Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Litteratur

des Verfassers, Nur auf dem Boden völlig schrankenloser individueller Freiheit,
glaubt dieser, könne und werde das Paradies erblühen, das die Sozialdemokraten
mit mehr oder weniger konunnnistischen: Zwange zu pflanzen gedenken. Den Sozial¬
demokraten weist er zwar ihre Unvernunft nach, erklärt sie aber für verhältnis¬
mäßig harmlos; denu vor der Unvernunft der Anhänger des Bestehenden habe
die der Sozialdemokraten den großen Vorzug voraus, daß sie nicht verwirklicht
werden könne, während jene nicht allein möglich, sondern auch wirklich sei; nicht
durch größere Klugheit, sondern nur durch ihre Kaltherzigkeit unterschieden sich die
Ordnungsparteicn von den Revolutionären, Das Hauptverdienst Hertzkas besteht
darin, deu Widerspruch zwischen der unermeßlichen Produktionskraft unsrer Zeit
und dem Gütermangcl, unter dem die Mehrzahl der Menschen seufzt, noch schärfer
beleuchtet zu haben als Rodbertus. Außerdem findet mau bei ihm manchen prak¬
tisch brauchbaren Gedanken und eine vortreffliche Kritik der Tauschwcrttheorie von
Smith, Ricardo und Marx, Der Hauptfehler seiner Utopie liegt, wie gewöhnlich
bei Utopien, auf der pshcholvgischcn Seite, Mit Adam Smith erwartet er, daß
bei wirklicher Befreiung des Individuums von allen gesetzlichen und sonstigen
Fesseln die vielbcklagte Anarchie der Produktion von selbst der schönsten Ordnung
weichen werde, indem sich jeder stets beeilen werde, gerade die Dinge und nur diese
zu erzeugen, die im Augenblick am nötigsten gebraucht werden; denn welche am
nötigsten seien, das zeige jederzeit die Preissteigerung an, und zu einem andern
Zwecke, als um möglichst hohen Gewinn herauszuschlagen, vroduzire doch niemand,
Hertzka irrt, wenn er meint, jedermann sei stets bereit, seine Berufsarbeit hinzu-
werfen und dorthin zu rennen, wo ein paar Thaler Mehrgewinn winken, Nicht
bloß bei geistigen Arbeiten, wie er selbst zugiebt, sondern auch beim Handwerk,
namentlich aber bei Ackerbau und Viehzucht, ja sogar bei verschiednen Arten per^
söulicher Dienstleistung entwickelt sich eine starke Anhänglichkeit an den Beruf und
an die Verhältnisse, die sich bei Ausübung der Berufsarbeit gebildet haben, an
die Einrichtungen, die sich der Arbeitende dabei geschaffen hat, an die Menschen,
mit deuen ihn seine Berufsarbeit verbindet, Und abgesehen von den edlern Empfin¬
dungen des Gemütes, aus denen solche Anhänglichkeiten erwachsen, ist doch die
Macht der Trägheit nicht zu unterschätzen; Leute von solcher Elastizität, daß sie
sich mit Leichtigkeit in jede beliebige Beschäftigung hineinfinden, Leute, die heute
Roggen, morgen Hammel, übermorgen ebensogern Damenhüie oder Schuhwichse,
zuletzt mit gleich großem Vergnügen Romane, Schnaps oder Leitartikel "Produziren",
gehören in unserm "schwerfälligen" deutschen Volke zu deu Seltenheiten, und wir
rechucns ihm zur Ehre an. Endlich verlangt doch mich jede Berufsarbeit eine
wenigstens kurze Lehrzeit, Hertzka sieht die Arbeit uicht mit deutschen, sondern
mit amerikanisch-semitischen Angen an.






