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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der napoleonischen Kriege

Es ist wahr, Napoleons Zeitalter hat unmittelbar keine neue Wissenschaft,
keine neue Kunst, keine neue Litteratur geschaffen, aber die napoleonischen
Kriege waren für viele Menschen selbst Wissenschaft, Kunst und Poesie. Mau
braucht nur einige von den unzähligen Memoiren zu lesen, die nach jener
Zeit wie Pflanzen nach einem Gewitterregen emporwuchsen, um zu erkennen,
welche geistige Kraft, welche dichterische Phantasie und stolze Begeisterung in
jenem Geschlechte herrschte. In den Memoiren hat sich der ganze Geist des
ersten Kaiserreichs niedergeschlagen, in ihnen liegt thatsächlich die wahre
Litteratur dieser Zeit. Die französischen Memoiren bilden den eigentlichen
Übergang von dem kunstgerechten Epos zum modernen Roman. Die Persön¬
lichkeit des Erzählers tritt in ihnen überall hervor; überall handelt sichs um
eigne Erlebnisse, um scheinbar unwichtige, von der Geschichte kaum gewürdigte
Episoden, um persönliche Eindrücke, Anschauungen und Urteile. Das macht
die Memoiren freilich als Quellen für den Geschichtschreiber verdächtig; den¬
noch wird sie der Forscher dann nicht umgehen, wenn sie von einem Manne
herrühren, der Augenzeuge wichtiger Begebenheiten gewesen ist, der überall
Wahrheit von Dichtung zu trennen versteht und Geist genug besitzt, die
leitenden Ideen und versteckten Absichten bei wichtigen Vorgängen zu erkennen.

Zu solchen Männern gehört der General Marcellin de Marbot,
an de" Napoleon in seinem Testament die Worte richtete: .I'vnAsge 1v c-olonvl
Usrdot s oontinuer s 6orirv xour 1s ävkenso alö 1s Kloirs "los armves trän-
Maises et ü, en vonknnärv les ealomniatour" vt los sxoststs. Dieser Auf-
forderung eingedenk hat Marbot seine Memoiren schon im Jahre 1844
geschrieben; aber erst jetzt haben es seine Nachkommen für gut befunden, sie
zu veröffentlichen (Paris, bei Plon, Nvurrit u. Cie.). Was uns Marbot in
seinen Denkwürdigkeiten bietet, das sind keine großen Kriegsgemäldc oder
pragmatischen Darstellungen der politischen Geschichte, er begnügt sich mit
seinen persönlichen Erlebnissen, mit kleinen Beobachtungen und merkwürdigen
Episoden, die oft ohne rechten Zusammenhang aneinandergereiht werden. Aber
alles trägt so den Stempel der Wahrheit und Überzeugung, alle Geschichtchen
sind mit so viel Kenntnis, Feinheit und Geschmack vorgetragen, daß das Werk
jedem Leser Genuß und Belehrung verschaffen wird.

Marbot machte die napoleonischen Kriege von 1800 bis 1815 in sehr
günstigen Stellungen mit. Er war nach einander Adjutant bei Bernadotte,
Augereau, Murat, Lannes und Massena und wurde von Napoleon wiederholt
zu wichtigen diplomatischen Sendungen benutzt. Sein Bater war während
der Revolution Offizier; und da Marcellin bei ihrem Ausbruch erst sieben
Jahre alt war, so steckte ihn der Bater zur Sicherheit während der stürmischen
Jahre in ein Mädchenpensionat, wo er bis zum zwölften Jahre blieb. Mit
Rührung denkt Marbot an diese" idyllischen Aufenthalt zurück, der von allen
Schrecken der Zeit so wenig berührt wurde und im Grnnde wellig geeignet


Zur Geschichte der napoleonischen Kriege

Es ist wahr, Napoleons Zeitalter hat unmittelbar keine neue Wissenschaft,
keine neue Kunst, keine neue Litteratur geschaffen, aber die napoleonischen
Kriege waren für viele Menschen selbst Wissenschaft, Kunst und Poesie. Mau
braucht nur einige von den unzähligen Memoiren zu lesen, die nach jener
Zeit wie Pflanzen nach einem Gewitterregen emporwuchsen, um zu erkennen,
welche geistige Kraft, welche dichterische Phantasie und stolze Begeisterung in
jenem Geschlechte herrschte. In den Memoiren hat sich der ganze Geist des
ersten Kaiserreichs niedergeschlagen, in ihnen liegt thatsächlich die wahre
Litteratur dieser Zeit. Die französischen Memoiren bilden den eigentlichen
Übergang von dem kunstgerechten Epos zum modernen Roman. Die Persön¬
lichkeit des Erzählers tritt in ihnen überall hervor; überall handelt sichs um
eigne Erlebnisse, um scheinbar unwichtige, von der Geschichte kaum gewürdigte
Episoden, um persönliche Eindrücke, Anschauungen und Urteile. Das macht
die Memoiren freilich als Quellen für den Geschichtschreiber verdächtig; den¬
noch wird sie der Forscher dann nicht umgehen, wenn sie von einem Manne
herrühren, der Augenzeuge wichtiger Begebenheiten gewesen ist, der überall
Wahrheit von Dichtung zu trennen versteht und Geist genug besitzt, die
leitenden Ideen und versteckten Absichten bei wichtigen Vorgängen zu erkennen.

