsche verlaufen, niemand
weiß, wohin. Die Magazine, die alle Kriegsausrüstungeu stellen sollten, sind
leer; nichts ist den Soldaten geliefert worden, weder Zelte noch Kochgeschirre,
weder gute Waffen noch ausreichende Kleidung. Der ganze Train des Kriegs
fehlt. Erst im letzten Augenblick hat man bemerkt, daß dreißigtmisend Reserve¬
teile für die Gewehre fehlten. Ein Offizier wird deshalb sofort nach Paris
geschickt, und diesem gelingt es denn auch nach langen Vorstellungen fünf¬
tausend zu erwischen; die übrigen Gewehre bleiben ohne Rcserveteile. Man
läßt die Regimenter unthätig im Elsaß liegen; die kostbarste Zeit verstreicht,
während die Deutschen unaufhaltsam vordringen. Trotzdem steht es bei den
französischen Soldaten ganz fest, daß die Deutschen geschlagen werden, und
daß man bald den Marsch nach Berlin antreten werde.

Erst Lavasseurs Schwager, der Elsüsscr Weiß, der von Sedan nach Mül-
hausen geeilt ist, um Geschäftsangelegenheiten zu ordnen, bringt den Leuten
eine andre Meinung von dein Zustande und den Leistungen der deutschen
Truppen bei. Der bramarbasirende Leutnant Rochas fährt dazwischen und
verbietet Weiß, im Lager solche Gespräche zu führen und die Leute zu ent¬
mutigen. Aber Weiß meint, die genaue Kenntnis der wirklichen Dinge könne
jedem nur nützlich sein, und fährt fort zu erzählen von Preußens Erstarrung
nach Sadowa, von der nationalen Bewegung in Deutschland, von der treff¬
lich geleiteten, gut geschulte,? deutschen Armee, und damit vergleicht er die ge¬
fährlichen Zustünde in Frankreich: das morsche Kaisertum, die durch leicht
gewonnene Siege in Algier verwöhnte Armee, die mangelhafte Ausbildung der
Führer, ihre Eitelkeit und Mißgunst und den kranken, kriegsuntauglichen Kaiser.
Rochas hat für alle diese Erwägungen kein Verständnis: „Österreich verhauen
bei Cnstiglioue, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Wagram! Preußen verhauen
bei Ehlnu. bei Jena. bei Lützen! Rußland verhauen bei Friedland, Smolensk
und an der Moskwa! Spanien, England überall verhauen! Der ganze Erdkreis
von oben nach unten, in die Länge und Breite verhauen! Und heute sollen
wir verhauen werdeu! Warum? wie? hat sich denn die Welt so verändert?"


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/369>, abgerufen am 09.01.2025.