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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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"ationalliberalen Partei die ideale" Bestrebungen des Liberalismus nannte,
die Zeiten, wo Fragen des Verfassungsrechts das ganze Volk bis in seine
tiefsten Tiefen aufregten, sind unwiederbringlich dahin, Sie sind dahin, nicht
weil diese Fragen gleichgültig und bedeutungslos wären, sondern weil der
Kampf um die Verfassung, um die Stellung des Monarchen gegeuüber der
Volksvertretung, um die Rechte des Volks im wesentlichen entschieden ist,
entschieden in einer alle Beteiligten im allgemeinen befriedigenden Weise, und
weil es niemand einfüllt und einfallen kann, an unsrer Verfassung zu rütteln.

Aber der Liberalismus vermag sich noch immer nicht von der alten
liebgeworduen Gewohnheit zu trennen; unbekümmert um den Gang der
Geschichte, um deu ungeheuern Wandel, der im Laufe des Jahrhunderts in
unsern Anschauungen eingetreten ist, fahrt er fort, Rechte zu verteidige", die
niemand anficht, und sich gegen reaktionäre Bestrebungen zu wenden, die, außer
in seiiier El"bild"ng, nirgends bestehen, Anstatt a" den gewaltigen und ideale"
Aufgabe" der Gegenwart, der Versöhnung der Klassengegensätze, a" der Wieder¬
belebung des religiösen Sinnes, der sittlichen und körperlichen Hebung des
gesamte" Volks, der praktische" Tnrchführnng der allgemeine" Freiheit, die er
i" der Theorie gewährt hat, n"d die in Wirklichkeit bisher mir einer kleinen
Klasse zu gute gekommen ist, opferfreudig und einsichtsvoll mitzuwirken, setzt
er mit unheimlicher Beharrlichkeit die alte Politische Klvpffechterei fort und
vergeudet die tüchtige Kraft unsers Bürgertums in einem Kampfe gegen Wind¬
mühle". So führt er in der lebendigen Welt das wunderliche Lebe" eines
Sonderlings, der, in den Anschauungen vergangner Zeiten befangen, nichts
von dem versteht, was um ihn herum vorgeht. Weil er selbst sich in einer
verkehrten Gedankenrichtung bewegt, scheint ihm alles verkehrt, rechter Hand,
linker Hand alles vertauscht zu sein.

Alles, was gerade die Gegenwart kennzeichnet, begegnet bei unserm heu¬
tigen Liberalismus der absolutesten Verständnislvsigkeit.

Spricht unser Kaiser von dem Ernste seines Herrscherbernfs und von seinen
großen Aufgaben gegenüber den schwere" Gefahre" der Zeit, so wird diese Rede
so lauge gedreht und gebeutelt, bis man das in ihr findet, was man überall mit
dem Mißtraue" des Verfolgungswahns sucht: eine reaktionäre, absolutistische
Bestrebung. Daß wir - - Gott Lob! und zwar auch nach dem Willen des
Äberalism"s, eine lebendige Monarchie haben, daß es ihre voriiehmste Aus¬
gabe ist, über den Parteien und ihren mannichfaltigen Interessen stehend die
Versöhnung der sozialen Gegensätze anzubahnen, und daß nichts andres als
dies, als das Bewußtsein, mehr zu sei" als bloß eine zwischen den Parteien
hin- ""d Hergeschleiste Puppe, i" den Reden des Kaisers zu drastischen,
vielleicht nicht immer glücklichem Ausdrucke kommt, dafür ist man blind, weil
man die Gegenwart' nicht kennt und daher anch kein Verständnis haben kann
für die neuen, soziale" A"fgaben der Krone. So gelangt man denn dazu,


»ationalliberalen Partei die ideale» Bestrebungen des Liberalismus nannte,
die Zeiten, wo Fragen des Verfassungsrechts das ganze Volk bis in seine
tiefsten Tiefen aufregten, sind unwiederbringlich dahin, Sie sind dahin, nicht
weil diese Fragen gleichgültig und bedeutungslos wären, sondern weil der
Kampf um die Verfassung, um die Stellung des Monarchen gegeuüber der
Volksvertretung, um die Rechte des Volks im wesentlichen entschieden ist,
entschieden in einer alle Beteiligten im allgemeinen befriedigenden Weise, und
weil es niemand einfüllt und einfallen kann, an unsrer Verfassung zu rütteln.

Aber der Liberalismus vermag sich noch immer nicht von der alten
liebgeworduen Gewohnheit zu trennen; unbekümmert um den Gang der
Geschichte, um deu ungeheuern Wandel, der im Laufe des Jahrhunderts in
unsern Anschauungen eingetreten ist, fahrt er fort, Rechte zu verteidige», die
niemand anficht, und sich gegen reaktionäre Bestrebungen zu wenden, die, außer
in seiiier El»bild»ng, nirgends bestehen, Anstatt a» den gewaltigen und ideale»
Aufgabe» der Gegenwart, der Versöhnung der Klassengegensätze, a» der Wieder¬
belebung des religiösen Sinnes, der sittlichen und körperlichen Hebung des
gesamte» Volks, der praktische» Tnrchführnng der allgemeine» Freiheit, die er
i» der Theorie gewährt hat, n»d die in Wirklichkeit bisher mir einer kleinen
Klasse zu gute gekommen ist, opferfreudig und einsichtsvoll mitzuwirken, setzt
er mit unheimlicher Beharrlichkeit die alte Politische Klvpffechterei fort und
vergeudet die tüchtige Kraft unsers Bürgertums in einem Kampfe gegen Wind¬
mühle». So führt er in der lebendigen Welt das wunderliche Lebe» eines
Sonderlings, der, in den Anschauungen vergangner Zeiten befangen, nichts
von dem versteht, was um ihn herum vorgeht. Weil er selbst sich in einer
verkehrten Gedankenrichtung bewegt, scheint ihm alles verkehrt, rechter Hand,
linker Hand alles vertauscht zu sein.