Für rin Redaktion verantwortlich- Johannes Gruuow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig -- Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig,
Litteratur

des Verfassers, Nur auf dem Boden völlig schrankenloser individueller Freiheit,
glaubt dieser, könne und werde das Paradies erblühen, das die Sozialdemokraten
mit mehr oder weniger konunnnistischen: Zwange zu pflanzen gedenken. Den Sozial¬
demokraten weist er zwar ihre Unvernunft nach, erklärt sie aber für verhältnis¬
mäßig harmlos; denu vor der Unvernunft der Anhänger des Bestehenden habe
die der Sozialdemokraten den großen Vorzug voraus, daß sie nicht verwirklicht
werden könne, während jene nicht allein möglich, sondern auch wirklich sei; nicht
durch größere Klugheit, sondern nur durch ihre Kaltherzigkeit unterschieden sich die
Ordnungsparteicn von den Revolutionären, Das Hauptverdienst Hertzkas besteht
darin, deu Widerspruch zwischen der unermeßlichen Produktionskraft unsrer Zeit
und dem Gütermangcl, unter dem die Mehrzahl der Menschen seufzt, noch schärfer
beleuchtet zu haben als Rodbertus. Außerdem findet mau bei ihm manchen prak¬
tisch brauchbaren Gedanken und eine vortreffliche Kritik der Tauschwcrttheorie von
Smith, Ricardo und Marx, Der Hauptfehler seiner Utopie liegt, wie gewöhnlich
bei Utopien, auf der pshcholvgischcn Seite, Mit Adam Smith erwartet er, daß
bei wirklicher Befreiung des Individuums von allen gesetzlichen und sonstigen
Fesseln die vielbcklagte Anarchie der Produktion von selbst der schönsten Ordnung
weichen werde, indem sich jeder stets beeilen werde, gerade die Dinge und nur diese
zu erzeugen, die im Augenblick am nötigsten gebraucht werden; denn welche am
nötigsten seien, das zeige jederzeit die Preissteigerung an, und zu einem andern
Zwecke, als um möglichst hohen Gewinn herauszuschlagen, vroduzire doch niemand,
Hertzka irrt, wenn er meint, jedermann sei stets bereit, seine Berufsarbeit hinzu-
werfen und dorthin zu rennen, wo ein paar Thaler Mehrgewinn winken, Nicht
bloß bei geistigen Arbeiten, wie er selbst zugiebt, sondern auch beim Handwerk,
namentlich aber bei Ackerbau und Viehzucht, ja sogar bei verschiednen Arten per^
söulicher Dienstleistung entwickelt sich eine starke Anhänglichkeit an den Beruf und
an die Verhältnisse, die sich bei Ausübung der Berufsarbeit gebildet haben, an
die Einrichtungen, die sich der Arbeitende dabei geschaffen hat, an die Menschen,
mit deuen ihn seine Berufsarbeit verbindet, Und abgesehen von den edlern Empfin¬
dungen des Gemütes, aus denen solche Anhänglichkeiten erwachsen, ist doch die
Macht der Trägheit nicht zu unterschätzen; Leute von solcher Elastizität, daß sie
sich mit Leichtigkeit in jede beliebige Beschäftigung hineinfinden, Leute, die heute
Roggen, morgen Hammel, übermorgen ebensogern Damenhüie oder Schuhwichse,
zuletzt mit gleich großem Vergnügen Romane, Schnaps oder Leitartikel „Produziren",
gehören in unserm „schwerfälligen" deutschen Volke zu deu Seltenheiten, und wir
rechucns ihm zur Ehre an. Endlich verlangt doch mich jede Berufsarbeit eine
wenigstens kurze Lehrzeit, Hertzka sieht die Arbeit uicht mit deutschen, sondern
mit amerikanisch-semitischen Angen an.






