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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen

weiterhin auch deren grundsätzliche Verkehrtheit leicht nachweisen, Sie beruht,
kurz gesagt, auf einer Verkennung des Unterschieds zwischen Recht und Moral.
Es ist verkehrt, alles, was das Sittengesetz vom Menschen verlangt, zu einer
-- im Notfall erzwingbaren -- Rechtspflicht zu macheu; es ist aber nicht
minder verkehrt, eine Handlung, die das Staatsgesetz nicht verbietet, deren
Unterlassung zu erzwingen es sich bescheidet, darum als rechtmäßig, als
sittlich erlaubt zu bezeichnen.

Kein Angeklagter darf gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen:
das ist ein Satz, der heutzutage in dem Strafverfahren der europäischen
Kultnrstciaten wohl ausnahmslos gilt. Seine Geltung ist aber noch keine
hundert Jahre alt, erst in unserm Jahrhundert ist die Folter, der eindring¬
lichste Zwang zur Aussage des Angeklagten gegen sich selbst, gänzlich abgeschafft
worden; die Anwendung der Tortur war uur die notwendige Folge davon,
daß der Gesetzgeber die sittliche Pflicht der Wahrhaftigkeit zur Rechtspflicht
machte. In den umgekehrten Fehler find die Urheber der neuen Bestimmung
in § 136 der Strafprozeßordnung verfallen: daraus, daß der Staat darauf
verzichtet, den Angeklagten zum Reden, zur Angabe der Wahrheit, also den
schuldigen Angeklagten zum Geständnis zu zwingen, folgern sie, daß jeder,
auch der schuldige Angeklagte nach Naturrecht, nach dem Sittengesetz befugt
sei, die ihm zur Last gelegte That zu leugnen. Diese Moral der Laster und
Genossen ist aber, so hoffen und glaube" wir, doch nicht die Moral des
deutschen Volks, die Lüge ist noch heute in Deutschland verächtlich, und das
Leugnen einer begangnen That ist von der Lüge nicht dem Wesen, sondern
nur dem Grade nach verschieden.'") Auch den besten Mann kann einmal Not
oder Leidenschaft zu einer Missethat hinreißen; hat er sich aber hinreißen
lassen, dann steht er nicht an, die That durch offnes Geständnis zu
sühnen, und unterwirft sich der gesetzlichen Strafe. Nur der feige oder böse
Bube -- groß oder klein -- verlegt sich aufs Leugnen. Jenen achten wir
trotz seines Verbrechens, diesen verachten wir nicht wegen seiner That, sondern
wegen seiner Lüge. Darum hätte es vollständig genügt, im Gesetz auszu-
sprechen, daß gegen einen Angeklagten keinerlei Zwangsmittel angewendet
werden dürfen, um ihn zum Geständnis zu bringen, und daraus hätte sich
von selbst seine gesetzliche Befugnis ergeben, jede Antwort zu verweigern.
Ein ehrliches gutes Deutsch zu reden haben aber unsre Gesetzgeber längst ver¬
lernt, viel "vornehmer," als jener schlichte Satz es wäre, ist es, wenn man
die Engländer ungeschickt nachäfft und dem Angeklagten eröffnet, daß er nach
dem Gesetze die Wahl habe, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen.



') Leugnen hängt sprachlich und darum auch sachlich enge mit Lügen zusammen, es
bedeutet nicht: in Abrede stellen, daß etwas wahr sei, sondern! das, was wahr ist, in Abrede
stellen.
Grenzboten I 1892 48
Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen

weiterhin auch deren grundsätzliche Verkehrtheit leicht nachweisen, Sie beruht,
kurz gesagt, auf einer Verkennung des Unterschieds zwischen Recht und Moral.
Es ist verkehrt, alles, was das Sittengesetz vom Menschen verlangt, zu einer
— im Notfall erzwingbaren — Rechtspflicht zu macheu; es ist aber nicht
minder verkehrt, eine Handlung, die das Staatsgesetz nicht verbietet, deren
Unterlassung zu erzwingen es sich bescheidet, darum als rechtmäßig, als
sittlich erlaubt zu bezeichnen.