Alles, was gerade die Gegenwart kennzeichnet, begegnet bei unserm heu¬
tigen Liberalismus der absolutesten Verständnislvsigkeit.

Spricht unser Kaiser von dem Ernste seines Herrscherbernfs und von seinen
großen Aufgaben gegenüber den schwere» Gefahre» der Zeit, so wird diese Rede
so lauge gedreht und gebeutelt, bis man das in ihr findet, was man überall mit
dem Mißtraue» des Verfolgungswahns sucht: eine reaktionäre, absolutistische
Bestrebung. Daß wir - - Gott Lob! und zwar auch nach dem Willen des
Äberalism»s, eine lebendige Monarchie haben, daß es ihre voriiehmste Aus¬
gabe ist, über den Parteien und ihren mannichfaltigen Interessen stehend die
Versöhnung der sozialen Gegensätze anzubahnen, und daß nichts andres als
dies, als das Bewußtsein, mehr zu sei» als bloß eine zwischen den Parteien
hin- »»d Hergeschleiste Puppe, i» den Reden des Kaisers zu drastischen,
vielleicht nicht immer glücklichem Ausdrucke kommt, dafür ist man blind, weil
man die Gegenwart' nicht kennt und daher anch kein Verständnis haben kann
für die neuen, soziale» A»fgaben der Krone. So gelangt man denn dazu,


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[0618] »ationalliberalen Partei die ideale» Bestrebungen des Liberalismus nannte, die Zeiten, wo Fragen des Verfassungsrechts das ganze Volk bis in seine tiefsten Tiefen aufregten, sind unwiederbringlich dahin, Sie sind dahin, nicht weil diese Fragen gleichgültig und bedeutungslos wären, sondern weil der Kampf um die Verfassung, um die Stellung des Monarchen gegeuüber der Volksvertretung, um die Rechte des Volks im wesentlichen entschieden ist, entschieden in einer alle Beteiligten im allgemeinen befriedigenden Weise, und weil es niemand einfüllt und einfallen kann, an unsrer Verfassung zu rütteln. Aber der Liberalismus vermag sich noch immer nicht von der alten liebgeworduen Gewohnheit zu trennen; unbekümmert um den Gang der Geschichte, um deu ungeheuern Wandel, der im Laufe des Jahrhunderts in unsern Anschauungen eingetreten ist, fahrt er fort, Rechte zu verteidige», die niemand anficht, und sich gegen reaktionäre Bestrebungen zu wenden, die, außer in seiiier El»bild»ng, nirgends bestehen, Anstatt a» den gewaltigen und ideale» Aufgabe» der Gegenwart, der Versöhnung der Klassengegensätze, a» der Wieder¬ belebung des religiösen Sinnes, der sittlichen und körperlichen Hebung des gesamte» Volks, der praktische» Tnrchführnng der allgemeine» Freiheit, die er i» der Theorie gewährt hat, n»d die in Wirklichkeit bisher mir einer kleinen Klasse zu gute gekommen ist, opferfreudig und einsichtsvoll mitzuwirken, setzt er mit unheimlicher Beharrlichkeit die alte Politische Klvpffechterei fort und vergeudet die tüchtige Kraft unsers Bürgertums in einem Kampfe gegen Wind¬ mühle». So führt er in der lebendigen Welt das wunderliche Lebe» eines Sonderlings, der, in den Anschauungen vergangner Zeiten befangen, nichts von dem versteht, was um ihn herum vorgeht. Weil er selbst sich in einer verkehrten Gedankenrichtung bewegt, scheint ihm alles verkehrt, rechter Hand, linker Hand alles vertauscht zu sein. Alles, was gerade die Gegenwart kennzeichnet, begegnet bei unserm heu¬ tigen Liberalismus der absolutesten Verständnislvsigkeit. Spricht unser Kaiser von dem Ernste seines Herrscherbernfs und von seinen großen Aufgaben gegenüber den schwere» Gefahre» der Zeit, so wird diese Rede so lauge gedreht und gebeutelt, bis man das in ihr findet, was man überall mit dem Mißtraue» des Verfolgungswahns sucht: eine reaktionäre, absolutistische Bestrebung. Daß wir - - Gott Lob! und zwar auch nach dem Willen des Äberalism»s, eine lebendige Monarchie haben, daß es ihre voriiehmste Aus¬ gabe ist, über den Parteien und ihren mannichfaltigen Interessen stehend die Versöhnung der sozialen Gegensätze anzubahnen, und daß nichts andres als dies, als das Bewußtsein, mehr zu sei» als bloß eine zwischen den Parteien hin- »»d Hergeschleiste Puppe, i» den Reden des Kaisers zu drastischen, vielleicht nicht immer glücklichem Ausdrucke kommt, dafür ist man blind, weil man die Gegenwart' nicht kennt und daher anch kein Verständnis haben kann für die neuen, soziale» A»fgaben der Krone. So gelangt man denn dazu,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/618>, abgerufen am 23.07.2024.