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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

Amiet Liebe, Abscheu vor der Sünde, Sinnesänderung. Aber in welchem
Abschnitt ihrer mehr als achtzehnhuudertjährigeu Dauer hätten diese drei Dinge,
die im Leben ja leider nur allzuoft vermißt werden, in den amtlichen Kund¬
gebungen der Kirche gefehlt? Man findet sie in jedem katholischen Katechismus.
Anselm von Canterbury, der gewöhnlich als der erste Scholastiker bezeichnet
wird, behauptete, wenn ein Mensch vor die Wahl gestellt würde, ob er die
mit dein Untergange bedrohte Welt durch eine ,.läßliche" Sünde, z. B. eine
Notlüge retten wolle oder nicht, so müsse er lieber die Welt untergehn küssen,
als daß er Gottes Heiligkeit mit klarem Bewußtsein durch eine Sünde be¬
leidigte. Ist eine tiefere Würdigung der Sünde und ein größerer Abscheu
vor ihr denkbar, lind giebt es uuter hundert Protestanten einen, der den guten
Anselm nicht für verrückt erklären wird?

In einer hochausehulicheu evangelischen Versammlung wurde ans die Be¬
merkung, daß die Zahl der barmherzigen Schwestern größer sei als die der
Diakonissen, geantwortet, es fänden sich eben leichter Leute, die das Gute
um der zukünftigen Hünmelsfreude willen, als solche, die es thun, weil sie
das Reich Gottes in sich tragen. Auch das ist richtig. Aber null man alle
guten Werke verpönen, an denen die Selbstsucht in ihren mancherlei gröbern
und feinern Formen ihren Teil hat, dann mag die evangelische Kirche nur
gleich erklären, daß sie mit all den sozialen und Wvhlthätigkeitsbestrebnngen,
die, in die Öffentlichkeit treten, nichts zu schaffen habe. Auch ist es ein Irrtum,
daß in der katholischen Kirche das Ma ganz und gar durch das ut verdrängt
worden sei. In jedem Katechismus tan" man lesen, daß, wer Gott um seiner
selbst Wille" liebt, sich auf einer Höhen, Stufe des sittlichen Lebens befinde,
als wer ihm nur mit Rücksicht auf die jenseitige Vergeltung dient, und daß
eine knechtische Furcht vor der ganz sinnlich aufgefaßten Höllenpein gar nicht
als sittliches Motiv gelte, daher zur Rechtfertigung des Sünders nicht genüge.
In den Lehrbüchern der Askese und Mystik wird dieser Punkt ausführlich
besprochen und durch allerlei Beispiele und Geschichtleiu erläutert, von denen
wir eines anführen wollen. In Alerandria lief einmal eine Frau mit
verzückten Antlitz auf dem Markte herum, die in der einen Hand eine brennende
Fackel, in der ander" einen Eimer voll Wasser trug. Als man "ach dem
Sinn ihres wunderlichen Gebahrens fragte, rief sie: "Mit dieser Fackel möchte
ich den Himmel in Brand stecken und mit diesem Wasser das Höllenfeuer aus¬
löschen, damit Gott in Zukunft nicht mehr aus Verlangen nach der Seligkeit
und aus Furcht vor der Hölle, sondern um seiner eigne" Schönheit willen
geliebt werde." Viele barmherzige Brüder und Schwester" wähle" gewiß ihren
Beruf ohne alle Spekulation auf das Jenseits, lediglich von ihrem barmherzigen
Gemüte getrieben.

Damit fällt auch die Behauptung, daß die Autonomie der Moral etwas
eigentümlich protestantisches sei. Dante, der sich von Virci.it iber mersch-


Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche

Amiet Liebe, Abscheu vor der Sünde, Sinnesänderung. Aber in welchem
Abschnitt ihrer mehr als achtzehnhuudertjährigeu Dauer hätten diese drei Dinge,
die im Leben ja leider nur allzuoft vermißt werden, in den amtlichen Kund¬
gebungen der Kirche gefehlt? Man findet sie in jedem katholischen Katechismus.
Anselm von Canterbury, der gewöhnlich als der erste Scholastiker bezeichnet
wird, behauptete, wenn ein Mensch vor die Wahl gestellt würde, ob er die
mit dein Untergange bedrohte Welt durch eine ,.läßliche" Sünde, z. B. eine
Notlüge retten wolle oder nicht, so müsse er lieber die Welt untergehn küssen,
als daß er Gottes Heiligkeit mit klarem Bewußtsein durch eine Sünde be¬
leidigte. Ist eine tiefere Würdigung der Sünde und ein größerer Abscheu
vor ihr denkbar, lind giebt es uuter hundert Protestanten einen, der den guten
Anselm nicht für verrückt erklären wird?

