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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen

leicht ein Ring herausreißen. Wenn je der Zweck das Mittel heiligte, so wäre
es wohl hier der Fall. Aber Lüge bleibt Lüge, und der gewissenhafte Ver¬
teidiger wird einen solchen Rat nicht geben. Auf der andern Seite stürzt
das Zugeständnis jener Thatsachen die Angeklagten sast in ein sichres Ver¬
derben. So bleibt dem Verteidiger mir der eine Weg offen, daß er seiner
Klientin den Rat giebt, jede Antwort zu verweigern, sich auf die Erklärung
ihrer Unschuld zu beschränken; er wird alsdann an das Gericht die Auffor¬
derung richten, die Beweise, die gegen die unbescholtene Angeklagte vorliegen,
aufs strengste zu prüfen, er wird darauf hinweisen, daß einzelne Ringe in der
Beweiskette brüchig sind. Begeht er durch diesen Hinweis ein Unrecht? Kein
Disziplinargerichtshof wird wagen, deshalb auch nur einen Tadel gegen ihn
auszusprechen, denn er hat sich streng innerhalb der Schranken des Gesetzes,
der formellen Wahrheit gehalten: der Beweis für die entscheidenden That¬
sachen, d. h. für die Thatsachen, die, wenn als erwiesen erachtet, vermutlich
den Ausschlag für die objektiv ungerechte Verurteilung gegeben hätten, war
schwach, wenn auch die Thatsachen wahr waren. Es ist wahr, er hat, indem
er auf die Schwäche dieser Beweise hinwies, die Thatsachen als zweifelhaft
hingestellt, während er ihre Wahrheit kannte; war dies ein Unrecht? Der
Moralist neigt vielleicht zur Bejahung der Frage; der Jurist, eingedenk der
UnVollkommenheit alles irdischen Rechts, erinnert sich des Spruches: "Richtet
nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet," und überläßt die Antwort dem
Gewissen des Verteidigers; dieses wird ihn freisprechen.

Ob in dem Heinzischen Falle der Rat, die Aussage zu verweigern,
gerechtfertigt oder auch nur zu entschuldigen war, d. h. ob die Verteidiger
an die Unschuld ihrer Klienten glaubten und glauben konnten, oder ob in der
Persönlichkeit des Vorsitzenden Richters ein Bestimmungsgrund für ihr Ver¬
halten lag, ist hier nicht zu untersuchen. Wohl aber glauben wir den eingangs
ausgestellten Satz bewiesen zu haben, daß dem Ehrengerichtshos daraus, daß er
eine grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Pflichtwidrigkeit des frag¬
lichen Rats abgelehnt hat, ein Vorwurf nicht zu machen ist. Da in der
Mehrzahl der Fälle die Angeklagten schuldig sind und wiederum in der großen
Mehrzahl dieser Fälle der Verteidiger der Versicherung des Angeklagten, daß
er nicht schuldig sei, zu mißtrauen allen Grund hat, so wird allerdings in
der überwiegenden Zahl der Fälle der Rat eine Pslichtwidrigkeit sein; aber
er ist nicht immer eine solche, und man darf ihn nicht einmal als "an und
für sich verfänglich" bezeichnen, denn in den Fällen, wo der Angeklagte un¬
schuldig ist oder doch der Verteidiger ihn mit Grund für unschuldig hält, ist
er vielleicht nicht klug, aber durchaus statthaft und in diesem Sinne unver¬
fänglich. ..... .' - ^




Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen

leicht ein Ring herausreißen. Wenn je der Zweck das Mittel heiligte, so wäre
es wohl hier der Fall. Aber Lüge bleibt Lüge, und der gewissenhafte Ver¬
teidiger wird einen solchen Rat nicht geben. Auf der andern Seite stürzt
das Zugeständnis jener Thatsachen die Angeklagten sast in ein sichres Ver¬
derben. So bleibt dem Verteidiger mir der eine Weg offen, daß er seiner
Klientin den Rat giebt, jede Antwort zu verweigern, sich auf die Erklärung
ihrer Unschuld zu beschränken; er wird alsdann an das Gericht die Auffor¬
derung richten, die Beweise, die gegen die unbescholtene Angeklagte vorliegen,
aufs strengste zu prüfen, er wird darauf hinweisen, daß einzelne Ringe in der
Beweiskette brüchig sind. Begeht er durch diesen Hinweis ein Unrecht? Kein
Disziplinargerichtshof wird wagen, deshalb auch nur einen Tadel gegen ihn
auszusprechen, denn er hat sich streng innerhalb der Schranken des Gesetzes,
der formellen Wahrheit gehalten: der Beweis für die entscheidenden That¬
sachen, d. h. für die Thatsachen, die, wenn als erwiesen erachtet, vermutlich
den Ausschlag für die objektiv ungerechte Verurteilung gegeben hätten, war
schwach, wenn auch die Thatsachen wahr waren. Es ist wahr, er hat, indem
er auf die Schwäche dieser Beweise hinwies, die Thatsachen als zweifelhaft
hingestellt, während er ihre Wahrheit kannte; war dies ein Unrecht? Der
Moralist neigt vielleicht zur Bejahung der Frage; der Jurist, eingedenk der
UnVollkommenheit alles irdischen Rechts, erinnert sich des Spruches: „Richtet
nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet," und überläßt die Antwort dem
Gewissen des Verteidigers; dieses wird ihn freisprechen.