Für rin Redaktion verantwortlich- Johannes Gruuow in Leipzig
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig,
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211224"/>
            <fw type="header" place="top"> Litteratur</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_171" prev="#ID_170"> des Verfassers, Nur auf dem Boden völlig schrankenloser individueller Freiheit,<lb/>
glaubt dieser, könne und werde das Paradies erblühen, das die Sozialdemokraten<lb/>
mit mehr oder weniger konunnnistischen: Zwange zu pflanzen gedenken. Den Sozial¬<lb/>
demokraten weist er zwar ihre Unvernunft nach, erklärt sie aber für verhältnis¬<lb/>
mäßig harmlos; denu vor der Unvernunft der Anhänger des Bestehenden habe<lb/>
die der Sozialdemokraten den großen Vorzug voraus, daß sie nicht verwirklicht<lb/>
werden könne, während jene nicht allein möglich, sondern auch wirklich sei; nicht<lb/>
durch größere Klugheit, sondern nur durch ihre Kaltherzigkeit unterschieden sich die<lb/>
Ordnungsparteicn von den Revolutionären, Das Hauptverdienst Hertzkas besteht<lb/>
darin, deu Widerspruch zwischen der unermeßlichen Produktionskraft unsrer Zeit<lb/>
und dem Gütermangcl, unter dem die Mehrzahl der Menschen seufzt, noch schärfer<lb/>
beleuchtet zu haben als Rodbertus. Außerdem findet mau bei ihm manchen prak¬<lb/>
tisch brauchbaren Gedanken und eine vortreffliche Kritik der Tauschwcrttheorie von<lb/>
Smith, Ricardo und Marx, Der Hauptfehler seiner Utopie liegt, wie gewöhnlich<lb/>
bei Utopien, auf der pshcholvgischcn Seite, Mit Adam Smith erwartet er, daß<lb/>
bei wirklicher Befreiung des Individuums von allen gesetzlichen und sonstigen<lb/>
Fesseln die vielbcklagte Anarchie der Produktion von selbst der schönsten Ordnung<lb/>
weichen werde, indem sich jeder stets beeilen werde, gerade die Dinge und nur diese<lb/>
zu erzeugen, die im Augenblick am nötigsten gebraucht werden; denn welche am<lb/>
nötigsten seien, das zeige jederzeit die Preissteigerung an, und zu einem andern<lb/>
Zwecke, als um möglichst hohen Gewinn herauszuschlagen, vroduzire doch niemand,<lb/>
Hertzka irrt, wenn er meint, jedermann sei stets bereit, seine Berufsarbeit hinzu-<lb/>
werfen und dorthin zu rennen, wo ein paar Thaler Mehrgewinn winken, Nicht<lb/>
bloß bei geistigen Arbeiten, wie er selbst zugiebt, sondern auch beim Handwerk,<lb/>
namentlich aber bei Ackerbau und Viehzucht, ja sogar bei verschiednen Arten per^<lb/>
söulicher Dienstleistung entwickelt sich eine starke Anhänglichkeit an den Beruf und<lb/>
an die Verhältnisse, die sich bei Ausübung der Berufsarbeit gebildet haben, an<lb/>
die Einrichtungen, die sich der Arbeitende dabei geschaffen hat, an die Menschen,<lb/>
mit deuen ihn seine Berufsarbeit verbindet, Und abgesehen von den edlern Empfin¬<lb/>
dungen des Gemütes, aus denen solche Anhänglichkeiten erwachsen, ist doch die<lb/>
Macht der Trägheit nicht zu unterschätzen; Leute von solcher Elastizität, daß sie<lb/>
sich mit Leichtigkeit in jede beliebige Beschäftigung hineinfinden, Leute, die heute<lb/>
Roggen, morgen Hammel, übermorgen ebensogern Damenhüie oder Schuhwichse,<lb/>
zuletzt mit gleich großem Vergnügen Romane, Schnaps oder Leitartikel &#x201E;Produziren",<lb/>
gehören in unserm &#x201E;schwerfälligen" deutschen Volke zu deu Seltenheiten, und wir<lb/>
rechucns ihm zur Ehre an. Endlich verlangt doch mich jede Berufsarbeit eine<lb/>
wenigstens kurze Lehrzeit, Hertzka sieht die Arbeit uicht mit deutschen, sondern<lb/>
