Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Anna bis 1845, schreibt Rogers, habe eine einfache Verfügung zur Vollziehung Bei dieser Gelegenheit wollen wir doch eine Phrase zurückweisen, die uns Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche Anna bis 1845, schreibt Rogers, habe eine einfache Verfügung zur Vollziehung Bei dieser Gelegenheit wollen wir doch eine Phrase zurückweisen, die uns <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0443" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211611"/> <fw type="header" place="top"> Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1319" prev="#ID_1318"> Anna bis 1845, schreibt Rogers, habe eine einfache Verfügung zur Vollziehung<lb/> genügt, seitdem sei ein förmlicher Prozeß vorgeschrieben (also wohl ein Zerrbild<lb/> der preußischen Gemeinheitsteilnngen). Ohne jede gesetzliche Formalität kamen<lb/> die vue,1o8uro8 schon früher vor; um 148!), schreibt Vacv, habe man über die<lb/> entvölkernde Weidewirtschaft und die Usurpation von Gemeindeland zu klagen<lb/> angefangen. Dieser Raub und Diebstahl im großen, nichts andres, keinerlei<lb/> natürliche oder unabwendbare Entwicklung, sondern nur rücksichtslose grausame<lb/> Habgier, die über die Macht verfügte, hat bewirkt, daß in den englischen<lb/> Städten ein vor geistigem und leiblichem Schmutze stinkendes Lumpenproletariat<lb/> wimmelt und das Land mehr und mehr der Verödung anheimfallt (nach der<lb/> letzten Volkszählung betrug die städtische Bevölkerung 20802 770, die ländliche<lb/> 8198 241 Seelen; in letzterer ist auch noch die ländliche Arbeiterschaft ent¬<lb/> halten, die noch unter dem städtischen Proletariat stehen soll), während, wenn<lb/> das Eigentum gegen vornehme Ränder Schutz gefunden hätte, ganz England<lb/> von einer gleichmäßig verteilten, glücklichen, gesunden, kräftigen bäuerlichen Be¬<lb/> völkerung bewohnt sein würde, denn der Engländer liebt leidenschaftlich das<lb/> Land und den Ackerbau. Kein Wunder, daß Smith, mit diesen Zuständen vor<lb/> Augen, nur das Walten der Selbstsucht sah und die sittlichen Mächte für<lb/> nichts achtete! Aber was könnte dieser rohen Selbstsucht gegenüber ein neues<lb/> „Moralprinzip" helfen? Wenn mir die alte christliche Liebe und die Furcht<lb/> vor dem Gott, der geboten hat: du sollst nicht stehlen! wieder zu wirken an¬<lb/> finge — und sie haben, wie es scheint, wieder zu wirken angefangen —, so<lb/> könnte dem englischen Volke vielleicht noch geholfen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1320" next="#ID_1321"> Bei dieser Gelegenheit wollen wir doch eine Phrase zurückweisen, die uns<lb/> schon oft, zuletzt in einer Polemik gegen den Rembrandt-Deutschen, begegnet<lb/> ist. „Daß Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit, heißt es da, gegenwärtig sehr<lb/> viel weiter verbreitet sind als in frühern Zeiten, beweist am schlagendsten das<lb/> überschwängliche Lob, welches Männern wie Aristides oder Fabricius von den<lb/> Alten gespendet wird, nur weil sie weder die öffentlichen Kassen bestasten noch<lb/> sich bestechen ließen. Wer dies heutzutage thut, gilt für einen Schurken, nicht<lb/> aber, wer es unterläßt, für einen bewunderungswerten Tugendhelden." Der<lb/> Verfasser, der übrigens sonst recht hübsche und zutreffende Gedanken ausspricht,<lb/> ist ein Professor, und er muß wohl nicht zu den modernen weitläufigen Pro¬<lb/> fessoren gehören, sondern eines von jenen gelehrten großen Kindern sein, wie<lb/> sie in Romanen und in den Fliegenden Blättern geschildert werden, sonst<lb/> würde er wissen, daß Männer, die nach Bekleidung hoher Staatsämter —<lb/> ohne lüderlich gelebt und an der Börse verspielt zu haben — arm sterben,<lb/> heute erst recht seltne Tugendmuster sind, und würde den Unterschied zwischen<lb/> uns und deu Alten besser kennen. Bei den Alten blieb mancher arm, der<lb/> Gelegenheit hatte, sich zu bereichern, obgleich kein Zuchthaus drohte, und' bei<lb/> uns wird trotz Zuchthaus gestohlen, gestohlen von reichen Leuten, und andre</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0443]
