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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Zu den Sprachdumncheiten

bedeutet in beiden Sätzen nichts weiter als jedes Jahr, der Sinn des
Periodischen kommt nur durch die Worte Osterfest und Christuskind in
die Sätze. Wenn ich sage' ich reise alle Jahre nach Italien, so kann ich doch
das einemal im März, ein andermal im Mai, ein drittes mal im Oktober
reisen. Will ich dagegen sagen, daß ich die Reise in genauen Abständen von
je einem Jahre antrete, so würde ich zwar vielleicht nicht sagen: aller
Jahre (das ist ungebräuchlich), wohl aber, wo es ans eine so genaue Be¬
stimmung einer periodisch wiederkehrenden Handlung ankommt: aller zwölf
Monate. Wenn dieser Genetiv in Süddeutschland und, wie ich aus verschie¬
denen Znsendungen gesehen habe, auch in Norddeutschland nicht (oder nicht
mehr?) gebräuchlich ist und durch den Akkusativ (alle (!) zwölf Monate),
der daneben doch noch etwas ganz andres bedeutet, mit vertreten wird, so ist
das ein Beispiel bedauerlichen Sprachverfalls. I" Sachsen wird nicht nur
jede Zeit-, sondern auch jede Raumangabe, durch die der Raum oder die Zeit
in gleiche Teile zerlegt wird, durch diesen "distributiven" Genitiv, wie man
ihn treffend genannt hat, ausgedrückt, und zwar keineswegs mir vom niedrigen
Volke, sodaß man die Erscheinung als "gemeinen Provinzialismus" abthun
könnte, sondern auch von den Gebildeten. Nicht bloß die Straßenjugend
spottet von der Leipziger Pferdebahn: Und aller fünf Minnten, da bleibt
de Karre stehn -- sondern auch die gebildete Mutter sagt zu ihren Kindern:
Bleib doch nicht aller zehn Schritte stehn, oder: du bleibst ja aller drei
Zeilen hängen, oder: so etwas kommt nur aller Jubeljahre einmal vor
(wobei der Zahlbegriff in Jubel steckt: 25, 50, 100). und auch der Arzt
schreibt, wenn er wirklich ans einer sächsischen Familie stammt und nicht etwa
ein zugewanderter Berliner ist, auf sein Rezept: aller zwei Stunden einen
Eßlöffel voll zu nehmen. Sollen wir diesen feingefärbten Genetiv dem ver¬
waschenen Berliner oder Stuttgarter Akkusativ opfern? Fällt uns gar nicht ein.

Auch wenn Erbe den in unsern antiquarischen Katalogen beliebten Fehler:
erste, seltne Ausgabe alles Ernstes in Schutz nimmt, kann ich mich nicht
mit seinem Sprachgefühl befreunden. Das Beispiel: zweite, verbesserte
Auflage ist gar nicht damit zu vergleichen. In dem ersten Falle bedeutet
erste Ausgabe so viel wie Originalausgabe; das ist ein einziger Begriff,
der nicht zerrissen werden darf. In, zweiten Falle ist verbesserte ein nach¬
träglicher Zusatz, vor dem man sich ein und zwar zu denken hat: zweite,
und zwar verbesserte Auflage.

Es ist merkwürdig, wieviel in einer, wie man denken sollte, so einfachen
Aufgabe gefehlt wird, zu einem Hauptwort in logisch richtiger Reihenfolge
zwei Eigenschaftswörter zu setzen. In wenigen Tagen habe ich folgende Bei¬
spiele gesammelt: ein sächsischer junger Leutnant -- die ausländische
gesamte Medizin ^ man schöpfte mit hölzernen großen Kannen -- wenn
die Sonne schien, wurden die seidnen verblaßten Vorhänge zugezogen.


Zu den Sprachdumncheiten

bedeutet in beiden Sätzen nichts weiter als jedes Jahr, der Sinn des
Periodischen kommt nur durch die Worte Osterfest und Christuskind in
die Sätze. Wenn ich sage' ich reise alle Jahre nach Italien, so kann ich doch
das einemal im März, ein andermal im Mai, ein drittes mal im Oktober
reisen. Will ich dagegen sagen, daß ich die Reise in genauen Abständen von
je einem Jahre antrete, so würde ich zwar vielleicht nicht sagen: aller
Jahre (das ist ungebräuchlich), wohl aber, wo es ans eine so genaue Be¬
stimmung einer periodisch wiederkehrenden Handlung ankommt: aller zwölf
Monate. Wenn dieser Genetiv in Süddeutschland und, wie ich aus verschie¬
denen Znsendungen gesehen habe, auch in Norddeutschland nicht (oder nicht
mehr?) gebräuchlich ist und durch den Akkusativ (alle (!) zwölf Monate),
der daneben doch noch etwas ganz andres bedeutet, mit vertreten wird, so ist
das ein Beispiel bedauerlichen Sprachverfalls. I» Sachsen wird nicht nur
jede Zeit-, sondern auch jede Raumangabe, durch die der Raum oder die Zeit
in gleiche Teile zerlegt wird, durch diesen „distributiven" Genitiv, wie man
ihn treffend genannt hat, ausgedrückt, und zwar keineswegs mir vom niedrigen
Volke, sodaß man die Erscheinung als „gemeinen Provinzialismus" abthun
könnte, sondern auch von den Gebildeten. Nicht bloß die Straßenjugend
spottet von der Leipziger Pferdebahn: Und aller fünf Minnten, da bleibt
de Karre stehn — sondern auch die gebildete Mutter sagt zu ihren Kindern:
Bleib doch nicht aller zehn Schritte stehn, oder: du bleibst ja aller drei
Zeilen hängen, oder: so etwas kommt nur aller Jubeljahre einmal vor
(wobei der Zahlbegriff in Jubel steckt: 25, 50, 100). und auch der Arzt
schreibt, wenn er wirklich ans einer sächsischen Familie stammt und nicht etwa
ein zugewanderter Berliner ist, auf sein Rezept: aller zwei Stunden einen
Eßlöffel voll zu nehmen. Sollen wir diesen feingefärbten Genetiv dem ver¬
waschenen Berliner oder Stuttgarter Akkusativ opfern? Fällt uns gar nicht ein.

