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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Trennung des Volkes in Gelehrte und Ungelehrte, die diese Bildung
zwar nicht begründete, aber verschärfte, trug mit die Schuld an der schrecklichen
Katastrophe des siebzehnten Jahrhunderts.

Der dreißigjährige Krieg brachte das ganze Leben der Nation zum Still¬
stand und warf sie den Fremden unter die Füße. Aber er vernichtete nicht
ihre zähe Lebenskraft. Der ständische Unterbau des Staates blieb unverändert,
doch über dem verarmten Adel, den herabgekommenen Städten, den mißhandelten
Bauern, über diesem ganzen zertretncn und verschüchterten Geschlecht erhob
sich das Fürstentum vielfach zu höherer Macht; neben die verknöcherte ständische
und städtische Verwaltung stellte es eine streng monarchische und schuf damit
die Grundlagen zur modernen Staatseinheit. In gesteigerter Selbstsucht stehen
sich diese Einzelstaaten gegenüber, doch die Nation erwehrt sich trotzdem der
Franzosen und Osmanen, der Schweden und Polen. Das französische Über¬
gewicht freilich vermag sie erst am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts im
Bunde mit halb Europa zu brechen, und dauerhafter als die Macht des
bourbonischen Königtums erweist sich die der französischen Kultur. Die Bildung
der Höfe und des Adels wird in Deutschland französisch, das Französische
wird die Sprache des diplomatischen Verkehrs und hie und da sogar der
Wissenschaft, in Anlehnung an französische und holländische Muster sucht die
verkümmerte deutsche Dichtung ihr Heil. Damit verbindet sich eine tiefgreifende
Umgestaltung des gesamten geistigen Lebens. Das Naturrecht bricht deu Bann
des überlieferten Rechtes, der Pietismus macht die Religion aus einem Tummel¬
platze dogmatischer Spitzfindigkeiten und erbitterter Polemik wieder zu einer
Sache des Gemütes, zunächst in den westeuropäischen Ländern entfaltet sich
eine neue selbständige Philosophie und Naturwissenschaft, und in den lateinischen
Panzer der Universitätsgelehrsamkeit schlägt ein Leipziger Professor, Christian
Thomasius, die erste Bresche.

Das alles drang unwiderstehlich auf die alte Lateinschule ein. Schon
am Anfange des Jahrhunderts hatten vereinzelte Reformer, wie Radies und
Comenius, die Berücksichtigung der Muttersprache und der Realien und die
lebendige Anschaulichkeit des Unterrichts gefordert, der Pietismus folgte ihnen
und gestaltete praktisch namentlich die Volksschule um. Das Ideal der höhern
Ausbildung war jetzt nicht mehr der Gelehrte, sondern der Weltmann, der
Agllwt, liomiruz, der in den neuern Sprachen ebenso bewandert sein mußte
wie in der Naturwissenschaft und Philosophie und für alles ein offnes Auge
haben sollte. Alle diese Bestrebungen ließen den Kern des Unterrichts der
Lateinschulen, das Latein, noch unberührt, nur einzelne Rektoren betonten be¬
reits, besonders mit Rücksicht auf den Adel, die neuern Sprachen, und der
eine oder andre von ihnen suchte wohl gar dem ganzen Unterricht einen
weltmännisch-praktischen, ja encyklopädischen Charakter zu geben. Wo das nicht


Die Trennung des Volkes in Gelehrte und Ungelehrte, die diese Bildung
zwar nicht begründete, aber verschärfte, trug mit die Schuld an der schrecklichen
Katastrophe des siebzehnten Jahrhunderts.

Der dreißigjährige Krieg brachte das ganze Leben der Nation zum Still¬
stand und warf sie den Fremden unter die Füße. Aber er vernichtete nicht
ihre zähe Lebenskraft. Der ständische Unterbau des Staates blieb unverändert,
doch über dem verarmten Adel, den herabgekommenen Städten, den mißhandelten
Bauern, über diesem ganzen zertretncn und verschüchterten Geschlecht erhob
sich das Fürstentum vielfach zu höherer Macht; neben die verknöcherte ständische
und städtische Verwaltung stellte es eine streng monarchische und schuf damit
die Grundlagen zur modernen Staatseinheit. In gesteigerter Selbstsucht stehen
sich diese Einzelstaaten gegenüber, doch die Nation erwehrt sich trotzdem der
Franzosen und Osmanen, der Schweden und Polen. Das französische Über¬
gewicht freilich vermag sie erst am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts im
Bunde mit halb Europa zu brechen, und dauerhafter als die Macht des
bourbonischen Königtums erweist sich die der französischen Kultur. Die Bildung
der Höfe und des Adels wird in Deutschland französisch, das Französische
wird die Sprache des diplomatischen Verkehrs und hie und da sogar der
Wissenschaft, in Anlehnung an französische und holländische Muster sucht die
verkümmerte deutsche Dichtung ihr Heil. Damit verbindet sich eine tiefgreifende
Umgestaltung des gesamten geistigen Lebens. Das Naturrecht bricht deu Bann
des überlieferten Rechtes, der Pietismus macht die Religion aus einem Tummel¬
platze dogmatischer Spitzfindigkeiten und erbitterter Polemik wieder zu einer
Sache des Gemütes, zunächst in den westeuropäischen Ländern entfaltet sich
eine neue selbständige Philosophie und Naturwissenschaft, und in den lateinischen
Panzer der Universitätsgelehrsamkeit schlägt ein Leipziger Professor, Christian
Thomasius, die erste Bresche.

