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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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gründen." Eine grundsätzliche Entscheidung der Frage, ob ein Verteidiger
seinem Schutzbefohlenen den fraglichen Rat erteilen dürfe, ist nicht erfolgt.
Es ist daraus dem Ehrengerichtshof schon ein Vorwurf gemacht worden;
unsers Erachtens mit Unrecht. Eine "grundsätzliche" Antwort auf die Frage,
so wie sie gestellt ist: Macht sich ein Verteidiger einer Pflichtverletzung
schuldig, wenn er den Angeklagten zur Verweigerung der Aussage veranlaßt?
d. h. eine Antwort mit ja oder nein ist nicht möglich; die Frage kann nnr
nach der Lage des einzelnen Falls beantwortet werden, und wenn sie der
Gerichtshof eingehend Hütte erörtern wollen, so hätte dies zu einer Kritik
bestehender gesetzlicher Vorschriften führen müssen. Zu einer solchen hat sich
der Gerichtshof wohl mit Recht nicht für berufen gehalten; da aber eine ein¬
gehende Erörterung der Frage an sich am Platze ist, so wollen wir sie hier,
wo jener Kritik keine Rücksichten entgegenstehen, versuchen.

Nach 8 136 der Strafprozeßordnung ist bei Beginn der ersten Ver¬
nehmung der Beschuldigte oder Angeklagte zu befragen, "ob er etwas ans
die Beschuldigung erwidern wolle." Angesichts dieser Bestimmung könnte
man glauben, die Antwort, und zwar die verneinende Antwort auf die Frage,
ob sich der Verteidiger durch den fraglichen Rat einer Pflichtverletzung
schuldig mache, sei so gut wie selbstverständlich; wenn das Gesetz dem Ange¬
klagten sagt: du hast, auch wenn du schuldig bist, das verbriefte Recht, dem
Richter jede Antwort zu verweigern, wie kann es dann in der Person des
Urwalds ein Unrecht sein, wenn er seinem Klienten den Rat erteilt, von
diesem Rechte Gebrauch zu macheu? Der Rat, so scheint es, ist vielleicht
unklug, aber wegen eines unklugen Rats kaun man doch dein Anwalt keine
Disziplinaruntersuchung an den Hals hängen.

Allein so einfach liegt die Sache doch nicht. Die angeführte Bestimmung
stand nicht von Anfang an in der Prozeßordnung, sie ist erst durch die Be¬
ratung in der Neichstngskommission hineingekommen, und man muß hier, wie
mi so vielen andern Orten, sagen, daß das Gesetz durch den angenommenen
Verbessernngsantrag nicht besser geworden ist. Der Antrag bezweckte ohne
Zweifel den Schutz des Angeklagte", und dem Antragsteller schwebte eine
Bestimmung des englischen Rechts vor: in England wird an jeden Angeklagten
zuerst die Frage gestellt, ob er sich schuldig bekenne oder nicht; sagt er ja,
so wird er auf sein Bekenntnis hin verurteilt, sagt er nein, so wird zum
Beweisverfahren geschritten, eine Vernehmung des Angeklagten, wie in unserm
Verfahren, findet nicht statt. Man bezeichnet das wohl als "strenge Durchfüh¬
rung des Anklageprinzips." Ob nnn mit der strengen Durchführung selbst eines
an sich guten Prinzips der Gerechtigkeit immer gedient sei, wollen wir dahin¬
gestellt sein lassen; aber zweifellos ist es uns, daß das Altflicker eines einzelnen
englischen Lappens an das deutsche Gewand des Verfahrens eine Verkehrt¬
heit war.


gründen." Eine grundsätzliche Entscheidung der Frage, ob ein Verteidiger
seinem Schutzbefohlenen den fraglichen Rat erteilen dürfe, ist nicht erfolgt.
Es ist daraus dem Ehrengerichtshof schon ein Vorwurf gemacht worden;
unsers Erachtens mit Unrecht. Eine „grundsätzliche" Antwort auf die Frage,
so wie sie gestellt ist: Macht sich ein Verteidiger einer Pflichtverletzung
schuldig, wenn er den Angeklagten zur Verweigerung der Aussage veranlaßt?
d. h. eine Antwort mit ja oder nein ist nicht möglich; die Frage kann nnr
nach der Lage des einzelnen Falls beantwortet werden, und wenn sie der
Gerichtshof eingehend Hütte erörtern wollen, so hätte dies zu einer Kritik
bestehender gesetzlicher Vorschriften führen müssen. Zu einer solchen hat sich
der Gerichtshof wohl mit Recht nicht für berufen gehalten; da aber eine ein¬
gehende Erörterung der Frage an sich am Platze ist, so wollen wir sie hier,
wo jener Kritik keine Rücksichten entgegenstehen, versuchen.

Nach 8 136 der Strafprozeßordnung ist bei Beginn der ersten Ver¬
nehmung der Beschuldigte oder Angeklagte zu befragen, „ob er etwas ans
die Beschuldigung erwidern wolle." Angesichts dieser Bestimmung könnte
man glauben, die Antwort, und zwar die verneinende Antwort auf die Frage,
ob sich der Verteidiger durch den fraglichen Rat einer Pflichtverletzung
schuldig mache, sei so gut wie selbstverständlich; wenn das Gesetz dem Ange¬
klagten sagt: du hast, auch wenn du schuldig bist, das verbriefte Recht, dem
Richter jede Antwort zu verweigern, wie kann es dann in der Person des
Urwalds ein Unrecht sein, wenn er seinem Klienten den Rat erteilt, von
diesem Rechte Gebrauch zu macheu? Der Rat, so scheint es, ist vielleicht
unklug, aber wegen eines unklugen Rats kaun man doch dein Anwalt keine
Disziplinaruntersuchung an den Hals hängen.

Allein so einfach liegt die Sache doch nicht. Die angeführte Bestimmung
stand nicht von Anfang an in der Prozeßordnung, sie ist erst durch die Be¬
ratung in der Neichstngskommission hineingekommen, und man muß hier, wie
mi so vielen andern Orten, sagen, daß das Gesetz durch den angenommenen
Verbessernngsantrag nicht besser geworden ist. Der Antrag bezweckte ohne
Zweifel den Schutz des Angeklagte», und dem Antragsteller schwebte eine
Bestimmung des englischen Rechts vor: in England wird an jeden Angeklagten
zuerst die Frage gestellt, ob er sich schuldig bekenne oder nicht; sagt er ja,
so wird er auf sein Bekenntnis hin verurteilt, sagt er nein, so wird zum
Beweisverfahren geschritten, eine Vernehmung des Angeklagten, wie in unserm
Verfahren, findet nicht statt. Man bezeichnet das wohl als „strenge Durchfüh¬
rung des Anklageprinzips." Ob nnn mit der strengen Durchführung selbst eines
an sich guten Prinzips der Gerechtigkeit immer gedient sei, wollen wir dahin¬
gestellt sein lassen; aber zweifellos ist es uns, daß das Altflicker eines einzelnen
englischen Lappens an das deutsche Gewand des Verfahrens eine Verkehrt¬
heit war.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/383>, abgerufen am 23.07.2024.