Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche erwacht, nicht fortleben. Das größte nun aber an der christlichen Liebe ist Der einfältige, schlichte Christ hat es von jeher gewußt, daß eine Selbst¬ Grenzboten I 1892 os
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche erwacht, nicht fortleben. Das größte nun aber an der christlichen Liebe ist Der einfältige, schlichte Christ hat es von jeher gewußt, daß eine Selbst¬ Grenzboten I 1892 os
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0441" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/211609"/> <fw type="header" place="top"> Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche</fw><lb/> <p xml:id="ID_1316" prev="#ID_1315"> erwacht, nicht fortleben. Das größte nun aber an der christlichen Liebe ist<lb/> das, daß sie zu ihrem Dasein und ihrer Wirksamkeit weder des hochfliegenden<lb/> Genies, noch der mystischen Anlage bedarf, sondern auch im Werkeltagskleide<lb/> unscheinbarer Pflichterfüllung zu leben vermag. Indem das Evangelium die<lb/> Beobachtung der göttlichen Gebote als das Kennzeichen wahrer Gottesliebe<lb/> aufstellt, verbindet es auch jene kleinen Seelen noch wirksam mit Gott, deren<lb/> Augen zu blöde sind, die Schönheit himmlischer Gestalten wahrzunehmen,<lb/> und deren trocknes Gemüt von Liebesregnngcn nichts spürt. Diese Gebote<lb/> sind nun zwar keine andern, als die bei allen Kulturvölkern die Pflichten der<lb/> Menschen gegen einander geregelt haben, aber erst dadurch, daß sie als Aus¬<lb/> fluß eines heiligen Liebewillens, nicht als Ergebnis einer äußerlichen Not¬<lb/> wendigkeit (willst du selbst leben, so mußt du andre leben lassen!) aufgefaßt<lb/> werden, erhält ihre Beobachtung einen sittlichen Wert. Und indem die<lb/> Nächstenliebe der Gottesliebe unterworfen wird, empfängt ihre Ausübung<lb/> Maß und Ordnung. Die natürliche Liebe bleibt zwar als Wurzel der gött¬<lb/> lichen unentbehrlich, aber für sich allein geht sie doch oft gewaltig in die<lb/> Irre, nicht bloß in der Form der Geschlechtsliebe, sondern auch in der weniger<lb/> sinnlichen Form der Elternliebe. „Wieder einen hineingelegt, und meines<lb/> lieben Mariechens Ansstattnngsschatz um weitre 10 000 Fres. vermehrt!"<lb/> Dieses naive Abendgebet eines Pariser Bourgeois und zärtlichen Familien¬<lb/> vaters charakterisirt die bloß natürliche Liebe der Familienglieder zu einander<lb/> vortrefflich.</p><lb/> <p xml:id="ID_1317" next="#ID_1318"> Der einfältige, schlichte Christ hat es von jeher gewußt, daß eine Selbst¬<lb/> oder Nächstenliebe, die einen andern Nächste» verletzt, dadurch zugleich Gott,<lb/> den Vater aller Menschen beleidigt, und daher sind die zahllosen Versuche<lb/> unsrer Gelehrten, ein neues „altruistisches" oder „soziologisches" oder „evo-<lb/> lutivnistisches Moralprinzip", wie sie das nennen, zu finden, besten Falls voll¬<lb/> kommen überflüssig. Die alten Gebote reichen auch für uns noch aus, möchten<lb/> sie nur gehalten werden! Sie passen ganz gut auch für unsre heutige Kultur¬<lb/> stufe und unsre heutige Erkenntnis, sie passen nur denen nicht, die keine Lust<lb/> haben, sie zu befolgen. Was wird nicht alles über die soziale Not und die<lb/> soziale Frage zusammengeschwatzt! Nun, ein großer Teil der sozialen Not und<lb/> der soziale» Frage wäre gar uicht vorhanden, wenn man das siebente Gebot<lb/> nicht gröblich und im großen verletzt hätte. Erst nachdem Malthus seine<lb/> Theorie aufgestellt hatte, ist die Übervölkerung eine Mitursache des englischen<lb/> Volkselends geworden. Als er schrieb, wäre England bei richtiger Besitzver¬<lb/> teilung und Bewirtschaftung noch so gut imstande gewesen, sein Volk reichlich<lb/> mit allem Nötigen zu versorgen, wie im fünfzehnte» Jahrhundert, wo Forteseue<lb/> in seiner Schrift I^uäibn» löFum ^.ng'ins das Glück seines Volkes pries.<lb/> Nicht ein Naturprozeß ist es gewesen, der die englische Massenarmut erzeugt<lb/> hat, sondern, wie alle Welt wissen würde, wenn die Wissenschaft ihre Pflicht</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1892 os</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0441]