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche
Anna bis 1845, schreibt Rogers, habe eine einfache Verfügung zur Vollziehung
genügt, seitdem sei ein förmlicher Prozeß vorgeschrieben (also wohl ein Zerrbild
der preußischen Gemeinheitsteilnngen). Ohne jede gesetzliche Formalität kamen
die vue,1o8uro8 schon früher vor; um 148!), schreibt Vacv, habe man über die
entvölkernde Weidewirtschaft und die Usurpation von Gemeindeland zu klagen
angefangen. Dieser Raub und Diebstahl im großen, nichts andres, keinerlei
natürliche oder unabwendbare Entwicklung, sondern nur rücksichtslose grausame
Habgier, die über die Macht verfügte, hat bewirkt, daß in den englischen
Städten ein vor geistigem und leiblichem Schmutze stinkendes Lumpenproletariat
wimmelt und das Land mehr und mehr der Verödung anheimfallt (nach der
letzten Volkszählung betrug die städtische Bevölkerung 20802 770, die ländliche
8198 241 Seelen; in letzterer ist auch noch die ländliche Arbeiterschaft ent¬
halten, die noch unter dem städtischen Proletariat stehen soll), während, wenn
das Eigentum gegen vornehme Ränder Schutz gefunden hätte, ganz England
von einer gleichmäßig verteilten, glücklichen, gesunden, kräftigen bäuerlichen Be¬
völkerung bewohnt sein würde, denn der Engländer liebt leidenschaftlich das
Land und den Ackerbau. Kein Wunder, daß Smith, mit diesen Zuständen vor
Augen, nur das Walten der Selbstsucht sah und die sittlichen Mächte für
nichts achtete! Aber was könnte dieser rohen Selbstsucht gegenüber ein neues
„Moralprinzip" helfen? Wenn mir die alte christliche Liebe und die Furcht
vor dem Gott, der geboten hat: du sollst nicht stehlen! wieder zu wirken an¬
finge — und sie haben, wie es scheint, wieder zu wirken angefangen —, so
könnte dem englischen Volke vielleicht noch geholfen werden.
Bei dieser Gelegenheit wollen wir doch eine Phrase zurückweisen, die uns
schon oft, zuletzt in einer Polemik gegen den Rembrandt-Deutschen, begegnet
ist. „Daß Ehrlichkeit und Uneigennützigkeit, heißt es da, gegenwärtig sehr
viel weiter verbreitet sind als in frühern Zeiten, beweist am schlagendsten das
überschwängliche Lob, welches Männern wie Aristides oder Fabricius von den
Alten gespendet wird, nur weil sie weder die öffentlichen Kassen bestasten noch
sich bestechen ließen. Wer dies heutzutage thut, gilt für einen Schurken, nicht
aber, wer es unterläßt, für einen bewunderungswerten Tugendhelden." Der
Verfasser, der übrigens sonst recht hübsche und zutreffende Gedanken ausspricht,
ist ein Professor, und er muß wohl nicht zu den modernen weitläufigen Pro¬
fessoren gehören, sondern eines von jenen gelehrten großen Kindern sein, wie
sie in Romanen und in den Fliegenden Blättern geschildert werden, sonst
würde er wissen, daß Männer, die nach Bekleidung hoher Staatsämter —
ohne lüderlich gelebt und an der Börse verspielt zu haben — arm sterben,
heute erst recht seltne Tugendmuster sind, und würde den Unterschied zwischen
uns und deu Alten besser kennen. Bei den Alten blieb mancher arm, der
Gelegenheit hatte, sich zu bereichern, obgleich kein Zuchthaus drohte, und' bei
uns wird trotz Zuchthaus gestohlen, gestohlen von reichen Leuten, und andre
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