Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche schied zwischen ihr und den evangelischen Kirche" nicht grundsätzlicher Art, Es ist sonderbar, daß ma" die kautische Pflichtenmvral als die auto"ome Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche schied zwischen ihr und den evangelischen Kirche» nicht grundsätzlicher Art, Es ist sonderbar, daß ma» die kautische Pflichtenmvral als die auto»ome <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0536" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211704"/> <fw type="header" place="top"> Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1568" prev="#ID_1567"> schied zwischen ihr und den evangelischen Kirche» nicht grundsätzlicher Art,<lb/> sondern betrifft nur den Umfang. Das protestantische Prinzip allerdings<lb/> würde hier völlige Freiheit fordern, die lutherischen, reformirten und unirten<lb/> Kirchen dagegen haben stets Dogmenzwang und Kirchenzucht geübt, nur das;<lb/> sie weniger Dogmen und Kirchengesetze haben als die beiden katholischen Kirchen.<lb/> Daß aus der Verpflichtung zum sonntäglichen Kirchenbesuch, aus dem Fasten-<lb/> gebot und der Beobachtung der geschloßnen Zeiten (Advent und Fasten) der<lb/> Sittlichkeit ein sonderlicher Schade» erwachse, dürfte schwer zu beweisen sein,<lb/> Wenn eine katholische Magd, die bei einer protestantische» Herrschaft dient,<lb/> Smmtags um halb fünf Uhr aufsteht, um der Fünfuhrmesse beiwohnen zu<lb/> können, und Freitags das Stückchen Fleisch, das sie bekommt, einem Armen<lb/> giebt, so scheint in einer Zeit, wo der Staat das Gebiet der Sittlichkeit zu<lb/> verschlinge» droht, und wo mancher angesehne Manu keine andre Normen<lb/> des Handelns mehr kennt als das Strafgesetzbuch, das Polizeireglement^und<lb/> den Beifall oder die Mißbilligung der Vorgesetzte», solches Handeln eine» Rest<lb/> sittlicher Autonomie zu rette»; denn vo» der Beobachtung jeuer Gebote hat<lb/> die Magd keinen Orte» sondern höchstens Spott und Schelte zu erwarten,<lb/> im beste» Falle bleibt ihr Thun unbeachtet, und kehrte sie sich nicht an die<lb/> Kirchengebote, so würde ihr die Übertretung nicht den geringste» Nachteil zu¬<lb/> ziehe». ^</p><lb/> <p xml:id="ID_1569" next="#ID_1570"> Es ist sonderbar, daß ma» die kautische Pflichtenmvral als die auto»ome<lb/> hat preise» können. Schiller hat bei aller Begeisterung für Kant doch sofort<lb/> eingesehn, daß es »in die Autonomie, »in die Freiheit, und damit um die<lb/> Sittlichkeit selbst geschehe» sein würde, wenn der Mensch radikal böse wäre<lb/> und das Gute immer nur widerstrebend a»s knechtischen Gehorsam gegen den<lb/> kategorischen Imperativ thäte. Auch Herbart hat bemerkt, daß dieses „Du<lb/> sollst" und „Du sollst nicht" edlere Gemüter »ur beleidige. Nach Paulus ist<lb/> es das Los des unerlösteu Menschen, sich dem Gesetz als einem harte» Zucht¬<lb/> meister unwillig und unvollkommen »ach Sklavenart zu fügen, während der<lb/> Erlöste durch de» Geist des Vaters, der ausgegossen ist i» sei» Herz, zum<lb/> Kinde geworden, des Vaters Wille» als seine» eigne» mit Freuden erfüllt,<lb/> und neuere Theologen suche» auch Luthers Rechtfertigungslehre in diesem<lb/> Sinne zu deuten. Wir halten die paulinische Auffassung insofern für richtig,<lb/> als wir glauben, daß der Geist des Christentums, wo er ungefülscht wirken<lb/> darf, die sittliche Empfindung verfeinert und die Zahl der edeln Gemüter ver¬<lb/> mehrt. Solchen Gemüter» ist es natürlich, Wohlwollen zu üben, gerecht zu<lb/> urteilen, keines andern Menschen Rechte zu verkürzen, gegen jedermann wahr¬<lb/> haftig zu sei» und ihre natürliche» Gabe» in nützlicher Thätigkeit zu ver¬<lb/> wenden. Sie fühlen sich an diese Art zu handeln gebunden, und darin be¬<lb/> steht eben ihr Pflichtgefühl. Aber in der Form des kategorische» Imperativs<lb/> tritt es nicht auf. Wenn sie im Immer» eine Stimme zu vernehmen glaube»,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0536]
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche
schied zwischen ihr und den evangelischen Kirche» nicht grundsätzlicher Art,
sondern betrifft nur den Umfang. Das protestantische Prinzip allerdings
würde hier völlige Freiheit fordern, die lutherischen, reformirten und unirten
Kirchen dagegen haben stets Dogmenzwang und Kirchenzucht geübt, nur das;
sie weniger Dogmen und Kirchengesetze haben als die beiden katholischen Kirchen.
