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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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beiden modernen Sprachen noch das Latein fügten, um mit der mehr auf die
Vorbereitungen für das praktische Leben gerichteten Bildung der Realschulen
ein humanistisches Element zu verbinden, das ihre Bildung als eine der gym¬
nasialen sich nähernde, ebenfalls allgemeine hinstellen sollte, ohne daß sie
allerdings noch den Anspruch erhoben, ihre Zöglinge zur Universität entlassen
zu dürfen. Das preußische Regulativ vom 1859 bezeichnete sie als Real¬
schulen erster Ordnung im Gegensatze zu den sechsklassigen Realschulen zweiter
Ordnung ohne Latein; anderwärts -- so in Sachsen -- begnügte man sich
noch mit den letztern und schloß sich erst unes der Umwälzung von 1866 den
Preußischen Einrichtungen allmählich an.

Diese entscheidende politische Umgestaltung und die Neugründung des
deutscheu Reiches mußte auch das höhere Bildungswesen mächtig beeinflusse",
äußerlich und innerlich. In äußerer Beziehung blieb zwar das gesamte
Unterrichtslveseu der Reichsgesetzgebung und der Reichskompetenz entzogen,
indem aber das preußische Berechtigungswesen auf ganz Deutschland ausge¬
dehnt wurde, mußten sich die Lehrziele überall einheitlicher gestalten. Wich¬
tiger waren die innern Wandlungen. Auf Grund der übermächtig angewach¬
senen exakten Wissenschaften, deren Methode alle andern Wissenszweige jetzt
ebenso durchdrang, wie in den Tagen der Scholastik die formale Logik, hatte
sich eine neue Weltanschauung ausgebildet. Ihr erschienen die humanistischen
Bildungsmittel als veraltet, die modernen, d. h. die mathematisch-naturwissen¬
schaftlichen, als mindestens ebenbürtig, wenn nicht als höher oder gar als all¬
gemein berechtigt. Zugleich forderte das gehobene Nationalgefühl für die
heimischen Bildungsmittel eine größere Geltung neben den antiken, die plötzlich
von dem ganz neuen, früher kaum jemals aufgestellten Gesichtspunkte des
fremden, ausländischen betrachtet wurden. Und aus all der Gührung heraus
hob sich mit wachsender Bestimmtheit ein neues Vildungsideal. Das bis¬
herige Ideal war der gelehrte, der "studirte" Mann gewesen, der seinem Be¬
rufe lebte und der eben auf der Gelehrtenschule seine Vorbildung empfing; das
moderne Ideal ist nicht mehr der Gelehrte, sondern der gebildete, weltgewandte
Bürger seines Staates und seiner Nation, der allen öffentlichen Angelegen¬
heiten "ut Verständnis zu folgen, unter Umständen thätigen Anteil daran
zu nehmen vermag. Man hat das wohl much so ausgedrückt: das Ideal des
gebildeten Deutschen sei der Reserveoffizier, und ein Körnchen Wahrheit liegt
ja darin.

So ergab sich ein ganz neuer Gesichtspunkt. Wenn sich bis jetzt die
realistische Bildung damit begnügt hatte, selbständige Anstalten zu schaffen,
jo erhoben ihre Vertreter jetzt mit steigendem Nachdruck den Anspruch ans
innerliche und äußerliche Gleichberechtigung der humanistischen und realistischen
Schulen. Und gewiß, war es nicht eine Unbilligkeit, den Zöglingen der
Realschulen, die denselben neunjährigen Kursus zurückgelegt hatten wie die


beiden modernen Sprachen noch das Latein fügten, um mit der mehr auf die
Vorbereitungen für das praktische Leben gerichteten Bildung der Realschulen
ein humanistisches Element zu verbinden, das ihre Bildung als eine der gym¬
nasialen sich nähernde, ebenfalls allgemeine hinstellen sollte, ohne daß sie
allerdings noch den Anspruch erhoben, ihre Zöglinge zur Universität entlassen
zu dürfen. Das preußische Regulativ vom 1859 bezeichnete sie als Real¬
schulen erster Ordnung im Gegensatze zu den sechsklassigen Realschulen zweiter
Ordnung ohne Latein; anderwärts — so in Sachsen — begnügte man sich
noch mit den letztern und schloß sich erst unes der Umwälzung von 1866 den
Preußischen Einrichtungen allmählich an.

Diese entscheidende politische Umgestaltung und die Neugründung des
deutscheu Reiches mußte auch das höhere Bildungswesen mächtig beeinflusse«,
äußerlich und innerlich. In äußerer Beziehung blieb zwar das gesamte
Unterrichtslveseu der Reichsgesetzgebung und der Reichskompetenz entzogen,
indem aber das preußische Berechtigungswesen auf ganz Deutschland ausge¬
dehnt wurde, mußten sich die Lehrziele überall einheitlicher gestalten. Wich¬
tiger waren die innern Wandlungen. Auf Grund der übermächtig angewach¬
senen exakten Wissenschaften, deren Methode alle andern Wissenszweige jetzt
ebenso durchdrang, wie in den Tagen der Scholastik die formale Logik, hatte
sich eine neue Weltanschauung ausgebildet. Ihr erschienen die humanistischen
Bildungsmittel als veraltet, die modernen, d. h. die mathematisch-naturwissen¬
schaftlichen, als mindestens ebenbürtig, wenn nicht als höher oder gar als all¬
gemein berechtigt. Zugleich forderte das gehobene Nationalgefühl für die
heimischen Bildungsmittel eine größere Geltung neben den antiken, die plötzlich
von dem ganz neuen, früher kaum jemals aufgestellten Gesichtspunkte des
fremden, ausländischen betrachtet wurden. Und aus all der Gührung heraus
hob sich mit wachsender Bestimmtheit ein neues Vildungsideal. Das bis¬
herige Ideal war der gelehrte, der „studirte" Mann gewesen, der seinem Be¬
rufe lebte und der eben auf der Gelehrtenschule seine Vorbildung empfing; das
moderne Ideal ist nicht mehr der Gelehrte, sondern der gebildete, weltgewandte
Bürger seines Staates und seiner Nation, der allen öffentlichen Angelegen¬
heiten »ut Verständnis zu folgen, unter Umständen thätigen Anteil daran
zu nehmen vermag. Man hat das wohl much so ausgedrückt: das Ideal des
gebildeten Deutschen sei der Reserveoffizier, und ein Körnchen Wahrheit liegt
ja darin.

So ergab sich ein ganz neuer Gesichtspunkt. Wenn sich bis jetzt die
realistische Bildung damit begnügt hatte, selbständige Anstalten zu schaffen,
jo erhoben ihre Vertreter jetzt mit steigendem Nachdruck den Anspruch ans
innerliche und äußerliche Gleichberechtigung der humanistischen und realistischen
Schulen. Und gewiß, war es nicht eine Unbilligkeit, den Zöglingen der
Realschulen, die denselben neunjährigen Kursus zurückgelegt hatten wie die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/299>, abgerufen am 23.07.2024.