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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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ist Herr Rvckstro als Mitarbeiter um G. Groves viotion^ bekannt. Es ge¬
nügt, ihn zu kennzeichnen, wenn wir erwähnen, daß er in dem Artikel 0p<zi-a,
die Geschichte der Oper in ungefähr 70 Perioden ableite. Als ein solcher
Mechanikus hat er nun auch das Thema Jenny Lind durchgeführt. Jede neue
Rolle wird erklärt. Die Erklärung schließt jedesmal mit dem Versuche, der
Sängerin eine ganz neue Auffassung zuzuschreiben, und dann kommen die Be¬
richte über den Erfolg in Form von vollständigen Rezensionen, die meisten ans
der Feder Rellstabs. Selten weiß Herr Nockstrv etwas, wo er etwas wissen
sollte, was man erst suchen muß. Aber bei Punkten ankommend, über die schon
geschrieben ist, wird er gesprächig, Eine der merkwürdigsten Stellen bildet die
Beschreibung des alten, von Friedrich dem Großen errichteten Opernhauses zu
Berlin. Wie kommt das hierher? Weil es eine Geschichte der Berliner Oper
von Schneider giebt. Bei den unpassendsten Gelegenheiten wird der Händel¬
gaul bestiegen, wir hören von Carcstini, von der Cuzzvni, wo es viel nötiger
wäre, uns über deu Zustand des Knnstgesanges zur Zeit der Jenny Lind zu
unterrichten. Aus demselben Mangel an Sicherheit im eignen Thema ist die
breite Behandlung der "Affaire Bumm" entsprungen. Aber da scheint der Ver¬
fasser nicht einmal über die Antecedentien des Brum genügend aufgeklärt zu
sein. Wir müßten ein kleines Buch schreiben, wenn wir alle die Thatsachen
Herzählen wollten, die beweisen, daß Herr Goldschmidt Herrn Rockstros Fähig¬
keiten ganz und gar überschätzt hat.

Daß die Biographie zwei starke Bände umsaßt, ist daraus zurückzuführen,
daß der Mitteilung von Thatsachen in der Regel Paraphrasen folgen, die dop¬
pelt so lang sind. Hieran trifft auch Herrn Holland, einen englischen Geistlichen,
die Mitschuld. In demselben Verlage wie die Biographie Jenny Linth ist
früher eine Biographie von Wilhelmine Schröder-Devrient erschienen. Sie ist
von Alfred von Wolzogen verfaßt. Hätten sich doch die Verfasser diese knappe,
gehaltvolle, unbefangene Arbeit zum Muster genommen! Freilich bleiben Sänger¬
biographien immer mit die schwierigsten Aufgaben, die der musikalischen Schrift¬
stellern gestellt werdeu können. Aber wenn es dankbare darunter giebt, so ist
es das Leben und Wirken der Jenny Lind, das, in sich reich und vielseitig,
Verbindungen und Brücken in Menge bietet, die ans dem engern Kunstgebiete
hinausführen.

Außer einigen fehr guten Bildern der Jenny Lind sind dem Werke auch
einige musikalische Beilage" hinzugefügt. Unter ihnen interessiren am meisten
die von Jenny Lind selbst komponirter Kadenzen, weil sie ein Bild ihrer techni¬
schen Fertigkeit geben und zugleich beweisen, daß für diefen besondern Kunst-
zweig das neunzehnte Jahrhundert eine Periode des Verfalls und der Manier be¬
deutet, von deren Einflüssen sich auch so große Talente wie Jenny Lind nicht
ganz freihalten konnten.




ist Herr Rvckstro als Mitarbeiter um G. Groves viotion^ bekannt. Es ge¬
nügt, ihn zu kennzeichnen, wenn wir erwähnen, daß er in dem Artikel 0p<zi-a,
die Geschichte der Oper in ungefähr 70 Perioden ableite. Als ein solcher
Mechanikus hat er nun auch das Thema Jenny Lind durchgeführt. Jede neue
Rolle wird erklärt. Die Erklärung schließt jedesmal mit dem Versuche, der
Sängerin eine ganz neue Auffassung zuzuschreiben, und dann kommen die Be¬
richte über den Erfolg in Form von vollständigen Rezensionen, die meisten ans
der Feder Rellstabs. Selten weiß Herr Nockstrv etwas, wo er etwas wissen
sollte, was man erst suchen muß. Aber bei Punkten ankommend, über die schon
geschrieben ist, wird er gesprächig, Eine der merkwürdigsten Stellen bildet die
Beschreibung des alten, von Friedrich dem Großen errichteten Opernhauses zu
Berlin. Wie kommt das hierher? Weil es eine Geschichte der Berliner Oper
von Schneider giebt. Bei den unpassendsten Gelegenheiten wird der Händel¬
gaul bestiegen, wir hören von Carcstini, von der Cuzzvni, wo es viel nötiger
wäre, uns über deu Zustand des Knnstgesanges zur Zeit der Jenny Lind zu
unterrichten. Aus demselben Mangel an Sicherheit im eignen Thema ist die
breite Behandlung der „Affaire Bumm" entsprungen. Aber da scheint der Ver¬
fasser nicht einmal über die Antecedentien des Brum genügend aufgeklärt zu
sein. Wir müßten ein kleines Buch schreiben, wenn wir alle die Thatsachen
Herzählen wollten, die beweisen, daß Herr Goldschmidt Herrn Rockstros Fähig¬
keiten ganz und gar überschätzt hat.

Daß die Biographie zwei starke Bände umsaßt, ist daraus zurückzuführen,
daß der Mitteilung von Thatsachen in der Regel Paraphrasen folgen, die dop¬
pelt so lang sind. Hieran trifft auch Herrn Holland, einen englischen Geistlichen,
die Mitschuld. In demselben Verlage wie die Biographie Jenny Linth ist
früher eine Biographie von Wilhelmine Schröder-Devrient erschienen. Sie ist
von Alfred von Wolzogen verfaßt. Hätten sich doch die Verfasser diese knappe,
gehaltvolle, unbefangene Arbeit zum Muster genommen! Freilich bleiben Sänger¬
biographien immer mit die schwierigsten Aufgaben, die der musikalischen Schrift¬
stellern gestellt werdeu können. Aber wenn es dankbare darunter giebt, so ist
es das Leben und Wirken der Jenny Lind, das, in sich reich und vielseitig,
Verbindungen und Brücken in Menge bietet, die ans dem engern Kunstgebiete
hinausführen.

Außer einigen fehr guten Bildern der Jenny Lind sind dem Werke auch
einige musikalische Beilage» hinzugefügt. Unter ihnen interessiren am meisten
die von Jenny Lind selbst komponirter Kadenzen, weil sie ein Bild ihrer techni¬
schen Fertigkeit geben und zugleich beweisen, daß für diefen besondern Kunst-
zweig das neunzehnte Jahrhundert eine Periode des Verfalls und der Manier be¬
deutet, von deren Einflüssen sich auch so große Talente wie Jenny Lind nicht
ganz freihalten konnten.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/99>, abgerufen am 23.07.2024.