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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Prodnktionsformcn nicht ub, sondern zu den nlle" treten neue, und neben
diesen neuen leben selbst die allerältesten fort.

Was die Stellung der sozialistischen Presse zu den Parteien anlangt, so
kommt in ihr keine so schlecht weg wie die deutschfreisinnige; sehr natürlich:
der Haß zwischen Blutsverwandten ist der erbittertste. Eugen Richter namentlich
wird von Mehring, der bekanntlich eine Widerlegung der "Zukunftsbilder"
geschrieben hat, in dem dadurch hervorgerufenen Federkampfe greulich verhauen.
Daß die Sozialdemokratin niemals ein Wort gegen die Juden sagten, wie die
Konservativen immer behaupten, ist doch nicht ganz richtig. In einem Aufsatz
der "Neuen Zeit" über den Antisemitismus heißt es: "Vor allem aber ist es
aufs innigste zu wünschen, daß der Gegensatz zwischen Antisemitismus und
Philosemitismus "bis in den letzten Winkel erleuchtet" werde. So weit dieser
Gegensatz wirklich besteht, besteht er nur auf dem Boden der heutigen Wirt¬
schaftsordnung; über die Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in
Worten als in Thaten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten
nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Thaten als in Worten,
gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Christ oder Heide, dein
Kapitalismus widerstrebt. Der Philosemitismus ist nur in sofern ein Gegensatz
zum Antisemitismus, als der Antisemitismus ein Gegensatz zum Kapitalismus
ist. Der Antisemitismus ist der Kapitalismus -ivvo Mrase, der Philosemitismus
aber der Kapitalismus san8 xdrasv. Jener kokettirt mit den Forderungen der
Arbeiterklasse, wie dieser mit den Forderungen kokettirt, welche die bürgerlichen
Klasse" im aufsteigenden Aste ihrer geschichtlichen Entwicklung vertreten haben.
Aber Herr Stöcker ist keine grellere Satire aus Karl Marx, als Herr Eugen
eine grellere Satire auf Lessing ist."

Die Romane und Novellen in den: unterhaltenden Teile der drei Organe
sind, so weit ich bei flüchtigem Durchblättern sehen konnte, bürgerlich anstän¬
diger Art; die "Volksstimme" brachte sogar um Neujahr die zuerst in den
Grenzboten erschienene gemütliche Geschichte von Ahlgreu: Herr" Tvbiassens
Weihnachtsabend.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Berlin und "die Provinz".

In gewissen Kreisen Berlins scheint man
vergessen (oder nie gewußt?) zu haben, dnß es eine über alles schwere Arbeit ge¬
wesen ist, die deutschen Fürsten und Volker unter einen Hut zu bringen, daß neben
dem Haupthindernis: dein zähen Festhalten der einzelnen Stämme an ihrer eignen
Art und ihrem Selbstbestiminungsrechte, der Anhänglichkeit an ihre Regentenhäuser


Maßgebliches und Unmaßgebliches
Prodnktionsformcn nicht ub, sondern zu den nlle» treten neue, und neben
diesen neuen leben selbst die allerältesten fort.

Was die Stellung der sozialistischen Presse zu den Parteien anlangt, so
kommt in ihr keine so schlecht weg wie die deutschfreisinnige; sehr natürlich:
der Haß zwischen Blutsverwandten ist der erbittertste. Eugen Richter namentlich
wird von Mehring, der bekanntlich eine Widerlegung der „Zukunftsbilder"
geschrieben hat, in dem dadurch hervorgerufenen Federkampfe greulich verhauen.
Daß die Sozialdemokratin niemals ein Wort gegen die Juden sagten, wie die
Konservativen immer behaupten, ist doch nicht ganz richtig. In einem Aufsatz
der „Neuen Zeit" über den Antisemitismus heißt es: „Vor allem aber ist es
aufs innigste zu wünschen, daß der Gegensatz zwischen Antisemitismus und
Philosemitismus »bis in den letzten Winkel erleuchtet« werde. So weit dieser
Gegensatz wirklich besteht, besteht er nur auf dem Boden der heutigen Wirt¬
schaftsordnung; über die Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in
Worten als in Thaten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten
nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Thaten als in Worten,
gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Christ oder Heide, dein
Kapitalismus widerstrebt. Der Philosemitismus ist nur in sofern ein Gegensatz
zum Antisemitismus, als der Antisemitismus ein Gegensatz zum Kapitalismus
ist. Der Antisemitismus ist der Kapitalismus -ivvo Mrase, der Philosemitismus
aber der Kapitalismus san8 xdrasv. Jener kokettirt mit den Forderungen der
Arbeiterklasse, wie dieser mit den Forderungen kokettirt, welche die bürgerlichen
Klasse» im aufsteigenden Aste ihrer geschichtlichen Entwicklung vertreten haben.
Aber Herr Stöcker ist keine grellere Satire aus Karl Marx, als Herr Eugen
eine grellere Satire auf Lessing ist."

