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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Stndentenunruhen in Italien

doch mir halbe Maßregeln ergreifen sollten, überzeugt, das; auch mit Strenge
nichts erzielt werden würde, weil das Beispiel doch vereinzelt bliebe. Und
da wollen dann noch die Herren Bäter, die ihren Söhnen gegenüber selber
alle Autorität verloren haben, verlangen, daß sich die Lehrer nicht bloß aufs
Unterrichten, sondern auch aufs Erziehen einlassen, während sie doch stets
bereit sind, den Lehrern jede Autorität in den Augen ihrer Söhne zu rauben!

Daß aber solche verkehrte Anschauungen nicht bloß die Bäter beherrschen,
sondern auch schon die pädagogischen Kreise ergriffen haben, dafür nnr ein
Beispiel, das zugleich typisch ist für die Art und Weise, wie sich der moderne
Italiener das Verhältnis des Erwachsenen zur Schuljugend denkt. Ein alt--
renommirteS Erziehungsinstitut in der Lombardei war bis vor etwa einem
Jahrzehnt in der Hand von Priestern gewesen. Schlechte wirtschaftliche Er¬
gebnisse und die Zeitströmung hatten es schließlich in den Besitz der Stadt¬
verwaltung gebracht, die es nun in "freiheitlichen" Sinne ans eigne Kosten
weiterführte. Da aber mich unter der neuen Besitzerin das wirtschaftliche wie
das sittliche Ergebnis nicht glänzend war, obwohl Männer von unbestritten
fortschrittlicher Richtung an seiner Spitze standen, und da namentlich die Dis¬
ziplin sehr viel zu wünschen übrig ließ, so ward vor einem Jahr ein al5
Lehrer, Erzieher und Patriot hochangesehener Mann zum Direktor berufen,
da man von ihm, der nnter Garibaldi den Zug der "Tausend" mitgemacht
hatte, die Hoffnung hegte, daß er der verlotterten Anstalt wieder ans die
Beine helsen würde. In der That schien es auch, als ob er von der Autorität
des Lehrers und Erziehers einen bessern Begriff habe, als der Oberaufseher
des ganzen städtischen Schulwesens. Aber ein Fall ans der letzten Zeit be¬
weist das Gegenteil. Ein Erzieher des Instituts hatte schon seit Wochen
fortwährend mit einem schlechterdings unbeugsamen Schüler zu kämpfen. Alle
Ermahnungen halfen nichts, Berichte an den "Censor," den Meister der Dis¬
ziplin, hatten auch keinen Erfolg. Schließlich ließ sich der Mann, als ihm
der Schüler wieder einmal nicht folge" wollte, ihn sogar mit den gemeinsten
Schimpfnamen bedachte, hinreißen, dem unverschämten Schlingel eine Maul¬
schelle zu verabreichen. Als sich der Schüler bei dem Direktor beklagte, ver¬
langte dieser von dem Erzieher, daß er in Gegenwart der ganzen Schüler-
kvmpagnie den Beleidigten um Verzeihung bitte! Der Erzieher erwiderte, daß
er sich dieser Erniedrigung nicht unterziehen könne, aber der Direktor war der
Ansicht, für einen rechtschaffenen Mann sei es keine Erniedrigung, seinen Fehler
offen einzugestehen, es sei das sogar seine Pflicht. Das Ende vom Liede war,
daß der Erzieher seinen Posten verließ, weil er überzeugt war, daß ihm, wenn
er den Jungen um Verzeihung gebeten hätte, alle seine Autorität untergraben
sein würde. Sollte man es für möglich halten, daß ein Mann wie dieser
Direktor, noch dazu ein alter Soldat, den gewiß richtigen Grundsatz, daß ein
Mann von Ehre seine Fehler offen eingestehen müsse, auch aus einen solchen


Die Stndentenunruhen in Italien

doch mir halbe Maßregeln ergreifen sollten, überzeugt, das; auch mit Strenge
nichts erzielt werden würde, weil das Beispiel doch vereinzelt bliebe. Und
da wollen dann noch die Herren Bäter, die ihren Söhnen gegenüber selber
alle Autorität verloren haben, verlangen, daß sich die Lehrer nicht bloß aufs
Unterrichten, sondern auch aufs Erziehen einlassen, während sie doch stets
bereit sind, den Lehrern jede Autorität in den Augen ihrer Söhne zu rauben!