Auch wenn Erbe den in unsern antiquarischen Katalogen beliebten Fehler:
erste, seltne Ausgabe alles Ernstes in Schutz nimmt, kann ich mich nicht
mit seinem Sprachgefühl befreunden. Das Beispiel: zweite, verbesserte
Auflage ist gar nicht damit zu vergleichen. In dem ersten Falle bedeutet
erste Ausgabe so viel wie Originalausgabe; das ist ein einziger Begriff,
der nicht zerrissen werden darf. In, zweiten Falle ist verbesserte ein nach¬
träglicher Zusatz, vor dem man sich ein und zwar zu denken hat: zweite,
und zwar verbesserte Auflage.

Es ist merkwürdig, wieviel in einer, wie man denken sollte, so einfachen
Aufgabe gefehlt wird, zu einem Hauptwort in logisch richtiger Reihenfolge
zwei Eigenschaftswörter zu setzen. In wenigen Tagen habe ich folgende Bei¬
spiele gesammelt: ein sächsischer junger Leutnant — die ausländische
gesamte Medizin ^ man schöpfte mit hölzernen großen Kannen — wenn
die Sonne schien, wurden die seidnen verblaßten Vorhänge zugezogen.


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[0597] Zu den Sprachdumncheiten bedeutet in beiden Sätzen nichts weiter als jedes Jahr, der Sinn des Periodischen kommt nur durch die Worte Osterfest und Christuskind in die Sätze. Wenn ich sage' ich reise alle Jahre nach Italien, so kann ich doch das einemal im März, ein andermal im Mai, ein drittes mal im Oktober reisen. Will ich dagegen sagen, daß ich die Reise in genauen Abständen von je einem Jahre antrete, so würde ich zwar vielleicht nicht sagen: aller Jahre (das ist ungebräuchlich), wohl aber, wo es ans eine so genaue Be¬ stimmung einer periodisch wiederkehrenden Handlung ankommt: aller zwölf Monate. Wenn dieser Genetiv in Süddeutschland und, wie ich aus verschie¬ denen Znsendungen gesehen habe, auch in Norddeutschland nicht (oder nicht mehr?) gebräuchlich ist und durch den Akkusativ (alle (!) zwölf Monate), der daneben doch noch etwas ganz andres bedeutet, mit vertreten wird, so ist das ein Beispiel bedauerlichen Sprachverfalls. I» Sachsen wird nicht nur jede Zeit-, sondern auch jede Raumangabe, durch die der Raum oder die Zeit in gleiche Teile zerlegt wird, durch diesen „distributiven" Genitiv, wie man ihn treffend genannt hat, ausgedrückt, und zwar keineswegs mir vom niedrigen Volke, sodaß man die Erscheinung als „gemeinen Provinzialismus" abthun könnte, sondern auch von den Gebildeten. Nicht bloß die Straßenjugend spottet von der Leipziger Pferdebahn: Und aller fünf Minnten, da bleibt de Karre stehn — sondern auch die gebildete Mutter sagt zu ihren Kindern: Bleib doch nicht aller zehn Schritte stehn, oder: du bleibst ja aller drei Zeilen hängen, oder: so etwas kommt nur aller Jubeljahre einmal vor (wobei der Zahlbegriff in Jubel steckt: 25, 50, 100). und auch der Arzt schreibt, wenn er wirklich ans einer sächsischen Familie stammt und nicht etwa ein zugewanderter Berliner ist, auf sein Rezept: aller zwei Stunden einen Eßlöffel voll zu nehmen. Sollen wir diesen feingefärbten Genetiv dem ver¬ waschenen Berliner oder Stuttgarter Akkusativ opfern? Fällt uns gar nicht ein. Auch wenn Erbe den in unsern antiquarischen Katalogen beliebten Fehler: erste, seltne Ausgabe alles Ernstes in Schutz nimmt, kann ich mich nicht mit seinem Sprachgefühl befreunden. Das Beispiel: zweite, verbesserte Auflage ist gar nicht damit zu vergleichen. In dem ersten Falle bedeutet erste Ausgabe so viel wie Originalausgabe; das ist ein einziger Begriff, der nicht zerrissen werden darf. In, zweiten Falle ist verbesserte ein nach¬ träglicher Zusatz, vor dem man sich ein und zwar zu denken hat: zweite, und zwar verbesserte Auflage. Es ist merkwürdig, wieviel in einer, wie man denken sollte, so einfachen Aufgabe gefehlt wird, zu einem Hauptwort in logisch richtiger Reihenfolge zwei Eigenschaftswörter zu setzen. In wenigen Tagen habe ich folgende Bei¬ spiele gesammelt: ein sächsischer junger Leutnant — die ausländische gesamte Medizin ^ man schöpfte mit hölzernen großen Kannen — wenn die Sonne schien, wurden die seidnen verblaßten Vorhänge zugezogen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/597>, abgerufen am 23.07.2024.