Zu solchen Männern gehört der General Marcellin de Marbot,
an de» Napoleon in seinem Testament die Worte richtete: .I'vnAsge 1v c-olonvl
Usrdot s oontinuer s 6orirv xour 1s ävkenso alö 1s Kloirs «los armves trän-
Maises et ü, en vonknnärv les ealomniatour« vt los sxoststs. Dieser Auf-
forderung eingedenk hat Marbot seine Memoiren schon im Jahre 1844
geschrieben; aber erst jetzt haben es seine Nachkommen für gut befunden, sie
zu veröffentlichen (Paris, bei Plon, Nvurrit u. Cie.). Was uns Marbot in
seinen Denkwürdigkeiten bietet, das sind keine großen Kriegsgemäldc oder
pragmatischen Darstellungen der politischen Geschichte, er begnügt sich mit
seinen persönlichen Erlebnissen, mit kleinen Beobachtungen und merkwürdigen
Episoden, die oft ohne rechten Zusammenhang aneinandergereiht werden. Aber
alles trägt so den Stempel der Wahrheit und Überzeugung, alle Geschichtchen
sind mit so viel Kenntnis, Feinheit und Geschmack vorgetragen, daß das Werk
jedem Leser Genuß und Belehrung verschaffen wird.

Marbot machte die napoleonischen Kriege von 1800 bis 1815 in sehr
günstigen Stellungen mit. Er war nach einander Adjutant bei Bernadotte,
Augereau, Murat, Lannes und Massena und wurde von Napoleon wiederholt
zu wichtigen diplomatischen Sendungen benutzt. Sein Bater war während
der Revolution Offizier; und da Marcellin bei ihrem Ausbruch erst sieben
Jahre alt war, so steckte ihn der Bater zur Sicherheit während der stürmischen
Jahre in ein Mädchenpensionat, wo er bis zum zwölften Jahre blieb. Mit
Rührung denkt Marbot an diese» idyllischen Aufenthalt zurück, der von allen
Schrecken der Zeit so wenig berührt wurde und im Grnnde wellig geeignet


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[0306] Zur Geschichte der napoleonischen Kriege Es ist wahr, Napoleons Zeitalter hat unmittelbar keine neue Wissenschaft, keine neue Kunst, keine neue Litteratur geschaffen, aber die napoleonischen Kriege waren für viele Menschen selbst Wissenschaft, Kunst und Poesie. Mau braucht nur einige von den unzähligen Memoiren zu lesen, die nach jener Zeit wie Pflanzen nach einem Gewitterregen emporwuchsen, um zu erkennen, welche geistige Kraft, welche dichterische Phantasie und stolze Begeisterung in jenem Geschlechte herrschte. In den Memoiren hat sich der ganze Geist des ersten Kaiserreichs niedergeschlagen, in ihnen liegt thatsächlich die wahre Litteratur dieser Zeit. Die französischen Memoiren bilden den eigentlichen Übergang von dem kunstgerechten Epos zum modernen Roman. Die Persön¬ lichkeit des Erzählers tritt in ihnen überall hervor; überall handelt sichs um eigne Erlebnisse, um scheinbar unwichtige, von der Geschichte kaum gewürdigte Episoden, um persönliche Eindrücke, Anschauungen und Urteile. Das macht die Memoiren freilich als Quellen für den Geschichtschreiber verdächtig; den¬ noch wird sie der Forscher dann nicht umgehen, wenn sie von einem Manne herrühren, der Augenzeuge wichtiger Begebenheiten gewesen ist, der überall Wahrheit von Dichtung zu trennen versteht und Geist genug besitzt, die leitenden Ideen und versteckten Absichten bei wichtigen Vorgängen zu erkennen. Zu solchen Männern gehört der General Marcellin de Marbot, an de» Napoleon in seinem Testament die Worte richtete: .I'vnAsge 1v c-olonvl Usrdot s oontinuer s 6orirv xour 1s ävkenso alö 1s Kloirs «los armves trän- Maises et ü, en vonknnärv les ealomniatour« vt los sxoststs. Dieser Auf- forderung eingedenk hat Marbot seine Memoiren schon im Jahre 1844 geschrieben; aber erst jetzt haben es seine Nachkommen für gut befunden, sie zu veröffentlichen (Paris, bei Plon, Nvurrit u. Cie.). Was uns Marbot in seinen Denkwürdigkeiten bietet, das sind keine großen Kriegsgemäldc oder pragmatischen Darstellungen der politischen Geschichte, er begnügt sich mit seinen persönlichen Erlebnissen, mit kleinen Beobachtungen und merkwürdigen Episoden, die oft ohne rechten Zusammenhang aneinandergereiht werden. Aber alles trägt so den Stempel der Wahrheit und Überzeugung, alle Geschichtchen sind mit so viel Kenntnis, Feinheit und Geschmack vorgetragen, daß das Werk jedem Leser Genuß und Belehrung verschaffen wird. Marbot machte die napoleonischen Kriege von 1800 bis 1815 in sehr günstigen Stellungen mit. Er war nach einander Adjutant bei Bernadotte, Augereau, Murat, Lannes und Massena und wurde von Napoleon wiederholt zu wichtigen diplomatischen Sendungen benutzt. Sein Bater war während der Revolution Offizier; und da Marcellin bei ihrem Ausbruch erst sieben Jahre alt war, so steckte ihn der Bater zur Sicherheit während der stürmischen Jahre in ein Mädchenpensionat, wo er bis zum zwölften Jahre blieb. Mit Rührung denkt Marbot an diese» idyllischen Aufenthalt zurück, der von allen Schrecken der Zeit so wenig berührt wurde und im Grnnde wellig geeignet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/306>, abgerufen am 23.07.2024.