Daß aber solche verkehrte Anschauungen nicht bloß die Bäter beherrschen,
sondern auch schon die pädagogischen Kreise ergriffen haben, dafür nnr ein
Beispiel, das zugleich typisch ist für die Art und Weise, wie sich der moderne
Italiener das Verhältnis des Erwachsenen zur Schuljugend denkt. Ein alt--
renommirteS Erziehungsinstitut in der Lombardei war bis vor etwa einem
Jahrzehnt in der Hand von Priestern gewesen. Schlechte wirtschaftliche Er¬
gebnisse und die Zeitströmung hatten es schließlich in den Besitz der Stadt¬
verwaltung gebracht, die es nun in „freiheitlichen" Sinne ans eigne Kosten
weiterführte. Da aber mich unter der neuen Besitzerin das wirtschaftliche wie
das sittliche Ergebnis nicht glänzend war, obwohl Männer von unbestritten
fortschrittlicher Richtung an seiner Spitze standen, und da namentlich die Dis¬
ziplin sehr viel zu wünschen übrig ließ, so ward vor einem Jahr ein al5
Lehrer, Erzieher und Patriot hochangesehener Mann zum Direktor berufen,
da man von ihm, der nnter Garibaldi den Zug der „Tausend" mitgemacht
hatte, die Hoffnung hegte, daß er der verlotterten Anstalt wieder ans die
Beine helsen würde. In der That schien es auch, als ob er von der Autorität
des Lehrers und Erziehers einen bessern Begriff habe, als der Oberaufseher
des ganzen städtischen Schulwesens. Aber ein Fall ans der letzten Zeit be¬
weist das Gegenteil. Ein Erzieher des Instituts hatte schon seit Wochen
fortwährend mit einem schlechterdings unbeugsamen Schüler zu kämpfen. Alle
Ermahnungen halfen nichts, Berichte an den „Censor," den Meister der Dis¬
ziplin, hatten auch keinen Erfolg. Schließlich ließ sich der Mann, als ihm
der Schüler wieder einmal nicht folge» wollte, ihn sogar mit den gemeinsten
Schimpfnamen bedachte, hinreißen, dem unverschämten Schlingel eine Maul¬
schelle zu verabreichen. Als sich der Schüler bei dem Direktor beklagte, ver¬
langte dieser von dem Erzieher, daß er in Gegenwart der ganzen Schüler-
kvmpagnie den Beleidigten um Verzeihung bitte! Der Erzieher erwiderte, daß
er sich dieser Erniedrigung nicht unterziehen könne, aber der Direktor war der
Ansicht, für einen rechtschaffenen Mann sei es keine Erniedrigung, seinen Fehler
offen einzugestehen, es sei das sogar seine Pflicht. Das Ende vom Liede war,
daß der Erzieher seinen Posten verließ, weil er überzeugt war, daß ihm, wenn
er den Jungen um Verzeihung gebeten hätte, alle seine Autorität untergraben
sein würde. Sollte man es für möglich halten, daß ein Mann wie dieser
Direktor, noch dazu ein alter Soldat, den gewiß richtigen Grundsatz, daß ein
Mann von Ehre seine Fehler offen eingestehen müsse, auch aus einen solchen


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[0635] Die Stndentenunruhen in Italien doch mir halbe Maßregeln ergreifen sollten, überzeugt, das; auch mit Strenge nichts erzielt werden würde, weil das Beispiel doch vereinzelt bliebe. Und da wollen dann noch die Herren Bäter, die ihren Söhnen gegenüber selber alle Autorität verloren haben, verlangen, daß sich die Lehrer nicht bloß aufs Unterrichten, sondern auch aufs Erziehen einlassen, während sie doch stets bereit sind, den Lehrern jede Autorität in den Augen ihrer Söhne zu rauben! Daß aber solche verkehrte Anschauungen nicht bloß die Bäter beherrschen, sondern auch schon die pädagogischen Kreise ergriffen haben, dafür nnr ein Beispiel, das zugleich typisch ist für die Art und Weise, wie sich der moderne Italiener das Verhältnis des Erwachsenen zur Schuljugend denkt. Ein alt-- renommirteS Erziehungsinstitut in der Lombardei war bis vor etwa einem Jahrzehnt in der Hand von Priestern gewesen. Schlechte wirtschaftliche Er¬ gebnisse und die Zeitströmung hatten es schließlich in den Besitz der Stadt¬ verwaltung gebracht, die es nun in „freiheitlichen" Sinne ans eigne Kosten weiterführte. Da aber mich unter der neuen Besitzerin das wirtschaftliche wie das sittliche Ergebnis nicht glänzend war, obwohl Männer von unbestritten fortschrittlicher Richtung an seiner Spitze standen, und da namentlich die Dis¬ ziplin sehr viel zu wünschen übrig ließ, so ward vor einem Jahr ein al5 Lehrer, Erzieher und Patriot hochangesehener Mann zum Direktor berufen, da man von ihm, der nnter Garibaldi den Zug der „Tausend" mitgemacht hatte, die Hoffnung hegte, daß er der verlotterten Anstalt wieder ans die Beine helsen würde. In der That schien es auch, als ob er von der Autorität des Lehrers und Erziehers einen bessern Begriff habe, als der Oberaufseher des ganzen städtischen Schulwesens. Aber ein Fall ans der letzten Zeit be¬ weist das Gegenteil. Ein Erzieher des Instituts hatte schon seit Wochen fortwährend mit einem schlechterdings unbeugsamen Schüler zu kämpfen. Alle Ermahnungen halfen nichts, Berichte an den „Censor," den Meister der Dis¬ ziplin, hatten auch keinen Erfolg. Schließlich ließ sich der Mann, als ihm der Schüler wieder einmal nicht folge» wollte, ihn sogar mit den gemeinsten Schimpfnamen bedachte, hinreißen, dem unverschämten Schlingel eine Maul¬ schelle zu verabreichen. Als sich der Schüler bei dem Direktor beklagte, ver¬ langte dieser von dem Erzieher, daß er in Gegenwart der ganzen Schüler- kvmpagnie den Beleidigten um Verzeihung bitte! Der Erzieher erwiderte, daß er sich dieser Erniedrigung nicht unterziehen könne, aber der Direktor war der Ansicht, für einen rechtschaffenen Mann sei es keine Erniedrigung, seinen Fehler offen einzugestehen, es sei das sogar seine Pflicht. Das Ende vom Liede war, daß der Erzieher seinen Posten verließ, weil er überzeugt war, daß ihm, wenn er den Jungen um Verzeihung gebeten hätte, alle seine Autorität untergraben sein würde. Sollte man es für möglich halten, daß ein Mann wie dieser Direktor, noch dazu ein alter Soldat, den gewiß richtigen Grundsatz, daß ein Mann von Ehre seine Fehler offen eingestehen müsse, auch aus einen solchen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/635>, abgerufen am 23.07.2024.