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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Gedankenübertragung nach wissenschaftlicher Methode

raten werden, sind 70 Seiten und 82 Zeichnungen gewidmet. Der unbefangne
Leser findet, daß die Sache nie klappt, obwohl sich das erratende Medium in
schwankenden Andeutungen ergeht, aus denen man alles mögliche herausdeuten
kauu. Es wird aber auch hier wieder fleißig Honig gesogen. In einem Brief-
Umschlag ist ein Quadrat gezeichnet, an dessen Ecken sich kleine Quadrate be¬
finden. Allee sieht statt dessen die Photographie des anwesenden Herrn Heri-
court, mit dem sie sich besonders gern zu beschäftigen scheint -- und merkwürdig,
diese Photographie hat eine ähnliche Umrahmung, wie die gezeichnete Figur.
Ist das nicht ein bewundernswürdiger Erfolg? Ein andermal befindet sich in
dem Umschlag die Zeichnung von drei wagerechten Linien. Allee sagt: "Es ist
ein Kreuz mit andern kleinen Strichen: diese Striche kreuzen sich. Ich sehe
einen großen Strich und kleinere Kreuze und in der Mitte etwas, das ich nicht
beschreiben kann. Striche, die den Kreis durchschneiden. Darunter etwas in
Form eiues Kreuzes. In der Mitte sieht es aus wie eine Rosette, eine Rose
mit Blättern. Der Kreis ist in einen Rahmen eingefaßt. Darunter befindet
sich etwas wie ein Dreieck. Die Kreise schneiden sich. Es sind mehrere Dreiecke
über dem Kreise. Ich sehe ihrer nur drei." Was ist das anders als Gefasel
eiuer zu Hallucinationen geneigten Person! Und doch -- o Wunder -- es
stimmt! Das Papier mit den Strichen war in der Mitte ungenau zusammen¬
gefaltet worden, so daß die zwei Hälften der Striche in derDurchsichtZackenbilde".
Ein andermal befindet sich das Bild einer Tabakspfeife in dem Umschlag; die
Dame zeichnet einige nichts bedeutende Krakel auf das Papier, aber -- die
Richtung stimmt! Ein einzigesmal trifft die Dame die Zeichnung einigermaßen.
Es war eine Sonne auf einem Fuße gezeichnet, vielleicht eine Monstranz; sie
zeichnet einen Kreis mit Strahlen, ohne Fuß. Zweifellos -- ruft Riedel aus --
hat man hier die Wahl zwischen Zufall und Hellsehen, alle andern Hypothesen
sind ausgeschlossen. Ich entscheide mich unbedenklich für den Zufall und glaube,
daß doch vielleicht eine andre Hypothese nicht ausgeschlossen sei. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß die Dame die zum Raten bestimmten zwanzig Zeichnungen
zuvor gesehen hat.

Das nächste Kapitel behandelt Krankheitsdiagnosen. Hierbei werden der
Somnambule Haare des betreffenden Kranken in die Hand gegeben. Warum
das? Knüpfe sich das gesteigerte Erkenntnisvermögen an das Haar? Sieht
man es eurem Haar an, wenn einer das Bein gebrochen hat? Aber wir haben
es ja mit dem Wunderbaren zu thun, mit der "rohen Empirie," jeder Er¬
klärungsversuch wird abgelehnt. Einmal legt ein anwesender Herr aus Ver¬
sehen statt des Haares seine Diagnose in den Umschlag. Die Sache geht aber
auch! Alice merkt den Irrtum nicht, sondern erklärt, der betreffende Kranke sei
gesund, er habe sich dnrch einen Sturz aus dem Wagen am Bein beschädigt.
In Wirklichkeit handelt es sich um Tuberkulose. Doch halt! Der Mann hat
früher einmal einen tuberkulösen Abfceß am linken Bein gehabt --sehr interessant!


Gedankenübertragung nach wissenschaftlicher Methode

raten werden, sind 70 Seiten und 82 Zeichnungen gewidmet. Der unbefangne
Leser findet, daß die Sache nie klappt, obwohl sich das erratende Medium in
schwankenden Andeutungen ergeht, aus denen man alles mögliche herausdeuten
kauu. Es wird aber auch hier wieder fleißig Honig gesogen. In einem Brief-
Umschlag ist ein Quadrat gezeichnet, an dessen Ecken sich kleine Quadrate be¬
finden. Allee sieht statt dessen die Photographie des anwesenden Herrn Heri-
court, mit dem sie sich besonders gern zu beschäftigen scheint — und merkwürdig,
diese Photographie hat eine ähnliche Umrahmung, wie die gezeichnete Figur.
Ist das nicht ein bewundernswürdiger Erfolg? Ein andermal befindet sich in
dem Umschlag die Zeichnung von drei wagerechten Linien. Allee sagt: „Es ist
ein Kreuz mit andern kleinen Strichen: diese Striche kreuzen sich. Ich sehe
einen großen Strich und kleinere Kreuze und in der Mitte etwas, das ich nicht
beschreiben kann. Striche, die den Kreis durchschneiden. Darunter etwas in
Form eiues Kreuzes. In der Mitte sieht es aus wie eine Rosette, eine Rose
mit Blättern. Der Kreis ist in einen Rahmen eingefaßt. Darunter befindet
sich etwas wie ein Dreieck. Die Kreise schneiden sich. Es sind mehrere Dreiecke
über dem Kreise. Ich sehe ihrer nur drei." Was ist das anders als Gefasel
eiuer zu Hallucinationen geneigten Person! Und doch — o Wunder — es
stimmt! Das Papier mit den Strichen war in der Mitte ungenau zusammen¬
gefaltet worden, so daß die zwei Hälften der Striche in derDurchsichtZackenbilde».
Ein andermal befindet sich das Bild einer Tabakspfeife in dem Umschlag; die
Dame zeichnet einige nichts bedeutende Krakel auf das Papier, aber — die
Richtung stimmt! Ein einzigesmal trifft die Dame die Zeichnung einigermaßen.
Es war eine Sonne auf einem Fuße gezeichnet, vielleicht eine Monstranz; sie
zeichnet einen Kreis mit Strahlen, ohne Fuß. Zweifellos — ruft Riedel aus —
hat man hier die Wahl zwischen Zufall und Hellsehen, alle andern Hypothesen
sind ausgeschlossen. Ich entscheide mich unbedenklich für den Zufall und glaube,
daß doch vielleicht eine andre Hypothese nicht ausgeschlossen sei. Es ist nicht
ausgeschlossen, daß die Dame die zum Raten bestimmten zwanzig Zeichnungen
zuvor gesehen hat.