Das Verhältnis der Sittlichkeit zu Christentum, Staat und Kirche
erwacht, nicht fortleben. Das größte nun aber an der christlichen Liebe ist
das, daß sie zu ihrem Dasein und ihrer Wirksamkeit weder des hochfliegenden
Genies, noch der mystischen Anlage bedarf, sondern auch im Werkeltagskleide
unscheinbarer Pflichterfüllung zu leben vermag. Indem das Evangelium die
Beobachtung der göttlichen Gebote als das Kennzeichen wahrer Gottesliebe
aufstellt, verbindet es auch jene kleinen Seelen noch wirksam mit Gott, deren
Augen zu blöde sind, die Schönheit himmlischer Gestalten wahrzunehmen,
und deren trocknes Gemüt von Liebesregnngcn nichts spürt. Diese Gebote
sind nun zwar keine andern, als die bei allen Kulturvölkern die Pflichten der
Menschen gegen einander geregelt haben, aber erst dadurch, daß sie als Aus¬
fluß eines heiligen Liebewillens, nicht als Ergebnis einer äußerlichen Not¬
wendigkeit (willst du selbst leben, so mußt du andre leben lassen!) aufgefaßt
werden, erhält ihre Beobachtung einen sittlichen Wert. Und indem die
Nächstenliebe der Gottesliebe unterworfen wird, empfängt ihre Ausübung
Maß und Ordnung. Die natürliche Liebe bleibt zwar als Wurzel der gött¬
lichen unentbehrlich, aber für sich allein geht sie doch oft gewaltig in die
Irre, nicht bloß in der Form der Geschlechtsliebe, sondern auch in der weniger
sinnlichen Form der Elternliebe. „Wieder einen hineingelegt, und meines
lieben Mariechens Ansstattnngsschatz um weitre 10 000 Fres. vermehrt!"
Dieses naive Abendgebet eines Pariser Bourgeois und zärtlichen Familien¬
vaters charakterisirt die bloß natürliche Liebe der Familienglieder zu einander
vortrefflich.
Der einfältige, schlichte Christ hat es von jeher gewußt, daß eine Selbst¬
oder Nächstenliebe, die einen andern Nächste» verletzt, dadurch zugleich Gott,
den Vater aller Menschen beleidigt, und daher sind die zahllosen Versuche
unsrer Gelehrten, ein neues „altruistisches" oder „soziologisches" oder „evo-
lutivnistisches Moralprinzip", wie sie das nennen, zu finden, besten Falls voll¬
kommen überflüssig. Die alten Gebote reichen auch für uns noch aus, möchten
sie nur gehalten werden! Sie passen ganz gut auch für unsre heutige Kultur¬
stufe und unsre heutige Erkenntnis, sie passen nur denen nicht, die keine Lust
haben, sie zu befolgen. Was wird nicht alles über die soziale Not und die
soziale Frage zusammengeschwatzt! Nun, ein großer Teil der sozialen Not und
der soziale» Frage wäre gar uicht vorhanden, wenn man das siebente Gebot
nicht gröblich und im großen verletzt hätte. Erst nachdem Malthus seine
Theorie aufgestellt hatte, ist die Übervölkerung eine Mitursache des englischen
Volkselends geworden. Als er schrieb, wäre England bei richtiger Besitzver¬
teilung und Bewirtschaftung noch so gut imstande gewesen, sein Volk reichlich
mit allem Nötigen zu versorgen, wie im fünfzehnte» Jahrhundert, wo Forteseue
in seiner Schrift I^uäibn» löFum ^.ng'ins das Glück seines Volkes pries.
Nicht ein Naturprozeß ist es gewesen, der die englische Massenarmut erzeugt
hat, sondern, wie alle Welt wissen würde, wenn die Wissenschaft ihre Pflicht
Grenzboten I 1892 os
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |