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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

trockne Nützlichkeit obenan. War es ein Wunder, wenn die Unterthanen, und
zumeist die höchstgebildeten, die von jeder selbstthätigen Teilnahme am Staats¬
leben ausgeschlossen waren, diesem Staate durchaus gleichgiltig und verständ¬
nislos gegenüberstanden, ja wenn sie sich von ihm widerwillig abwandten
als von eiuer zwar notwendigen, aber lästigen und geistlosen Zwaugsanstalt?

So erwuchs die neue Bildung nicht eigentlich in diesem neuen Staate,
sondern neben dem neuen Staate, auf dem Boden eines ideale" Weltbürger¬
tums und der griechischen Antike, die eben damals Winckelmann und Lessing
zu neuem Leben erweckte". Sie faßte den Menschen, allerdings im schärfsten
Gegensatze zu der straffen Bürgertugend des Griechentums, die sie unbeachtet
ließ, nicht als Glied eines großen Ganzen, sondern als Einzelwesen, sie sah
demnach ihr höchstes Ziel in der allseitigen harmonischen Ausbildung der
freien Persönlichkeit zur "Humanität." Als der ideale Typus der Menschheit
aber erschien den begeisterten Verkündigern des neuen Ideals, einem Herder,
Goethe, W. v. Humboldt, das griechische Volk; der Deutsche sollte zum Hellenen
werden, um Mensch zu sein.

Dem vereinigten Drängen dieser Mächte wich die alte Lateinschule. Wie
sie im vorhergehenden Jahrhundert besondre Anstalten für die Ausbildung des
Adels neben sich hatte entstehen sehen, so versuchte jetzt der aufstrebende
bürgerliche Mittelstand zunächst in Preußen die seinen praktischen Bedürfnissen
entsprechende Schule zu schaffen, die Realschule (zuerst 1747 in Berlin). Aber
damit nicht genug. Es entsprach nur dem unhistorischen Charakter der "Auf¬
klärung," wenn in dieser Zeit der erste Gedanke an eine radikale Schulreform
auftauchte. Nach Rousseaus Vorbilde wollte Basedow in seinem Philcmthropinum
den, wie er annahm, von Natur guten Menschen im engsten Anschluß an die
"Natur" durch liebevolle Anleitung zum Weltbürger erziehen, und in der That
fand er in weiten Kreisen jenen lauten Beifall, der stets radikale Vorschläge
zu begleiten pflegt. Doch die Flut wich rasch zurück, denn die Gelehrten¬
schulen fanden in sich selber die Kraft, sich zu verjüngen, indem sie das neue
humanistische Ideal aufnahmen, zuerst in Sachsen. Gesner, Ernesti, Heyne,
Boß stellten zuerst das neue Ziel des klassischen Unterrichts fest: Wir lesen
die alten Schriftsteller nicht mehr hauptsächlich, um sie in ihrer eignen Sprache
nachzuahmen, sondern um an ihnen Urteil und Geschmack zu bilden und uns
für ähnliche Hervorbringungen in der eignen Sprache zu befähigen. Sie gaben
deshalb der griechischen Sprache einen etwas breitern Raum und gewährten
auch den Realien eine wenn auch noch immer recht bescheidne Stellung.'")



*) Der Stundenplan eines kursächsischen Gymnasiums sah z. B. 1775 so ans: in I von
31 Stunden 8 Religion, 14 Latein, 3 Griechisch, 2 Hebräisch, 1 Geschichte, 1 Geographie,
I schriftliche vmonäMo (wohl auch Latein); in 11 von 30 Stunden 10 Religion, 14 Latein,
3 Griechisch, 1 Deutsch, 3 schriftliche vmsnäMo; also waren in l Is, fast 30 Prozent, in
II fast 57 Prozent aller Stunden dem Latein gewidmet.
Wandlungen in unserm höhern Schulwesen

trockne Nützlichkeit obenan. War es ein Wunder, wenn die Unterthanen, und
zumeist die höchstgebildeten, die von jeder selbstthätigen Teilnahme am Staats¬
leben ausgeschlossen waren, diesem Staate durchaus gleichgiltig und verständ¬
nislos gegenüberstanden, ja wenn sie sich von ihm widerwillig abwandten
als von eiuer zwar notwendigen, aber lästigen und geistlosen Zwaugsanstalt?

So erwuchs die neue Bildung nicht eigentlich in diesem neuen Staate,
sondern neben dem neuen Staate, auf dem Boden eines ideale» Weltbürger¬
tums und der griechischen Antike, die eben damals Winckelmann und Lessing
zu neuem Leben erweckte». Sie faßte den Menschen, allerdings im schärfsten
Gegensatze zu der straffen Bürgertugend des Griechentums, die sie unbeachtet
ließ, nicht als Glied eines großen Ganzen, sondern als Einzelwesen, sie sah
demnach ihr höchstes Ziel in der allseitigen harmonischen Ausbildung der
freien Persönlichkeit zur „Humanität." Als der ideale Typus der Menschheit
aber erschien den begeisterten Verkündigern des neuen Ideals, einem Herder,
Goethe, W. v. Humboldt, das griechische Volk; der Deutsche sollte zum Hellenen
werden, um Mensch zu sein.

Dem vereinigten Drängen dieser Mächte wich die alte Lateinschule. Wie
sie im vorhergehenden Jahrhundert besondre Anstalten für die Ausbildung des
Adels neben sich hatte entstehen sehen, so versuchte jetzt der aufstrebende
bürgerliche Mittelstand zunächst in Preußen die seinen praktischen Bedürfnissen
entsprechende Schule zu schaffen, die Realschule (zuerst 1747 in Berlin). Aber
damit nicht genug. Es entsprach nur dem unhistorischen Charakter der „Auf¬
klärung," wenn in dieser Zeit der erste Gedanke an eine radikale Schulreform
auftauchte. Nach Rousseaus Vorbilde wollte Basedow in seinem Philcmthropinum
den, wie er annahm, von Natur guten Menschen im engsten Anschluß an die
„Natur" durch liebevolle Anleitung zum Weltbürger erziehen, und in der That
fand er in weiten Kreisen jenen lauten Beifall, der stets radikale Vorschläge
zu begleiten pflegt. Doch die Flut wich rasch zurück, denn die Gelehrten¬
schulen fanden in sich selber die Kraft, sich zu verjüngen, indem sie das neue
humanistische Ideal aufnahmen, zuerst in Sachsen. Gesner, Ernesti, Heyne,
Boß stellten zuerst das neue Ziel des klassischen Unterrichts fest: Wir lesen
die alten Schriftsteller nicht mehr hauptsächlich, um sie in ihrer eignen Sprache
nachzuahmen, sondern um an ihnen Urteil und Geschmack zu bilden und uns
für ähnliche Hervorbringungen in der eignen Sprache zu befähigen. Sie gaben
deshalb der griechischen Sprache einen etwas breitern Raum und gewährten
auch den Realien eine wenn auch noch immer recht bescheidne Stellung.'")



*) Der Stundenplan eines kursächsischen Gymnasiums sah z. B. 1775 so ans: in I von
31 Stunden 8 Religion, 14 Latein, 3 Griechisch, 2 Hebräisch, 1 Geschichte, 1 Geographie,
I schriftliche vmonäMo (wohl auch Latein); in 11 von 30 Stunden 10 Religion, 14 Latein,
3 Griechisch, 1 Deutsch, 3 schriftliche vmsnäMo; also waren in l Is, fast 30 Prozent, in
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[0296] Wandlungen in unserm höhern Schulwesen trockne Nützlichkeit obenan. War es ein Wunder, wenn die Unterthanen, und zumeist die höchstgebildeten, die von jeder selbstthätigen Teilnahme am Staats¬ leben ausgeschlossen waren, diesem Staate durchaus gleichgiltig und verständ¬ nislos gegenüberstanden, ja wenn sie sich von ihm widerwillig abwandten als von eiuer zwar notwendigen, aber lästigen und geistlosen Zwaugsanstalt? So erwuchs die neue Bildung nicht eigentlich in diesem neuen Staate, sondern neben dem neuen Staate, auf dem Boden eines ideale» Weltbürger¬ tums und der griechischen Antike, die eben damals Winckelmann und Lessing zu neuem Leben erweckte». Sie faßte den Menschen, allerdings im schärfsten Gegensatze zu der straffen Bürgertugend des Griechentums, die sie unbeachtet ließ, nicht als Glied eines großen Ganzen, sondern als Einzelwesen, sie sah demnach ihr höchstes Ziel in der allseitigen harmonischen Ausbildung der freien Persönlichkeit zur „Humanität." Als der ideale Typus der Menschheit aber erschien den begeisterten Verkündigern des neuen Ideals, einem Herder, Goethe, W. v. Humboldt, das griechische Volk; der Deutsche sollte zum Hellenen werden, um Mensch zu sein. Dem vereinigten Drängen dieser Mächte wich die alte Lateinschule. Wie sie im vorhergehenden Jahrhundert besondre Anstalten für die Ausbildung des Adels neben sich hatte entstehen sehen, so versuchte jetzt der aufstrebende bürgerliche Mittelstand zunächst in Preußen die seinen praktischen Bedürfnissen entsprechende Schule zu schaffen, die Realschule (zuerst 1747 in Berlin). Aber damit nicht genug. Es entsprach nur dem unhistorischen Charakter der „Auf¬ klärung," wenn in dieser Zeit der erste Gedanke an eine radikale Schulreform auftauchte. Nach Rousseaus Vorbilde wollte Basedow in seinem Philcmthropinum den, wie er annahm, von Natur guten Menschen im engsten Anschluß an die „Natur" durch liebevolle Anleitung zum Weltbürger erziehen, und in der That fand er in weiten Kreisen jenen lauten Beifall, der stets radikale Vorschläge zu begleiten pflegt. Doch die Flut wich rasch zurück, denn die Gelehrten¬ schulen fanden in sich selber die Kraft, sich zu verjüngen, indem sie das neue humanistische Ideal aufnahmen, zuerst in Sachsen. Gesner, Ernesti, Heyne, Boß stellten zuerst das neue Ziel des klassischen Unterrichts fest: Wir lesen die alten Schriftsteller nicht mehr hauptsächlich, um sie in ihrer eignen Sprache nachzuahmen, sondern um an ihnen Urteil und Geschmack zu bilden und uns für ähnliche Hervorbringungen in der eignen Sprache zu befähigen. Sie gaben deshalb der griechischen Sprache einen etwas breitern Raum und gewährten auch den Realien eine wenn auch noch immer recht bescheidne Stellung.'") *) Der Stundenplan eines kursächsischen Gymnasiums sah z. B. 1775 so ans: in I von 31 Stunden 8 Religion, 14 Latein, 3 Griechisch, 2 Hebräisch, 1 Geschichte, 1 Geographie, I schriftliche vmonäMo (wohl auch Latein); in 11 von 30 Stunden 10 Religion, 14 Latein, 3 Griechisch, 1 Deutsch, 3 schriftliche vmsnäMo; also waren in l Is, fast 30 Prozent, in II fast 57 Prozent aller Stunden dem Latein gewidmet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/296>, abgerufen am 23.07.2024.