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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr.

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Bischof Waltor

nichts bestoßen jÄe!j, aber die allgemeine Empörung der russischen öffentlichen
Meinung verlangt ein Opfer, und mir wirds schwer einem so loyalen Unter¬
thanen und treuen Anhänger gegenüber."

Seitdem haben sich die Dinge in den baltischen Provinzen ihrer "im¬
manenten Dialektik" nach weiter entwickelt. Diese Entwicklung hat zwei Seiten,
eine für uns Reichsdeutsche, und eine für die Weltgeschichte im allgemeinem
In ersterer Beziehung ist ja wohl niemand bei uns so thöricht, an eine An¬
nexion jenes fernen Landstrichs an Preußen zu denken. Aber es giebt Leute,
die auf deu dereinstigen Zerfall Rußlands hoffen und sich vorstellen, es wäre
schön, wenn dann die Brüder am baltische" Meere noch vorhanden wären
und uns beim Antritt der Erbschaft behilflich sei" könnten. Daß alter Hanse-
und deutscher Nitterbesitz, daß die Wiege Herders und einer großen Anzahl
von achtungswerten Vertretern deutscher Bildung dem Vaterlande für immer
und in jedem Sinne verloren gehen soll, darüber zu klagen haben wir wohl
kein Recht mehr; solche sentimentale Regungen gestattet die heute herrschende
Realpolitik nicht mehr. Für die Weltgeschichte im allgemeinen aber bedeutet
das Schicksal der baltischen Deutschen, daß die Idee des absoluten National¬
staats gegen Völkerbrnchteile von höherer Kultur so gut gilt wie gegen solche
von niederer. Wenn das Recht ohne Rest in der Macht aufgeht, wenn die
zum Schutze vou Minderheiten oder annektirten Landschaften abgeschlossen
Verträge nnr so lange gelten, als der stärkere Teil es nicht für "opportun"
hält, sie zu breche", wen" der jeweilige Machthaber, sei es ein Monarch, oder
eine zufällige Kammcnnehrheit, oder eine Bureaukratie, außer der Rücksicht auf
das, was ihm im Augenblick als der Staatsnutzen erscheint, keine andre Grenze
feiner Willkür kennt, dann wird mit einer Minderheit der allserlesensten Geister
so wenig Federlesens gemacht wie mit einer Zigeunerbande, und über das
Schicksal der Völker entscheidet nicht mehr ihre höhere Kultur, sondern die
Menge des Geldes, der guten Gewehre und der waffenfähigen Männer, die
jedes besitzt. Die Gegenwart ist nun zwar geneigt, zu hoffen, dieser Besitz
werde sich im großen und ganzen immer dort finden, wo die höhere Kultur
ist, und wir möchten diese Hoffnung um keinen Preis entmutigen; allein der
Begriff der höhern K"le"r selbst scheint uns zweifelhaft zu werden, wen"
Treue und Gerechtigkeit nicht mehr daz" gehöre" solle".




Bischof Waltor

nichts bestoßen jÄe!j, aber die allgemeine Empörung der russischen öffentlichen
Meinung verlangt ein Opfer, und mir wirds schwer einem so loyalen Unter¬
thanen und treuen Anhänger gegenüber."