Das nächste Kapitel behandelt Krankheitsdiagnosen. Hierbei werden der
Somnambule Haare des betreffenden Kranken in die Hand gegeben. Warum
das? Knüpfe sich das gesteigerte Erkenntnisvermögen an das Haar? Sieht
man es eurem Haar an, wenn einer das Bein gebrochen hat? Aber wir haben
es ja mit dem Wunderbaren zu thun, mit der „rohen Empirie," jeder Er¬
klärungsversuch wird abgelehnt. Einmal legt ein anwesender Herr aus Ver¬
sehen statt des Haares seine Diagnose in den Umschlag. Die Sache geht aber
auch! Alice merkt den Irrtum nicht, sondern erklärt, der betreffende Kranke sei
gesund, er habe sich dnrch einen Sturz aus dem Wagen am Bein beschädigt.
In Wirklichkeit handelt es sich um Tuberkulose. Doch halt! Der Mann hat
früher einmal einen tuberkulösen Abfceß am linken Bein gehabt —sehr interessant!


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[0036] Gedankenübertragung nach wissenschaftlicher Methode raten werden, sind 70 Seiten und 82 Zeichnungen gewidmet. Der unbefangne Leser findet, daß die Sache nie klappt, obwohl sich das erratende Medium in schwankenden Andeutungen ergeht, aus denen man alles mögliche herausdeuten kauu. Es wird aber auch hier wieder fleißig Honig gesogen. In einem Brief- Umschlag ist ein Quadrat gezeichnet, an dessen Ecken sich kleine Quadrate be¬ finden. Allee sieht statt dessen die Photographie des anwesenden Herrn Heri- court, mit dem sie sich besonders gern zu beschäftigen scheint — und merkwürdig, diese Photographie hat eine ähnliche Umrahmung, wie die gezeichnete Figur. Ist das nicht ein bewundernswürdiger Erfolg? Ein andermal befindet sich in dem Umschlag die Zeichnung von drei wagerechten Linien. Allee sagt: „Es ist ein Kreuz mit andern kleinen Strichen: diese Striche kreuzen sich. Ich sehe einen großen Strich und kleinere Kreuze und in der Mitte etwas, das ich nicht beschreiben kann. Striche, die den Kreis durchschneiden. Darunter etwas in Form eiues Kreuzes. In der Mitte sieht es aus wie eine Rosette, eine Rose mit Blättern. Der Kreis ist in einen Rahmen eingefaßt. Darunter befindet sich etwas wie ein Dreieck. Die Kreise schneiden sich. Es sind mehrere Dreiecke über dem Kreise. Ich sehe ihrer nur drei." Was ist das anders als Gefasel eiuer zu Hallucinationen geneigten Person! Und doch — o Wunder — es stimmt! Das Papier mit den Strichen war in der Mitte ungenau zusammen¬ gefaltet worden, so daß die zwei Hälften der Striche in derDurchsichtZackenbilde». Ein andermal befindet sich das Bild einer Tabakspfeife in dem Umschlag; die Dame zeichnet einige nichts bedeutende Krakel auf das Papier, aber — die Richtung stimmt! Ein einzigesmal trifft die Dame die Zeichnung einigermaßen. Es war eine Sonne auf einem Fuße gezeichnet, vielleicht eine Monstranz; sie zeichnet einen Kreis mit Strahlen, ohne Fuß. Zweifellos — ruft Riedel aus — hat man hier die Wahl zwischen Zufall und Hellsehen, alle andern Hypothesen sind ausgeschlossen. Ich entscheide mich unbedenklich für den Zufall und glaube, daß doch vielleicht eine andre Hypothese nicht ausgeschlossen sei. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Dame die zum Raten bestimmten zwanzig Zeichnungen zuvor gesehen hat. Das nächste Kapitel behandelt Krankheitsdiagnosen. Hierbei werden der Somnambule Haare des betreffenden Kranken in die Hand gegeben. Warum das? Knüpfe sich das gesteigerte Erkenntnisvermögen an das Haar? Sieht man es eurem Haar an, wenn einer das Bein gebrochen hat? Aber wir haben es ja mit dem Wunderbaren zu thun, mit der „rohen Empirie," jeder Er¬ klärungsversuch wird abgelehnt. Einmal legt ein anwesender Herr aus Ver¬ sehen statt des Haares seine Diagnose in den Umschlag. Die Sache geht aber auch! Alice merkt den Irrtum nicht, sondern erklärt, der betreffende Kranke sei gesund, er habe sich dnrch einen Sturz aus dem Wagen am Bein beschädigt. In Wirklichkeit handelt es sich um Tuberkulose. Doch halt! Der Mann hat früher einmal einen tuberkulösen Abfceß am linken Bein gehabt —sehr interessant!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/36>, abgerufen am 23.07.2024.