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Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr.

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Die Wahrheit auf der Bühne

Erkläre man das meinetwegen für Lappalien -- in ernstern Fällen geht
es nicht anders her. Von einem Berliner Theaterdirektor Cerf, zu Deutsch
Hirsch (einem Manne, der für seinen Beruf besonders deshalb geeignet war,
weil er nicht lesen konnte, mithin vor der Gefahr behütet war, sich durch die
Lektüre eines Schauspiels kaptiviren zu lassen), wird der Ausspruch erzählt,
wenn in der Rolle Champagner stehe, verlangten seine Mitglieder echtes Ge¬
tränk, aber anstatt des Giftes wollten sie Zucker haben. Das ist ganz be¬
zeichnend. Vor einiger Zeit habe ich im Götz von Berlichingen eine Adelheid
von Walldorf gesehen, die, von den Häschern der heiligen Vehme wegge¬
schleppt, Tone von sich gab, daß man glaubte, sie müsse sich übergeben. Das
war immerhin etwas. Aber kurz vorher hatte Weißlingen gestöhnt: "Wie
sind meine Nägel so blau!" während ich doch dnrch mein Glas ganz deutlich
seine Nägel rosenrot sah. Der Mann huldigte aber uicht einmal dem Vor¬
urteil, daß die Bühne die Welt des Scheines sei. Den kalten Schweiß, von
dem er redete, sah ich garnicht; natürlich, den konnte er sich nicht anschininten.
Er Hütte eben wirklich Gift nehmen müssen und bald hinterher ein Gegen¬
gift, da würde er sich ganz anders gekrümmt haben. Die superkluge Ästhetik
hat den braven Mimen, die sich eine Blase mit Ochsenblut unter das Wams
tropften, damit, wenn der Dolch des Mörders die rechte Stelle traf, ein
roter Strahl hervorsprang, das Handwerk gelegt. Und sie thaten doch das
Einzigrichtige, da unsre veraltete" Strafgesetze leider in solchem Falle die
ganze Wahrheit uicht zulassen. Aber deu Faustschlag ins Gesicht, den die
Rolle vorschreibt, dem Gegner wirklich zu versetzen, kann unmöglich verboten
sein; man will doch eine Beule auflaufen sehn, das ist das wenigste, was
das Publikum für sein Geld verlangen kann. Außerdem nimmt es sich
lächerlich aus, wenn der Schlagende zu voller Wucht ausholt und unmittelbar
vor dein Ziele einhält, wie einer, der über den Graben springen null und
an dessen Rande stockt. Oder stellen wir uns folgendes vor. Der Held hat
seinen letzten Pfennig in Schnaps vertrunken, um zu vergessen, daß er in der
schlechtesten aller Welten zu leben verurteilt ist. Zur Auffrischung seines
Gedächtnisses wirft man den Betrunknen auf die Gasse, er taumelt in den
Schnee, schläft ein, erfriert. Wie wird das nun dargestellt? Ist der Schau¬
spieler wirklich betrunken? Riecht man den Fusel? Liegt wirklich Schuee auf
dem Podium? Keine Idee! Man merkt dem Manne ganz gut nu, daß er mit
Bewußtsein kalte und stolpert, und anstatt auf Schuee füllt er auf wei߬
getünchte Leinwand. Ja, auf der Bühne ist es so warm wie'im Zuschauerraum.
Das ist geradezu empörend, das zerstört jede Illusion, bringt die erhabne
Dichtung um allen Effekt. Sie fragen nach dem Titel des Stückes? Geschrieben
ist es meines Wissens noch nicht, aber kommen wird es sicher, nur Geduld.

Auf die schnöde Vernachlässigung der Atmosphäre möchte ich namentlich
die Aufmerksamkeit lenken. Wie in dem gedachten Falle die eisige Temperatur,


Die Wahrheit auf der Bühne

Erkläre man das meinetwegen für Lappalien — in ernstern Fällen geht
es nicht anders her. Von einem Berliner Theaterdirektor Cerf, zu Deutsch
Hirsch (einem Manne, der für seinen Beruf besonders deshalb geeignet war,
weil er nicht lesen konnte, mithin vor der Gefahr behütet war, sich durch die
Lektüre eines Schauspiels kaptiviren zu lassen), wird der Ausspruch erzählt,
wenn in der Rolle Champagner stehe, verlangten seine Mitglieder echtes Ge¬
tränk, aber anstatt des Giftes wollten sie Zucker haben. Das ist ganz be¬
zeichnend. Vor einiger Zeit habe ich im Götz von Berlichingen eine Adelheid
von Walldorf gesehen, die, von den Häschern der heiligen Vehme wegge¬
schleppt, Tone von sich gab, daß man glaubte, sie müsse sich übergeben. Das
war immerhin etwas. Aber kurz vorher hatte Weißlingen gestöhnt: „Wie
sind meine Nägel so blau!" während ich doch dnrch mein Glas ganz deutlich
seine Nägel rosenrot sah. Der Mann huldigte aber uicht einmal dem Vor¬
urteil, daß die Bühne die Welt des Scheines sei. Den kalten Schweiß, von
dem er redete, sah ich garnicht; natürlich, den konnte er sich nicht anschininten.
Er Hütte eben wirklich Gift nehmen müssen und bald hinterher ein Gegen¬
gift, da würde er sich ganz anders gekrümmt haben. Die superkluge Ästhetik
hat den braven Mimen, die sich eine Blase mit Ochsenblut unter das Wams
tropften, damit, wenn der Dolch des Mörders die rechte Stelle traf, ein
roter Strahl hervorsprang, das Handwerk gelegt. Und sie thaten doch das
Einzigrichtige, da unsre veraltete» Strafgesetze leider in solchem Falle die
ganze Wahrheit uicht zulassen. Aber deu Faustschlag ins Gesicht, den die
Rolle vorschreibt, dem Gegner wirklich zu versetzen, kann unmöglich verboten
sein; man will doch eine Beule auflaufen sehn, das ist das wenigste, was
das Publikum für sein Geld verlangen kann. Außerdem nimmt es sich
lächerlich aus, wenn der Schlagende zu voller Wucht ausholt und unmittelbar
vor dein Ziele einhält, wie einer, der über den Graben springen null und
an dessen Rande stockt. Oder stellen wir uns folgendes vor. Der Held hat
seinen letzten Pfennig in Schnaps vertrunken, um zu vergessen, daß er in der
schlechtesten aller Welten zu leben verurteilt ist. Zur Auffrischung seines
Gedächtnisses wirft man den Betrunknen auf die Gasse, er taumelt in den
Schnee, schläft ein, erfriert. Wie wird das nun dargestellt? Ist der Schau¬
spieler wirklich betrunken? Riecht man den Fusel? Liegt wirklich Schuee auf
dem Podium? Keine Idee! Man merkt dem Manne ganz gut nu, daß er mit
Bewußtsein kalte und stolpert, und anstatt auf Schuee füllt er auf wei߬
getünchte Leinwand. Ja, auf der Bühne ist es so warm wie'im Zuschauerraum.
Das ist geradezu empörend, das zerstört jede Illusion, bringt die erhabne
Dichtung um allen Effekt. Sie fragen nach dem Titel des Stückes? Geschrieben
ist es meines Wissens noch nicht, aber kommen wird es sicher, nur Geduld.

Auf die schnöde Vernachlässigung der Atmosphäre möchte ich namentlich
die Aufmerksamkeit lenken. Wie in dem gedachten Falle die eisige Temperatur,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 51, 1892, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341855_211167/250>, abgerufen am 23.07.2024.