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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Vegetation entstehn und sich erhalten mögen, scheint uns weder die eine noch
die andre dieser Theorien hinreichend zu erklären. Genug, daß sie basirt an
einigen wenigen auf den Nullpunkt des Thermometers kaprizirteu Erdstellen,
und daß sie die phantastischsten und verwegensten Bilder und Situationen her¬
vorzaubern können, die unser den Erdpolen gegenüber noch immer so sprödes
Forscher- und Dichtergehirn denken und sich vorstelle" kann. Vereister kann
es selbst am allereisigstcn Südpol -- der ja eisreicher sein soll als der Nord¬
pol --, "gletscherhafter" auf dem unerstiegnen Dhawalagiri und Kiutschinjunga
nicht aussehn, als hier mitten im Znslußgebiet der schönen, blauen Donau.
Eissäuleu entstehn dort nach Angabe des Führers "im Umsehen," wie weiland
die Salzsäulen um Sodom und Gomorrha. Aber es müßten Damen von
umfassendster Neugierde sein, wenn sie sich darein verwandeln wollten, denn
diese Eissäuleu sind vou einer erstaunlicher Gestaltuugsfülle und nehmen darin
nach der Versicherung des Führers stetig zu. Nur die unablässig arbeitende
Axt kann so die Höhle vor dem allmählichen Übergehn in eine einzige kom¬
pakte Eismasse bewahren. Die Macht des Wassertropfens, die einflußreichste
unter den erdgestaltenden Faktoren, wirkt auch hier. Leise sickert er durch die
engen Spalten des Kalksteins, und dieselben launenhaften Gestaltungen eines
regellosen Bildungstriebes, wie in den Tropfsteinhöhlen, zaubert wie dort die
Auswaschung und Erweichung, so hier die Ansehung und Erstarrung hervor.
Sie wirkt von den Myriaden funkelnder Eislrhstalle, die wie Christbaum- oder
gewisse andre Sterne die Wände und Decken überkleiden und in den Knopf¬
löchern der staatserhaltenden Besucher vom Nachtwächter aufwärts ein tiefes
Gefühl unausgefüllter Sehnsucht erregen; von den Zäpfchen und Zapfen, die
wie Spieße und Dolche uns allerorten entgegen starren, bis zu den phan¬
tastischen Figuren und Formationen, in deren Deutung der Führerwitz sonst
so abenteuerliche Sprünge macht, während er hier, vielleicht in dem Bewußt¬
sein des Überschwangs seines Materials, mit einem trocken wissenschaftlichen:
"Der Name thut nichts zur Sache" zur Tagesordnung übergeht, angemessener
ausgedrückt: übergleitet. Deal wir befinden uns hier stets ans "schiefem,
glattem Boden," dem der Fuß der leicht Verführbaren, wie der Unberühr-
baren gleich leicht entgleitet. In der That, wir würden Faust nicht rate",
seinen Weg "vom Himmel durch die Welt zur Hölle" über die große Eis-
sturztrcppe in der Dvbschauer Höhle zu nehmen. Sein Rückbillet in den
Himmel büßte er ein, und Mephistopheles hätte am Schluß gewonnenes Spiel.

Nein, es ist ganz gewiß keine Szenerie für Fausts "Zweiten Teil," sür
Helenabeschwörnngeu, klassische Walpurgisnächte, selige Knaben und roscn-
spendende Büßerinnen. Aber der nordisch-heidnisch-germanische Faust, der paßt
in diese Höhle, in diese Wälder, um deu erhabnen Geist anzurufen, der ihm
alles, alles gab -- die allwaltende Natur zum Königreich, Kraft sie zu fassen,
zu genießen --, nur nicht die Ruhe, deu Frieden des Genügens. Hier ist der


Vegetation entstehn und sich erhalten mögen, scheint uns weder die eine noch
die andre dieser Theorien hinreichend zu erklären. Genug, daß sie basirt an
einigen wenigen auf den Nullpunkt des Thermometers kaprizirteu Erdstellen,
und daß sie die phantastischsten und verwegensten Bilder und Situationen her¬
vorzaubern können, die unser den Erdpolen gegenüber noch immer so sprödes
Forscher- und Dichtergehirn denken und sich vorstelle» kann. Vereister kann
es selbst am allereisigstcn Südpol — der ja eisreicher sein soll als der Nord¬
pol —, „gletscherhafter" auf dem unerstiegnen Dhawalagiri und Kiutschinjunga
nicht aussehn, als hier mitten im Znslußgebiet der schönen, blauen Donau.
Eissäuleu entstehn dort nach Angabe des Führers „im Umsehen," wie weiland
die Salzsäulen um Sodom und Gomorrha. Aber es müßten Damen von
umfassendster Neugierde sein, wenn sie sich darein verwandeln wollten, denn
diese Eissäuleu sind vou einer erstaunlicher Gestaltuugsfülle und nehmen darin
nach der Versicherung des Führers stetig zu. Nur die unablässig arbeitende
Axt kann so die Höhle vor dem allmählichen Übergehn in eine einzige kom¬
pakte Eismasse bewahren. Die Macht des Wassertropfens, die einflußreichste
unter den erdgestaltenden Faktoren, wirkt auch hier. Leise sickert er durch die
engen Spalten des Kalksteins, und dieselben launenhaften Gestaltungen eines
regellosen Bildungstriebes, wie in den Tropfsteinhöhlen, zaubert wie dort die
Auswaschung und Erweichung, so hier die Ansehung und Erstarrung hervor.
Sie wirkt von den Myriaden funkelnder Eislrhstalle, die wie Christbaum- oder
gewisse andre Sterne die Wände und Decken überkleiden und in den Knopf¬
löchern der staatserhaltenden Besucher vom Nachtwächter aufwärts ein tiefes
Gefühl unausgefüllter Sehnsucht erregen; von den Zäpfchen und Zapfen, die
wie Spieße und Dolche uns allerorten entgegen starren, bis zu den phan¬
tastischen Figuren und Formationen, in deren Deutung der Führerwitz sonst
so abenteuerliche Sprünge macht, während er hier, vielleicht in dem Bewußt¬
sein des Überschwangs seines Materials, mit einem trocken wissenschaftlichen:
„Der Name thut nichts zur Sache" zur Tagesordnung übergeht, angemessener
ausgedrückt: übergleitet. Deal wir befinden uns hier stets ans „schiefem,
glattem Boden," dem der Fuß der leicht Verführbaren, wie der Unberühr-
baren gleich leicht entgleitet. In der That, wir würden Faust nicht rate»,
seinen Weg „vom Himmel durch die Welt zur Hölle" über die große Eis-
sturztrcppe in der Dvbschauer Höhle zu nehmen. Sein Rückbillet in den
Himmel büßte er ein, und Mephistopheles hätte am Schluß gewonnenes Spiel.