Daß aus der Verpflichtung zum sonntäglichen Kirchenbesuch, aus dem Fasten-
gebot und der Beobachtung der geschloßnen Zeiten (Advent und Fasten) der
Sittlichkeit ein sonderlicher Schade» erwachse, dürfte schwer zu beweisen sein,
Wenn eine katholische Magd, die bei einer protestantische» Herrschaft dient,
Smmtags um halb fünf Uhr aufsteht, um der Fünfuhrmesse beiwohnen zu
können, und Freitags das Stückchen Fleisch, das sie bekommt, einem Armen
giebt, so scheint in einer Zeit, wo der Staat das Gebiet der Sittlichkeit zu
verschlinge» droht, und wo mancher angesehne Manu keine andre Normen
des Handelns mehr kennt als das Strafgesetzbuch, das Polizeireglement^und
den Beifall oder die Mißbilligung der Vorgesetzte», solches Handeln eine» Rest
sittlicher Autonomie zu rette»; denn vo» der Beobachtung jeuer Gebote hat
die Magd keinen Orte» sondern höchstens Spott und Schelte zu erwarten,
im beste» Falle bleibt ihr Thun unbeachtet, und kehrte sie sich nicht an die
Kirchengebote, so würde ihr die Übertretung nicht den geringste» Nachteil zu¬
ziehe». ^
Es ist sonderbar, daß ma» die kautische Pflichtenmvral als die auto»ome
hat preise» können. Schiller hat bei aller Begeisterung für Kant doch sofort
eingesehn, daß es »in die Autonomie, »in die Freiheit, und damit um die
Sittlichkeit selbst geschehe» sein würde, wenn der Mensch radikal böse wäre
und das Gute immer nur widerstrebend a»s knechtischen Gehorsam gegen den
kategorischen Imperativ thäte. Auch Herbart hat bemerkt, daß dieses „Du
sollst" und „Du sollst nicht" edlere Gemüter »ur beleidige. Nach Paulus ist
es das Los des unerlösteu Menschen, sich dem Gesetz als einem harte» Zucht¬
meister unwillig und unvollkommen »ach Sklavenart zu fügen, während der
Erlöste durch de» Geist des Vaters, der ausgegossen ist i» sei» Herz, zum
Kinde geworden, des Vaters Wille» als seine» eigne» mit Freuden erfüllt,
und neuere Theologen suche» auch Luthers Rechtfertigungslehre in diesem
Sinne zu deuten. Wir halten die paulinische Auffassung insofern für richtig,
als wir glauben, daß der Geist des Christentums, wo er ungefülscht wirken
darf, die sittliche Empfindung verfeinert und die Zahl der edeln Gemüter ver¬
mehrt. Solchen Gemüter» ist es natürlich, Wohlwollen zu üben, gerecht zu
urteilen, keines andern Menschen Rechte zu verkürzen, gegen jedermann wahr¬
haftig zu sei» und ihre natürliche» Gabe» in nützlicher Thätigkeit zu ver¬
wenden. Sie fühlen sich an diese Art zu handeln gebunden, und darin be¬
steht eben ihr Pflichtgefühl. Aber in der Form des kategorische» Imperativs
tritt es nicht auf. Wenn sie im Immer» eine Stimme zu vernehmen glaube»,
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