Seitdem haben sich die Dinge in den baltischen Provinzen ihrer „im¬
manenten Dialektik" nach weiter entwickelt. Diese Entwicklung hat zwei Seiten,
eine für uns Reichsdeutsche, und eine für die Weltgeschichte im allgemeinem
In ersterer Beziehung ist ja wohl niemand bei uns so thöricht, an eine An¬
nexion jenes fernen Landstrichs an Preußen zu denken. Aber es giebt Leute,
die auf deu dereinstigen Zerfall Rußlands hoffen und sich vorstellen, es wäre
schön, wenn dann die Brüder am baltische» Meere noch vorhanden wären
und uns beim Antritt der Erbschaft behilflich sei» könnten. Daß alter Hanse-
und deutscher Nitterbesitz, daß die Wiege Herders und einer großen Anzahl
von achtungswerten Vertretern deutscher Bildung dem Vaterlande für immer
und in jedem Sinne verloren gehen soll, darüber zu klagen haben wir wohl
kein Recht mehr; solche sentimentale Regungen gestattet die heute herrschende
Realpolitik nicht mehr. Für die Weltgeschichte im allgemeinen aber bedeutet
das Schicksal der baltischen Deutschen, daß die Idee des absoluten National¬
staats gegen Völkerbrnchteile von höherer Kultur so gut gilt wie gegen solche
von niederer. Wenn das Recht ohne Rest in der Macht aufgeht, wenn die
zum Schutze vou Minderheiten oder annektirten Landschaften abgeschlossen
Verträge nnr so lange gelten, als der stärkere Teil es nicht für „opportun"
hält, sie zu breche», wen» der jeweilige Machthaber, sei es ein Monarch, oder
eine zufällige Kammcnnehrheit, oder eine Bureaukratie, außer der Rücksicht auf
das, was ihm im Augenblick als der Staatsnutzen erscheint, keine andre Grenze
feiner Willkür kennt, dann wird mit einer Minderheit der allserlesensten Geister
so wenig Federlesens gemacht wie mit einer Zigeunerbande, und über das
Schicksal der Völker entscheidet nicht mehr ihre höhere Kultur, sondern die
Menge des Geldes, der guten Gewehre und der waffenfähigen Männer, die
jedes besitzt. Die Gegenwart ist nun zwar geneigt, zu hoffen, dieser Besitz
werde sich im großen und ganzen immer dort finden, wo die höhere Kultur
ist, und wir möchten diese Hoffnung um keinen Preis entmutigen; allein der
Begriff der höhern K»le»r selbst scheint uns zweifelhaft zu werden, wen»
Treue und Gerechtigkeit nicht mehr daz» gehöre» solle».




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[0278] Bischof Waltor nichts bestoßen jÄe!j, aber die allgemeine Empörung der russischen öffentlichen Meinung verlangt ein Opfer, und mir wirds schwer einem so loyalen Unter¬ thanen und treuen Anhänger gegenüber." Seitdem haben sich die Dinge in den baltischen Provinzen ihrer „im¬ manenten Dialektik" nach weiter entwickelt. Diese Entwicklung hat zwei Seiten, eine für uns Reichsdeutsche, und eine für die Weltgeschichte im allgemeinem In ersterer Beziehung ist ja wohl niemand bei uns so thöricht, an eine An¬ nexion jenes fernen Landstrichs an Preußen zu denken. Aber es giebt Leute, die auf deu dereinstigen Zerfall Rußlands hoffen und sich vorstellen, es wäre schön, wenn dann die Brüder am baltische» Meere noch vorhanden wären und uns beim Antritt der Erbschaft behilflich sei» könnten. Daß alter Hanse- und deutscher Nitterbesitz, daß die Wiege Herders und einer großen Anzahl von achtungswerten Vertretern deutscher Bildung dem Vaterlande für immer und in jedem Sinne verloren gehen soll, darüber zu klagen haben wir wohl kein Recht mehr; solche sentimentale Regungen gestattet die heute herrschende Realpolitik nicht mehr. Für die Weltgeschichte im allgemeinen aber bedeutet das Schicksal der baltischen Deutschen, daß die Idee des absoluten National¬ staats gegen Völkerbrnchteile von höherer Kultur so gut gilt wie gegen solche von niederer. Wenn das Recht ohne Rest in der Macht aufgeht, wenn die zum Schutze vou Minderheiten oder annektirten Landschaften abgeschlossen Verträge nnr so lange gelten, als der stärkere Teil es nicht für „opportun" hält, sie zu breche», wen» der jeweilige Machthaber, sei es ein Monarch, oder eine zufällige Kammcnnehrheit, oder eine Bureaukratie, außer der Rücksicht auf das, was ihm im Augenblick als der Staatsnutzen erscheint, keine andre Grenze feiner Willkür kennt, dann wird mit einer Minderheit der allserlesensten Geister so wenig Federlesens gemacht wie mit einer Zigeunerbande, und über das Schicksal der Völker entscheidet nicht mehr ihre höhere Kultur, sondern die Menge des Geldes, der guten Gewehre und der waffenfähigen Männer, die jedes besitzt. Die Gegenwart ist nun zwar geneigt, zu hoffen, dieser Besitz werde sich im großen und ganzen immer dort finden, wo die höhere Kultur ist, und wir möchten diese Hoffnung um keinen Preis entmutigen; allein der Begriff der höhern K»le»r selbst scheint uns zweifelhaft zu werden, wen» Treue und Gerechtigkeit nicht mehr daz» gehöre» solle».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_212475/278>, abgerufen am 06.01.2025.