Ob in dem Heinzischen Falle der Rat, die Aussage zu verweigern,
gerechtfertigt oder auch nur zu entschuldigen war, d. h. ob die Verteidiger
an die Unschuld ihrer Klienten glaubten und glauben konnten, oder ob in der
Persönlichkeit des Vorsitzenden Richters ein Bestimmungsgrund für ihr Ver¬
halten lag, ist hier nicht zu untersuchen. Wohl aber glauben wir den eingangs
ausgestellten Satz bewiesen zu haben, daß dem Ehrengerichtshos daraus, daß er
eine grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Pflichtwidrigkeit des frag¬
lichen Rats abgelehnt hat, ein Vorwurf nicht zu machen ist. Da in der
Mehrzahl der Fälle die Angeklagten schuldig sind und wiederum in der großen
Mehrzahl dieser Fälle der Verteidiger der Versicherung des Angeklagten, daß
er nicht schuldig sei, zu mißtrauen allen Grund hat, so wird allerdings in
der überwiegenden Zahl der Fälle der Rat eine Pslichtwidrigkeit sein; aber
er ist nicht immer eine solche, und man darf ihn nicht einmal als „an und
für sich verfänglich" bezeichnen, denn in den Fällen, wo der Angeklagte un¬
schuldig ist oder doch der Verteidiger ihn mit Grund für unschuldig hält, ist
er vielleicht nicht klug, aber durchaus statthaft und in diesem Sinne unver¬
fänglich. ..... .' - ^




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[0390] Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen leicht ein Ring herausreißen. Wenn je der Zweck das Mittel heiligte, so wäre es wohl hier der Fall. Aber Lüge bleibt Lüge, und der gewissenhafte Ver¬ teidiger wird einen solchen Rat nicht geben. Auf der andern Seite stürzt das Zugeständnis jener Thatsachen die Angeklagten sast in ein sichres Ver¬ derben. So bleibt dem Verteidiger mir der eine Weg offen, daß er seiner Klientin den Rat giebt, jede Antwort zu verweigern, sich auf die Erklärung ihrer Unschuld zu beschränken; er wird alsdann an das Gericht die Auffor¬ derung richten, die Beweise, die gegen die unbescholtene Angeklagte vorliegen, aufs strengste zu prüfen, er wird darauf hinweisen, daß einzelne Ringe in der Beweiskette brüchig sind. Begeht er durch diesen Hinweis ein Unrecht? Kein Disziplinargerichtshof wird wagen, deshalb auch nur einen Tadel gegen ihn auszusprechen, denn er hat sich streng innerhalb der Schranken des Gesetzes, der formellen Wahrheit gehalten: der Beweis für die entscheidenden That¬ sachen, d. h. für die Thatsachen, die, wenn als erwiesen erachtet, vermutlich den Ausschlag für die objektiv ungerechte Verurteilung gegeben hätten, war schwach, wenn auch die Thatsachen wahr waren. Es ist wahr, er hat, indem er auf die Schwäche dieser Beweise hinwies, die Thatsachen als zweifelhaft hingestellt, während er ihre Wahrheit kannte; war dies ein Unrecht? Der Moralist neigt vielleicht zur Bejahung der Frage; der Jurist, eingedenk der UnVollkommenheit alles irdischen Rechts, erinnert sich des Spruches: „Richtet nicht, auf daß Ihr nicht gerichtet werdet," und überläßt die Antwort dem Gewissen des Verteidigers; dieses wird ihn freisprechen. Ob in dem Heinzischen Falle der Rat, die Aussage zu verweigern, gerechtfertigt oder auch nur zu entschuldigen war, d. h. ob die Verteidiger an die Unschuld ihrer Klienten glaubten und glauben konnten, oder ob in der Persönlichkeit des Vorsitzenden Richters ein Bestimmungsgrund für ihr Ver¬ halten lag, ist hier nicht zu untersuchen. Wohl aber glauben wir den eingangs ausgestellten Satz bewiesen zu haben, daß dem Ehrengerichtshos daraus, daß er eine grundsätzliche Antwort auf die Frage nach der Pflichtwidrigkeit des frag¬ lichen Rats abgelehnt hat, ein Vorwurf nicht zu machen ist. Da in der Mehrzahl der Fälle die Angeklagten schuldig sind und wiederum in der großen Mehrzahl dieser Fälle der Verteidiger der Versicherung des Angeklagten, daß er nicht schuldig sei, zu mißtrauen allen Grund hat, so wird allerdings in der überwiegenden Zahl der Fälle der Rat eine Pslichtwidrigkeit sein; aber er ist nicht immer eine solche, und man darf ihn nicht einmal als „an und für sich verfänglich" bezeichnen, denn in den Fällen, wo der Angeklagte un¬ schuldig ist oder doch der Verteidiger ihn mit Grund für unschuldig hält, ist er vielleicht nicht klug, aber durchaus statthaft und in diesem Sinne unver¬ fänglich. ..... .' - ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/390>, abgerufen am 23.07.2024.