In einer hochausehulicheu evangelischen Versammlung wurde ans die Be¬
merkung, daß die Zahl der barmherzigen Schwestern größer sei als die der
Diakonissen, geantwortet, es fänden sich eben leichter Leute, die das Gute
um der zukünftigen Hünmelsfreude willen, als solche, die es thun, weil sie
das Reich Gottes in sich tragen. Auch das ist richtig. Aber null man alle
guten Werke verpönen, an denen die Selbstsucht in ihren mancherlei gröbern
und feinern Formen ihren Teil hat, dann mag die evangelische Kirche nur
gleich erklären, daß sie mit all den sozialen und Wvhlthätigkeitsbestrebnngen,
die, in die Öffentlichkeit treten, nichts zu schaffen habe. Auch ist es ein Irrtum,
daß in der katholischen Kirche das Ma ganz und gar durch das ut verdrängt
worden sei. In jedem Katechismus tan» man lesen, daß, wer Gott um seiner
selbst Wille» liebt, sich auf einer Höhen, Stufe des sittlichen Lebens befinde,
als wer ihm nur mit Rücksicht auf die jenseitige Vergeltung dient, und daß
eine knechtische Furcht vor der ganz sinnlich aufgefaßten Höllenpein gar nicht
als sittliches Motiv gelte, daher zur Rechtfertigung des Sünders nicht genüge.
In den Lehrbüchern der Askese und Mystik wird dieser Punkt ausführlich
besprochen und durch allerlei Beispiele und Geschichtleiu erläutert, von denen
wir eines anführen wollen. In Alerandria lief einmal eine Frau mit
verzückten Antlitz auf dem Markte herum, die in der einen Hand eine brennende
Fackel, in der ander» einen Eimer voll Wasser trug. Als man »ach dem
Sinn ihres wunderlichen Gebahrens fragte, rief sie: „Mit dieser Fackel möchte
ich den Himmel in Brand stecken und mit diesem Wasser das Höllenfeuer aus¬
löschen, damit Gott in Zukunft nicht mehr aus Verlangen nach der Seligkeit
und aus Furcht vor der Hölle, sondern um seiner eigne» Schönheit willen
geliebt werde." Viele barmherzige Brüder und Schwester» wähle» gewiß ihren
Beruf ohne alle Spekulation auf das Jenseits, lediglich von ihrem barmherzigen
Gemüte getrieben.

Damit fällt auch die Behauptung, daß die Autonomie der Moral etwas
eigentümlich protestantisches sei. Dante, der sich von Virci.it iber mersch-


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[0533] Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Airche Amiet Liebe, Abscheu vor der Sünde, Sinnesänderung. Aber in welchem Abschnitt ihrer mehr als achtzehnhuudertjährigeu Dauer hätten diese drei Dinge, die im Leben ja leider nur allzuoft vermißt werden, in den amtlichen Kund¬ gebungen der Kirche gefehlt? Man findet sie in jedem katholischen Katechismus. Anselm von Canterbury, der gewöhnlich als der erste Scholastiker bezeichnet wird, behauptete, wenn ein Mensch vor die Wahl gestellt würde, ob er die mit dein Untergange bedrohte Welt durch eine ,.läßliche" Sünde, z. B. eine Notlüge retten wolle oder nicht, so müsse er lieber die Welt untergehn küssen, als daß er Gottes Heiligkeit mit klarem Bewußtsein durch eine Sünde be¬ leidigte. Ist eine tiefere Würdigung der Sünde und ein größerer Abscheu vor ihr denkbar, lind giebt es uuter hundert Protestanten einen, der den guten Anselm nicht für verrückt erklären wird? In einer hochausehulicheu evangelischen Versammlung wurde ans die Be¬ merkung, daß die Zahl der barmherzigen Schwestern größer sei als die der Diakonissen, geantwortet, es fänden sich eben leichter Leute, die das Gute um der zukünftigen Hünmelsfreude willen, als solche, die es thun, weil sie das Reich Gottes in sich tragen. Auch das ist richtig. Aber null man alle guten Werke verpönen, an denen die Selbstsucht in ihren mancherlei gröbern und feinern Formen ihren Teil hat, dann mag die evangelische Kirche nur gleich erklären, daß sie mit all den sozialen und Wvhlthätigkeitsbestrebnngen, die, in die Öffentlichkeit treten, nichts zu schaffen habe. Auch ist es ein Irrtum, daß in der katholischen Kirche das Ma ganz und gar durch das ut verdrängt worden sei. In jedem Katechismus tan» man lesen, daß, wer Gott um seiner selbst Wille» liebt, sich auf einer Höhen, Stufe des sittlichen Lebens befinde, als wer ihm nur mit Rücksicht auf die jenseitige Vergeltung dient, und daß eine knechtische Furcht vor der ganz sinnlich aufgefaßten Höllenpein gar nicht als sittliches Motiv gelte, daher zur Rechtfertigung des Sünders nicht genüge. In den Lehrbüchern der Askese und Mystik wird dieser Punkt ausführlich besprochen und durch allerlei Beispiele und Geschichtleiu erläutert, von denen wir eines anführen wollen. In Alerandria lief einmal eine Frau mit verzückten Antlitz auf dem Markte herum, die in der einen Hand eine brennende Fackel, in der ander» einen Eimer voll Wasser trug. Als man »ach dem Sinn ihres wunderlichen Gebahrens fragte, rief sie: „Mit dieser Fackel möchte ich den Himmel in Brand stecken und mit diesem Wasser das Höllenfeuer aus¬ löschen, damit Gott in Zukunft nicht mehr aus Verlangen nach der Seligkeit und aus Furcht vor der Hölle, sondern um seiner eigne» Schönheit willen geliebt werde." Viele barmherzige Brüder und Schwester» wähle» gewiß ihren Beruf ohne alle Spekulation auf das Jenseits, lediglich von ihrem barmherzigen Gemüte getrieben. Damit fällt auch die Behauptung, daß die Autonomie der Moral etwas eigentümlich protestantisches sei. Dante, der sich von Virci.it iber mersch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/533>, abgerufen am 23.07.2024.