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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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keit und Freundlichst, die die gebildeter" Arbeiter auf dem Kontinent zu
erwarten haben, behandelt werden, so verlieren sie vollständig ihr Gleich¬
gewicht; sie begreifen ihre Stellung nicht, werde" ganz unlenksam und un¬
brauchbar." Mill, der das mitteilt (a, a, O. I S. 116 ff.), fügt hinzu:
"Hiervon kann man sich in England selbst überzeugen. Sobald einem
gewöhnlichen englischen Arbeiter eine Idee von Gleichheit in den Sinn kommt,
verdreht sie ihm den Kopf; sobald er aufhört unterthänig zu sein, wird er
unverschämt."

Wir sehen, daß alle diese Unterschiede weit mehr von andern Ursachen
als von den Konfessionen herrühren. Auch mit der Jesuitenmoral ist nicht
viel anzufangen. Es ist sehr komisch, wenn man hört, wie sich Philister und
Lebemänner, mit deren Moral verglichen die von Gurh als übermäßig rigoros
erscheint, über die unsittlichen Grundsätze der Jesuiten ereifern. Wenn sich
nur alle Bankiers, Kassenbecnnten und liebebedürftigen Männer genan nach
der Jcsnitenmvral richten wollten, dann könnte" die Besitzer von Effekten,
Gattinnen und Töchtern ruhig schlafen! Wenn man der Jesuitenmoral einen
Vorwurf machen kann, so ist es nicht der, daß sie eine absonderliche, sondern
daß sie die Allerweltsmoral ist und wie eines eigentümlichen Gepräges und
eigner Gesichtspunkte, so auch des höhern Schwunges entbehrt. Auf solche
Geschichten, wie sie Pascal geißelt, ist kein großes Gewicht zu legen; bei der
kasuistischen Behandlung der Moral kommt immer ungereimtes und anstößiges
heraus. Nicht in einzelnen laxe" Sätzen liegt das bedenkliche -- sehr große
Männer sind noch laxer gewesen --, sonder" in der Kasuistik an sich, in der
Anleitung zum Berechnen und Abwälzen der Schuld. Diese Methode, nicht
die Meinungsverschiedenheit darüber, was als erlaubt oder unerlaubt gelten
soll, macht, wie schon bemerkt wurde, die Jesuiten dein Deutschen mit Recht
unsympathisch. Noch zwei andre Gründe, die nur mittelbar ins Gebiet der
Moral eingreifen, würden jeden deutsche" Patrioten zu entschiednen Protest
verpflichten, wenn irgendwo die Absicht vorläge, einen größern Teil der
deutschen Jugend den Jesuiten zur Erziehung anzuvertrauen: ihr engherzig
dogmatischer Standpunkt, der es ihnen unmöglich "nicht, ohne Preisgebung
des eignen Glaubens den Überzeugungen andrer gerecht zu werden und dem¬
nach zu Fanatismus führt, und die entnervende Pflege des Gehorsams als
der höchsten Tugend; ist doch der Gehorsam mehr em notwendiges Übel als
eine Tugend.

Vor fünfzig Jahren kam es noch vor, da>z ein Pommer nur mit Balgen
nach Oberschlesien, ein Oberschlesier nicht ohne große Sorge um sein Seelen¬
heil nach Pommern wanderte, weil beide in dem Lande der andern Konfession
unter Wesen andrer Gattung, wo nicht unter lauter Teufel zu geraten fürchteten.
Bei dem heutigen Weltverkehr kann es niemand mehr verborgen bleiben,
daß es überall gute, gewöhnliche und schlechte Mensche" giebt, und daß die


keit und Freundlichst, die die gebildeter« Arbeiter auf dem Kontinent zu
erwarten haben, behandelt werden, so verlieren sie vollständig ihr Gleich¬
gewicht; sie begreifen ihre Stellung nicht, werde» ganz unlenksam und un¬
brauchbar." Mill, der das mitteilt (a, a, O. I S. 116 ff.), fügt hinzu:
„Hiervon kann man sich in England selbst überzeugen. Sobald einem
gewöhnlichen englischen Arbeiter eine Idee von Gleichheit in den Sinn kommt,
verdreht sie ihm den Kopf; sobald er aufhört unterthänig zu sein, wird er
unverschämt."

Wir sehen, daß alle diese Unterschiede weit mehr von andern Ursachen
als von den Konfessionen herrühren. Auch mit der Jesuitenmoral ist nicht
viel anzufangen. Es ist sehr komisch, wenn man hört, wie sich Philister und
Lebemänner, mit deren Moral verglichen die von Gurh als übermäßig rigoros
erscheint, über die unsittlichen Grundsätze der Jesuiten ereifern. Wenn sich
nur alle Bankiers, Kassenbecnnten und liebebedürftigen Männer genan nach
der Jcsnitenmvral richten wollten, dann könnte» die Besitzer von Effekten,
Gattinnen und Töchtern ruhig schlafen! Wenn man der Jesuitenmoral einen
Vorwurf machen kann, so ist es nicht der, daß sie eine absonderliche, sondern
daß sie die Allerweltsmoral ist und wie eines eigentümlichen Gepräges und
eigner Gesichtspunkte, so auch des höhern Schwunges entbehrt. Auf solche
Geschichten, wie sie Pascal geißelt, ist kein großes Gewicht zu legen; bei der
kasuistischen Behandlung der Moral kommt immer ungereimtes und anstößiges
heraus. Nicht in einzelnen laxe» Sätzen liegt das bedenkliche — sehr große
Männer sind noch laxer gewesen —, sonder» in der Kasuistik an sich, in der
Anleitung zum Berechnen und Abwälzen der Schuld. Diese Methode, nicht
die Meinungsverschiedenheit darüber, was als erlaubt oder unerlaubt gelten
soll, macht, wie schon bemerkt wurde, die Jesuiten dein Deutschen mit Recht
unsympathisch. Noch zwei andre Gründe, die nur mittelbar ins Gebiet der
Moral eingreifen, würden jeden deutsche» Patrioten zu entschiednen Protest
verpflichten, wenn irgendwo die Absicht vorläge, einen größern Teil der
deutschen Jugend den Jesuiten zur Erziehung anzuvertrauen: ihr engherzig
dogmatischer Standpunkt, der es ihnen unmöglich »nicht, ohne Preisgebung
des eignen Glaubens den Überzeugungen andrer gerecht zu werden und dem¬
nach zu Fanatismus führt, und die entnervende Pflege des Gehorsams als
der höchsten Tugend; ist doch der Gehorsam mehr em notwendiges Übel als
eine Tugend.

Vor fünfzig Jahren kam es noch vor, da>z ein Pommer nur mit Balgen
nach Oberschlesien, ein Oberschlesier nicht ohne große Sorge um sein Seelen¬
heil nach Pommern wanderte, weil beide in dem Lande der andern Konfession
unter Wesen andrer Gattung, wo nicht unter lauter Teufel zu geraten fürchteten.
Bei dem heutigen Weltverkehr kann es niemand mehr verborgen bleiben,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/540>, abgerufen am 23.07.2024.