Das alles drang unwiderstehlich auf die alte Lateinschule ein. Schon
am Anfange des Jahrhunderts hatten vereinzelte Reformer, wie Radies und
Comenius, die Berücksichtigung der Muttersprache und der Realien und die
lebendige Anschaulichkeit des Unterrichts gefordert, der Pietismus folgte ihnen
und gestaltete praktisch namentlich die Volksschule um. Das Ideal der höhern
Ausbildung war jetzt nicht mehr der Gelehrte, sondern der Weltmann, der
Agllwt, liomiruz, der in den neuern Sprachen ebenso bewandert sein mußte
wie in der Naturwissenschaft und Philosophie und für alles ein offnes Auge
haben sollte. Alle diese Bestrebungen ließen den Kern des Unterrichts der
Lateinschulen, das Latein, noch unberührt, nur einzelne Rektoren betonten be¬
reits, besonders mit Rücksicht auf den Adel, die neuern Sprachen, und der
eine oder andre von ihnen suchte wohl gar dem ganzen Unterricht einen
weltmännisch-praktischen, ja encyklopädischen Charakter zu geben. Wo das nicht


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[0294] Die Trennung des Volkes in Gelehrte und Ungelehrte, die diese Bildung zwar nicht begründete, aber verschärfte, trug mit die Schuld an der schrecklichen Katastrophe des siebzehnten Jahrhunderts. Der dreißigjährige Krieg brachte das ganze Leben der Nation zum Still¬ stand und warf sie den Fremden unter die Füße. Aber er vernichtete nicht ihre zähe Lebenskraft. Der ständische Unterbau des Staates blieb unverändert, doch über dem verarmten Adel, den herabgekommenen Städten, den mißhandelten Bauern, über diesem ganzen zertretncn und verschüchterten Geschlecht erhob sich das Fürstentum vielfach zu höherer Macht; neben die verknöcherte ständische und städtische Verwaltung stellte es eine streng monarchische und schuf damit die Grundlagen zur modernen Staatseinheit. In gesteigerter Selbstsucht stehen sich diese Einzelstaaten gegenüber, doch die Nation erwehrt sich trotzdem der Franzosen und Osmanen, der Schweden und Polen. Das französische Über¬ gewicht freilich vermag sie erst am Anfange des achtzehnten Jahrhunderts im Bunde mit halb Europa zu brechen, und dauerhafter als die Macht des bourbonischen Königtums erweist sich die der französischen Kultur. Die Bildung der Höfe und des Adels wird in Deutschland französisch, das Französische wird die Sprache des diplomatischen Verkehrs und hie und da sogar der Wissenschaft, in Anlehnung an französische und holländische Muster sucht die verkümmerte deutsche Dichtung ihr Heil. Damit verbindet sich eine tiefgreifende Umgestaltung des gesamten geistigen Lebens. Das Naturrecht bricht deu Bann des überlieferten Rechtes, der Pietismus macht die Religion aus einem Tummel¬ platze dogmatischer Spitzfindigkeiten und erbitterter Polemik wieder zu einer Sache des Gemütes, zunächst in den westeuropäischen Ländern entfaltet sich eine neue selbständige Philosophie und Naturwissenschaft, und in den lateinischen Panzer der Universitätsgelehrsamkeit schlägt ein Leipziger Professor, Christian Thomasius, die erste Bresche. Das alles drang unwiderstehlich auf die alte Lateinschule ein. Schon am Anfange des Jahrhunderts hatten vereinzelte Reformer, wie Radies und Comenius, die Berücksichtigung der Muttersprache und der Realien und die lebendige Anschaulichkeit des Unterrichts gefordert, der Pietismus folgte ihnen und gestaltete praktisch namentlich die Volksschule um. Das Ideal der höhern Ausbildung war jetzt nicht mehr der Gelehrte, sondern der Weltmann, der Agllwt, liomiruz, der in den neuern Sprachen ebenso bewandert sein mußte wie in der Naturwissenschaft und Philosophie und für alles ein offnes Auge haben sollte. Alle diese Bestrebungen ließen den Kern des Unterrichts der Lateinschulen, das Latein, noch unberührt, nur einzelne Rektoren betonten be¬ reits, besonders mit Rücksicht auf den Adel, die neuern Sprachen, und der eine oder andre von ihnen suchte wohl gar dem ganzen Unterricht einen weltmännisch-praktischen, ja encyklopädischen Charakter zu geben. Wo das nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/294>, abgerufen am 23.07.2024.