Kein Angeklagter darf gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen:
das ist ein Satz, der heutzutage in dem Strafverfahren der europäischen
Kultnrstciaten wohl ausnahmslos gilt. Seine Geltung ist aber noch keine
hundert Jahre alt, erst in unserm Jahrhundert ist die Folter, der eindring¬
lichste Zwang zur Aussage des Angeklagten gegen sich selbst, gänzlich abgeschafft
worden; die Anwendung der Tortur war uur die notwendige Folge davon,
daß der Gesetzgeber die sittliche Pflicht der Wahrhaftigkeit zur Rechtspflicht
machte. In den umgekehrten Fehler find die Urheber der neuen Bestimmung
in § 136 der Strafprozeßordnung verfallen: daraus, daß der Staat darauf
verzichtet, den Angeklagten zum Reden, zur Angabe der Wahrheit, also den
schuldigen Angeklagten zum Geständnis zu zwingen, folgern sie, daß jeder,
auch der schuldige Angeklagte nach Naturrecht, nach dem Sittengesetz befugt
sei, die ihm zur Last gelegte That zu leugnen. Diese Moral der Laster und
Genossen ist aber, so hoffen und glaube» wir, doch nicht die Moral des
deutschen Volks, die Lüge ist noch heute in Deutschland verächtlich, und das
Leugnen einer begangnen That ist von der Lüge nicht dem Wesen, sondern
nur dem Grade nach verschieden.'") Auch den besten Mann kann einmal Not
oder Leidenschaft zu einer Missethat hinreißen; hat er sich aber hinreißen
lassen, dann steht er nicht an, die That durch offnes Geständnis zu
sühnen, und unterwirft sich der gesetzlichen Strafe. Nur der feige oder böse
Bube — groß oder klein — verlegt sich aufs Leugnen. Jenen achten wir
trotz seines Verbrechens, diesen verachten wir nicht wegen seiner That, sondern
wegen seiner Lüge. Darum hätte es vollständig genügt, im Gesetz auszu-
sprechen, daß gegen einen Angeklagten keinerlei Zwangsmittel angewendet
werden dürfen, um ihn zum Geständnis zu bringen, und daraus hätte sich
von selbst seine gesetzliche Befugnis ergeben, jede Antwort zu verweigern.
Ein ehrliches gutes Deutsch zu reden haben aber unsre Gesetzgeber längst ver¬
lernt, viel „vornehmer," als jener schlichte Satz es wäre, ist es, wenn man
die Engländer ungeschickt nachäfft und dem Angeklagten eröffnet, daß er nach
dem Gesetze die Wahl habe, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen.



') Leugnen hängt sprachlich und darum auch sachlich enge mit Lügen zusammen, es
bedeutet nicht: in Abrede stellen, daß etwas wahr sei, sondern! das, was wahr ist, in Abrede
stellen.
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[0385] Die Pflicht zu reden und das Recht zu schweigen weiterhin auch deren grundsätzliche Verkehrtheit leicht nachweisen, Sie beruht, kurz gesagt, auf einer Verkennung des Unterschieds zwischen Recht und Moral. Es ist verkehrt, alles, was das Sittengesetz vom Menschen verlangt, zu einer — im Notfall erzwingbaren — Rechtspflicht zu macheu; es ist aber nicht minder verkehrt, eine Handlung, die das Staatsgesetz nicht verbietet, deren Unterlassung zu erzwingen es sich bescheidet, darum als rechtmäßig, als sittlich erlaubt zu bezeichnen. Kein Angeklagter darf gezwungen werden, gegen sich selbst auszusagen: das ist ein Satz, der heutzutage in dem Strafverfahren der europäischen Kultnrstciaten wohl ausnahmslos gilt. Seine Geltung ist aber noch keine hundert Jahre alt, erst in unserm Jahrhundert ist die Folter, der eindring¬ lichste Zwang zur Aussage des Angeklagten gegen sich selbst, gänzlich abgeschafft worden; die Anwendung der Tortur war uur die notwendige Folge davon, daß der Gesetzgeber die sittliche Pflicht der Wahrhaftigkeit zur Rechtspflicht machte. In den umgekehrten Fehler find die Urheber der neuen Bestimmung in § 136 der Strafprozeßordnung verfallen: daraus, daß der Staat darauf verzichtet, den Angeklagten zum Reden, zur Angabe der Wahrheit, also den schuldigen Angeklagten zum Geständnis zu zwingen, folgern sie, daß jeder, auch der schuldige Angeklagte nach Naturrecht, nach dem Sittengesetz befugt sei, die ihm zur Last gelegte That zu leugnen. Diese Moral der Laster und Genossen ist aber, so hoffen und glaube» wir, doch nicht die Moral des deutschen Volks, die Lüge ist noch heute in Deutschland verächtlich, und das Leugnen einer begangnen That ist von der Lüge nicht dem Wesen, sondern nur dem Grade nach verschieden.'") Auch den besten Mann kann einmal Not oder Leidenschaft zu einer Missethat hinreißen; hat er sich aber hinreißen lassen, dann steht er nicht an, die That durch offnes Geständnis zu sühnen, und unterwirft sich der gesetzlichen Strafe. Nur der feige oder böse Bube — groß oder klein — verlegt sich aufs Leugnen. Jenen achten wir trotz seines Verbrechens, diesen verachten wir nicht wegen seiner That, sondern wegen seiner Lüge. Darum hätte es vollständig genügt, im Gesetz auszu- sprechen, daß gegen einen Angeklagten keinerlei Zwangsmittel angewendet werden dürfen, um ihn zum Geständnis zu bringen, und daraus hätte sich von selbst seine gesetzliche Befugnis ergeben, jede Antwort zu verweigern. Ein ehrliches gutes Deutsch zu reden haben aber unsre Gesetzgeber längst ver¬ lernt, viel „vornehmer," als jener schlichte Satz es wäre, ist es, wenn man die Engländer ungeschickt nachäfft und dem Angeklagten eröffnet, daß er nach dem Gesetze die Wahl habe, die Wahrheit zu sagen oder zu lügen. ') Leugnen hängt sprachlich und darum auch sachlich enge mit Lügen zusammen, es bedeutet nicht: in Abrede stellen, daß etwas wahr sei, sondern! das, was wahr ist, in Abrede stellen. Grenzboten I 1892 48

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/385>, abgerufen am 23.07.2024.