Die Romane und Novellen in den: unterhaltenden Teile der drei Organe
sind, so weit ich bei flüchtigem Durchblättern sehen konnte, bürgerlich anstän¬
diger Art; die „Volksstimme" brachte sogar um Neujahr die zuerst in den
Grenzboten erschienene gemütliche Geschichte von Ahlgreu: Herr» Tvbiassens
Weihnachtsabend.




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Berlin und „die Provinz".

In gewissen Kreisen Berlins scheint man
vergessen (oder nie gewußt?) zu haben, dnß es eine über alles schwere Arbeit ge¬
wesen ist, die deutschen Fürsten und Volker unter einen Hut zu bringen, daß neben
dem Haupthindernis: dein zähen Festhalten der einzelnen Stämme an ihrer eignen
Art und ihrem Selbstbestiminungsrechte, der Anhänglichkeit an ihre Regentenhäuser


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[0365] Maßgebliches und Unmaßgebliches Prodnktionsformcn nicht ub, sondern zu den nlle» treten neue, und neben diesen neuen leben selbst die allerältesten fort. Was die Stellung der sozialistischen Presse zu den Parteien anlangt, so kommt in ihr keine so schlecht weg wie die deutschfreisinnige; sehr natürlich: der Haß zwischen Blutsverwandten ist der erbittertste. Eugen Richter namentlich wird von Mehring, der bekanntlich eine Widerlegung der „Zukunftsbilder" geschrieben hat, in dem dadurch hervorgerufenen Federkampfe greulich verhauen. Daß die Sozialdemokratin niemals ein Wort gegen die Juden sagten, wie die Konservativen immer behaupten, ist doch nicht ganz richtig. In einem Aufsatz der „Neuen Zeit" über den Antisemitismus heißt es: „Vor allem aber ist es aufs innigste zu wünschen, daß der Gegensatz zwischen Antisemitismus und Philosemitismus »bis in den letzten Winkel erleuchtet« werde. So weit dieser Gegensatz wirklich besteht, besteht er nur auf dem Boden der heutigen Wirt¬ schaftsordnung; über die Brutalitäten, welche der Antisemitismus, mehr in Worten als in Thaten, gegen die Juden begeht, darf man die Brutalitäten nicht übersehen, welche der Philosemitismus, mehr in Thaten als in Worten, gegen jeden begeht, der, sei er nun Jude oder Türke, Christ oder Heide, dein Kapitalismus widerstrebt. Der Philosemitismus ist nur in sofern ein Gegensatz zum Antisemitismus, als der Antisemitismus ein Gegensatz zum Kapitalismus ist. Der Antisemitismus ist der Kapitalismus -ivvo Mrase, der Philosemitismus aber der Kapitalismus san8 xdrasv. Jener kokettirt mit den Forderungen der Arbeiterklasse, wie dieser mit den Forderungen kokettirt, welche die bürgerlichen Klasse» im aufsteigenden Aste ihrer geschichtlichen Entwicklung vertreten haben. Aber Herr Stöcker ist keine grellere Satire aus Karl Marx, als Herr Eugen eine grellere Satire auf Lessing ist." Die Romane und Novellen in den: unterhaltenden Teile der drei Organe sind, so weit ich bei flüchtigem Durchblättern sehen konnte, bürgerlich anstän¬ diger Art; die „Volksstimme" brachte sogar um Neujahr die zuerst in den Grenzboten erschienene gemütliche Geschichte von Ahlgreu: Herr» Tvbiassens Weihnachtsabend. Maßgebliches und Unmaßgebliches Berlin und „die Provinz". In gewissen Kreisen Berlins scheint man vergessen (oder nie gewußt?) zu haben, dnß es eine über alles schwere Arbeit ge¬ wesen ist, die deutschen Fürsten und Volker unter einen Hut zu bringen, daß neben dem Haupthindernis: dein zähen Festhalten der einzelnen Stämme an ihrer eignen Art und ihrem Selbstbestiminungsrechte, der Anhänglichkeit an ihre Regentenhäuser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/365>, abgerufen am 23.07.2024.