mit amerikanisch-semitischen Angen an.</p><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <note type="byline"> Für rin Redaktion verantwortlich- Johannes Gruuow in Leipzig<lb/>
Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig &#x2014; Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig,</note><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0056] Litteratur des Verfassers, Nur auf dem Boden völlig schrankenloser individueller Freiheit, glaubt dieser, könne und werde das Paradies erblühen, das die Sozialdemokraten mit mehr oder weniger konunnnistischen: Zwange zu pflanzen gedenken. Den Sozial¬ demokraten weist er zwar ihre Unvernunft nach, erklärt sie aber für verhältnis¬ mäßig harmlos; denu vor der Unvernunft der Anhänger des Bestehenden habe die der Sozialdemokraten den großen Vorzug voraus, daß sie nicht verwirklicht werden könne, während jene nicht allein möglich, sondern auch wirklich sei; nicht durch größere Klugheit, sondern nur durch ihre Kaltherzigkeit unterschieden sich die Ordnungsparteicn von den Revolutionären, Das Hauptverdienst Hertzkas besteht darin, deu Widerspruch zwischen der unermeßlichen Produktionskraft unsrer Zeit und dem Gütermangcl, unter dem die Mehrzahl der Menschen seufzt, noch schärfer beleuchtet zu haben als Rodbertus. Außerdem findet mau bei ihm manchen prak¬ tisch brauchbaren Gedanken und eine vortreffliche Kritik der Tauschwcrttheorie von Smith, Ricardo und Marx, Der Hauptfehler seiner Utopie liegt, wie gewöhnlich bei Utopien, auf der pshcholvgischcn Seite, Mit Adam Smith erwartet er, daß bei wirklicher Befreiung des Individuums von allen gesetzlichen und sonstigen Fesseln die vielbcklagte Anarchie der Produktion von selbst der schönsten Ordnung weichen werde, indem sich jeder stets beeilen werde, gerade die Dinge und nur diese zu erzeugen, die im Augenblick am nötigsten gebraucht werden; denn welche am nötigsten seien, das zeige jederzeit die Preissteigerung an, und zu einem andern Zwecke, als um möglichst hohen Gewinn herauszuschlagen, vroduzire doch niemand, Hertzka irrt, wenn er meint, jedermann sei stets bereit, seine Berufsarbeit hinzu- werfen und dorthin zu rennen, wo ein paar Thaler Mehrgewinn winken, Nicht bloß bei geistigen Arbeiten, wie er selbst zugiebt, sondern auch beim Handwerk, namentlich aber bei Ackerbau und Viehzucht, ja sogar bei verschiednen Arten per^ söulicher Dienstleistung entwickelt sich eine starke Anhänglichkeit an den Beruf und an die Verhältnisse, die sich bei Ausübung der Berufsarbeit gebildet haben, an die Einrichtungen, die sich der Arbeitende dabei geschaffen hat, an die Menschen, mit deuen ihn seine Berufsarbeit verbindet, Und abgesehen von den edlern Empfin¬ dungen des Gemütes, aus denen solche Anhänglichkeiten erwachsen, ist doch die Macht der Trägheit nicht zu unterschätzen; Leute von solcher Elastizität, daß sie sich mit Leichtigkeit in jede beliebige Beschäftigung hineinfinden, Leute, die heute Roggen, morgen Hammel, übermorgen ebensogern Damenhüie oder Schuhwichse, zuletzt mit gleich großem Vergnügen Romane, Schnaps oder Leitartikel „Produziren", gehören in unserm „schwerfälligen" deutschen Volke zu deu Seltenheiten, und wir rechucns ihm zur Ehre an. Endlich verlangt doch mich jede Berufsarbeit eine wenigstens kurze Lehrzeit, Hertzka sieht die Arbeit uicht mit deutschen, sondern mit amerikanisch-semitischen Angen an. Für rin Redaktion verantwortlich- Johannes Gruuow in Leipzig Verlag von Fr. Will). Grunow in Leipzig — Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/56
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/56>, abgerufen am 23.07.2024.