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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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löblich geselligen Freisinn" noch keine Spur einer festen Richtung. Ohne
Zweifel berichtete der erste Brief von der Reise nach Saarbrücken. In beiden
sind uns unschätzbare Zeugnisse von Goethes Leben verloren gegangen. Sicher
ist ein einmaliger Besuch und ununterbrochner brieflicher Verkehr noch vor
Weihnachten anzunehmen, auch wohl schon daß er eigne Lieder den Lieblings¬
melodien Friederikens unterlegte. Als Goethe im Herbst 1779 Sesenheim noch
einmal besuchte, sand er dort, wie er sofort an Frau von Stein berichtete,
Lieder, die er gestiftet hatte; auch ist in Versen an Friederiken aus dem Anfang
des Jahres 1771 von der Freude die Rede, daß er sie seine Lieder habe singe"
hören. Damit stimmt es, wenn es in dem freilich mit großer Freiheit ent-
worfnen Berichte in "Wahrheit und Dichtung" von dem zweiten Besuche heißt,
er habe für Friederiken manche Lieder bekannten Melodien untergelegt. Von
den erhaltnen Gedichten dieser Zeit ist kaum eiues zum Singen nach einer gang¬
baren Melodie bestimmt gewesen. Wenn es in Goethes Bericht über die Sesen-
heimer Liebe erst beim dritten Besuche heißt: "Unter diesen Umgebungen trat
unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder
hervor," so ist die ganze frei entwvrfne Erzählung in ihren Einzelnheiten völlig
unzuverlässig, jn sie wird geradezu durch die erhaltnen Verse widerlegt, die
seinen Weihnachtsbesuch ankündigen.

Die gemütlich tändelnden, an beide Schwestern gerichteten inmbischen Verse:
"Ich komme bald, ihr goldnen Kinder," in der beliebten Neunforn, daß Vers
6 und 9 reimen, die übrigen paarweise, sind nur ein hübsch gereimtes, trotz
des damals nicht anstößigen Reimes "Winter, Kinder" von Goethes Wohllauts¬
gefühl zeugendes Briefchen. Dasselbe gilt von den drei abwechselnd reimenden
vierversigen jambischen Strophen, die er nach einem Ritte bei dunkler Nacht an
die "lieben Kiuder" schrieb, in deren Auftrag er den Ritt gemacht hatte. Daß
diese launigen Verse in den Winter fallen, dafür dürfte anch das Bild vom Küster
sprechen, der Sonntags früh trotz des Dunkels den Weg zur Kirche findet. Biel-
schowskh, der die vorigen Verse, die doch ganz denselben Ton anschlagen, u"ge¬
hütete durchschlüpfen läßt, wird hier dadurch bestimmt, daß sich die unsern auch
in der Handschrift von Lenz erhalten habe", was, wie gezeigt, eben nichts wider
Goethe beweist. Auch gelingt es ihm, "zwei Bedenken gegen deren Goethische Ab¬
kunft" aufzutreiben. Daß Goethe das "langweilige Adverb" ziemlich in einem
kleinen Gedicht zweimal angewendet haben sollte, scheint ihm unglaublich. Er
hätte noch die seltsame Verbindung wahrlich ziemlich hinzufügen können. Aber
wie, wenn auch hierin eine Laune steckte, wenn Goethe damit auf die Gewohnheit
eines Bekannten der Brionschen Familie deutete, etwa des Barbiers, den wir
als einen Freund des Hauses aus Goethes Besuch von 1779 kennen? Manche
Leute haben ein Lieblingswort, das sie überall anbringen, wodurch sie sich dann
lächerlich machen. Noch launiger würde der Spott werden, wenn nicht bloß ziem¬
lich, sondern auch wahrlich diesem Manne, oder sollte es etwa eine Frauens-


löblich geselligen Freisinn" noch keine Spur einer festen Richtung. Ohne
Zweifel berichtete der erste Brief von der Reise nach Saarbrücken. In beiden
sind uns unschätzbare Zeugnisse von Goethes Leben verloren gegangen. Sicher
ist ein einmaliger Besuch und ununterbrochner brieflicher Verkehr noch vor
Weihnachten anzunehmen, auch wohl schon daß er eigne Lieder den Lieblings¬
melodien Friederikens unterlegte. Als Goethe im Herbst 1779 Sesenheim noch
einmal besuchte, sand er dort, wie er sofort an Frau von Stein berichtete,
Lieder, die er gestiftet hatte; auch ist in Versen an Friederiken aus dem Anfang
des Jahres 1771 von der Freude die Rede, daß er sie seine Lieder habe singe»
hören. Damit stimmt es, wenn es in dem freilich mit großer Freiheit ent-
worfnen Berichte in „Wahrheit und Dichtung" von dem zweiten Besuche heißt,
er habe für Friederiken manche Lieder bekannten Melodien untergelegt. Von
den erhaltnen Gedichten dieser Zeit ist kaum eiues zum Singen nach einer gang¬
baren Melodie bestimmt gewesen. Wenn es in Goethes Bericht über die Sesen-
heimer Liebe erst beim dritten Besuche heißt: „Unter diesen Umgebungen trat
unversehens die Lust zu dichten, die ich lange nicht gefühlt hatte, wieder
hervor," so ist die ganze frei entwvrfne Erzählung in ihren Einzelnheiten völlig
unzuverlässig, jn sie wird geradezu durch die erhaltnen Verse widerlegt, die
seinen Weihnachtsbesuch ankündigen.

Die gemütlich tändelnden, an beide Schwestern gerichteten inmbischen Verse:
„Ich komme bald, ihr goldnen Kinder," in der beliebten Neunforn, daß Vers
6 und 9 reimen, die übrigen paarweise, sind nur ein hübsch gereimtes, trotz
des damals nicht anstößigen Reimes „Winter, Kinder" von Goethes Wohllauts¬
gefühl zeugendes Briefchen. Dasselbe gilt von den drei abwechselnd reimenden
vierversigen jambischen Strophen, die er nach einem Ritte bei dunkler Nacht an
die „lieben Kiuder" schrieb, in deren Auftrag er den Ritt gemacht hatte. Daß
diese launigen Verse in den Winter fallen, dafür dürfte anch das Bild vom Küster
sprechen, der Sonntags früh trotz des Dunkels den Weg zur Kirche findet. Biel-
schowskh, der die vorigen Verse, die doch ganz denselben Ton anschlagen, u»ge¬
hütete durchschlüpfen läßt, wird hier dadurch bestimmt, daß sich die unsern auch
in der Handschrift von Lenz erhalten habe», was, wie gezeigt, eben nichts wider
Goethe beweist. Auch gelingt es ihm, „zwei Bedenken gegen deren Goethische Ab¬
kunft" aufzutreiben. Daß Goethe das „langweilige Adverb" ziemlich in einem
kleinen Gedicht zweimal angewendet haben sollte, scheint ihm unglaublich. Er
hätte noch die seltsame Verbindung wahrlich ziemlich hinzufügen können. Aber
wie, wenn auch hierin eine Laune steckte, wenn Goethe damit auf die Gewohnheit
eines Bekannten der Brionschen Familie deutete, etwa des Barbiers, den wir
als einen Freund des Hauses aus Goethes Besuch von 1779 kennen? Manche
Leute haben ein Lieblingswort, das sie überall anbringen, wodurch sie sich dann
lächerlich machen. Noch launiger würde der Spott werden, wenn nicht bloß ziem¬
lich, sondern auch wahrlich diesem Manne, oder sollte es etwa eine Frauens-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/466>, abgerufen am 23.07.2024.