Nein, es ist ganz gewiß keine Szenerie für Fausts „Zweiten Teil," sür
Helenabeschwörnngeu, klassische Walpurgisnächte, selige Knaben und roscn-
spendende Büßerinnen. Aber der nordisch-heidnisch-germanische Faust, der paßt
in diese Höhle, in diese Wälder, um deu erhabnen Geist anzurufen, der ihm
alles, alles gab — die allwaltende Natur zum Königreich, Kraft sie zu fassen,
zu genießen —, nur nicht die Ruhe, deu Frieden des Genügens. Hier ist der


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[0285] Vegetation entstehn und sich erhalten mögen, scheint uns weder die eine noch die andre dieser Theorien hinreichend zu erklären. Genug, daß sie basirt an einigen wenigen auf den Nullpunkt des Thermometers kaprizirteu Erdstellen, und daß sie die phantastischsten und verwegensten Bilder und Situationen her¬ vorzaubern können, die unser den Erdpolen gegenüber noch immer so sprödes Forscher- und Dichtergehirn denken und sich vorstelle» kann. Vereister kann es selbst am allereisigstcn Südpol — der ja eisreicher sein soll als der Nord¬ pol —, „gletscherhafter" auf dem unerstiegnen Dhawalagiri und Kiutschinjunga nicht aussehn, als hier mitten im Znslußgebiet der schönen, blauen Donau. Eissäuleu entstehn dort nach Angabe des Führers „im Umsehen," wie weiland die Salzsäulen um Sodom und Gomorrha. Aber es müßten Damen von umfassendster Neugierde sein, wenn sie sich darein verwandeln wollten, denn diese Eissäuleu sind vou einer erstaunlicher Gestaltuugsfülle und nehmen darin nach der Versicherung des Führers stetig zu. Nur die unablässig arbeitende Axt kann so die Höhle vor dem allmählichen Übergehn in eine einzige kom¬ pakte Eismasse bewahren. Die Macht des Wassertropfens, die einflußreichste unter den erdgestaltenden Faktoren, wirkt auch hier. Leise sickert er durch die engen Spalten des Kalksteins, und dieselben launenhaften Gestaltungen eines regellosen Bildungstriebes, wie in den Tropfsteinhöhlen, zaubert wie dort die Auswaschung und Erweichung, so hier die Ansehung und Erstarrung hervor. Sie wirkt von den Myriaden funkelnder Eislrhstalle, die wie Christbaum- oder gewisse andre Sterne die Wände und Decken überkleiden und in den Knopf¬ löchern der staatserhaltenden Besucher vom Nachtwächter aufwärts ein tiefes Gefühl unausgefüllter Sehnsucht erregen; von den Zäpfchen und Zapfen, die wie Spieße und Dolche uns allerorten entgegen starren, bis zu den phan¬ tastischen Figuren und Formationen, in deren Deutung der Führerwitz sonst so abenteuerliche Sprünge macht, während er hier, vielleicht in dem Bewußt¬ sein des Überschwangs seines Materials, mit einem trocken wissenschaftlichen: „Der Name thut nichts zur Sache" zur Tagesordnung übergeht, angemessener ausgedrückt: übergleitet. Deal wir befinden uns hier stets ans „schiefem, glattem Boden," dem der Fuß der leicht Verführbaren, wie der Unberühr- baren gleich leicht entgleitet. In der That, wir würden Faust nicht rate», seinen Weg „vom Himmel durch die Welt zur Hölle" über die große Eis- sturztrcppe in der Dvbschauer Höhle zu nehmen. Sein Rückbillet in den Himmel büßte er ein, und Mephistopheles hätte am Schluß gewonnenes Spiel. Nein, es ist ganz gewiß keine Szenerie für Fausts „Zweiten Teil," sür Helenabeschwörnngeu, klassische Walpurgisnächte, selige Knaben und roscn- spendende Büßerinnen. Aber der nordisch-heidnisch-germanische Faust, der paßt in diese Höhle, in diese Wälder, um deu erhabnen Geist anzurufen, der ihm alles, alles gab — die allwaltende Natur zum Königreich, Kraft sie zu fassen, zu genießen —, nur nicht die Ruhe, deu Frieden des Genügens. Hier ist der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/285>, abgerufen am 09.01.2025.